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Ein Auszug aus Sahra Wagenknechts neuem Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“

 

Ein neues Leistungseigentum

Wenn unsere Wirtschaft wieder produktiv und innovativ werden soll, wenn wir die großen technologischen Fragen in überschaubarer Zeit lösen und eine echte Leistungsgesellschaft werden wollen, die jedem ein gutes Leben und Aufstieg ermöglicht, müssen wir daher Grundlegendes verändern. Wie gezeigt, kann privates Eigentum und Gewinnstreben nur da den technologischen Fortschritt voranbringen und damit die Wohlstandspotenziale der Wirtschaft erhöhen, wo der Wettbewerb funktioniert und klare Regeln und Gesetze dafür sorgen, dass Kosten nicht zulasten von Beschäftigten und Umwelt gesenkt werden können.

Dienstleistungsbranchen, in denen Marktmacht strukturell angelegt ist oder Kommerzialisierung zu falschen Anreizen führt – etwa in Krankenhäusern, in denen Kranke und Behandlungsmethoden dann nach ihrem Ertragspotenzial ausgewählt werden –, gehören nicht in die Hände kommerzieller Investoren, sondern in gemeinwohlorientiertes Eigentum. Erst recht gilt das für die digitale Infrastruktur unserer Gesellschaft.

Unternehmen erfüllen ihre Aufgabe nicht

Aber auch in Industrieunternehmen brauchen wir eine Gestaltung des Eigentums, die es in Zukunft ausschließt, dass wertvolle wirtschaftliche Strukturen und die Arbeitsergebnisse Zehntausender Beschäftigter von Investoren geplündert und im schlimmsten Fall zerstört werden können. Es muss verhindert werden, dass ganze Unternehmen zum Spekulationsobjekt werden können und unter dem Einfluss dividendenhungriger Anteilseigner ihre ökonomische Aufgabe nicht mehr erfüllen: gute, langfristig gebrauchsfähige Produkte und sinnvolle Dienstleistungen anzubieten und den technologischen Fortschritt voranzubringen.

Die alte Rechtsform der Kapitalgesellschaft leistet das nicht, im Gegenteil. Die begrenzte Haftung für Unternehmensverluste bei gleichzeitig unbegrenztem Zugriff auf die Unternehmensgewinne ist ein Widerspruch in sich, der zum Ausplündern von Unternehmen geradezu einlädt. Denn alles, was die Eigentümer rechtzeitig rausgeholt haben, geht im Falle des Scheiterns nicht mehr in die Konkursmasse ein. Diese Konstruktion ist so eigenwillig, dass sie von Adam Smith bis Walter Eucken von allen echten Marktwirtschaftlern abgelehnt wurde und bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch nur für Bereiche von besonderem öffentlichem Interesse vorgesehen war. Trotzdem ist es kein Zufall, dass sie sich im Laufe der Zeit durchgesetzt hat. Kapitalgesellschaften ermöglichen am besten, was für kapitalistisches Wirtschaften charakteristisch ist: dass Unternehmen zu Anlageobjekten werden, um aus Geld noch mehr Geld zu machen.

Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen. Echtes Leistungseigentum muss Unternehmern das Leben erleichtern und Kapitalisten die Möglichkeit nehmen, Firmen ihre Logik aufzuzwingen. Es muss verhindern, dass Finanzinvestoren ein Unternehmen plündern oder Erbendynastien es im Streit zerlegen können. Es muss die Ära leistungsloser Millioneneinkommen für unternehmensfremde Eigentümer und die Vererbung von Wirtschaftsmacht beenden.

Begrenzung von Haftung und Gewinn

Genau das würde ein Rechtsrahmen leisten, der den inneren Widerspruch der Kapitalgesellschaft aufhebt und die Logik der Begrenzung von der Haftung für Verluste auch auf den Anspruch auf Gewinne überträgt. Ein nach solchen Regeln funktionierendes Wirtschaftseigentum soll im folgenden Leistungseigentum heißen. Ein Unternehmen in Leistungseigentum hat keine externen Eigentümer, sondern einfach Kapitalgeber mit unterschiedlichem Verlustrisiko, die entsprechend höhere oder niedrigere Zinsen erhalten. Ist eine Einlage einschließlich Zinsen abbezahlt, gibt es keine Ansprüche mehr. Das Kapital gehört der Firma und die Firma gehört sich selbst. Viele erfolgreiche Stiftungsunternehmen wie Zeiss, Saarstahl, Bosch oder ZF Friedrichshafen arbeiten heute bereits nach diesem Prinzip.

Leistungseigentum würde sicherstellen, dass vor allem die, die im Unternehmen eine Leistung erbringen, von einer erfolgreichen Unternehmensentwicklung profitieren, während die Kapitalgeber ähnlich wie heute die Kreditgeber nach der Rückzahlung eines bestimmten Betrags abgefunden sind. Management und Belegschaft müssten dann keine Heuschrecken mehr fürchten, die sie übernehmen und ausweiden könnten. Zerstrittene Erben könnten ihnen nichts mehr anhaben und auch keine chinesischen Staatsfonds, die es auf Marke und Know-how abgesehen haben.

Keine externen Eigentümer

Der weit überwiegende Teil der Kapitalbildung in größeren Unternehmen geht ohnehin auf die Wiederanlage von Gewinnen und nicht auf Kapitalerhöhungen von außen zurück. Letztere sind nur in Zeiten besonders schnellen Wachstums oder eben in Krisen notwendig und auch bei Unternehmen in Leistungseigentum möglich. Auch Stiftungen haben keine externen Eigentümer. Brauchen Unternehmen in hundertprozentigem Stiftungseigentum Kapital, müssen sie auf Finanzierungen zurückgreifen, die keine Eigentumsansprüche begründen. Zeiss hat so eine 150-jährige Firmengeschichte, zu der immerhin zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise gehörten, problemlos und erfolgreicher als viele Unternehmen in Privatbesitz gemeistert.

Doch Stiftungskonstruktionen sind kompliziert und eigentlich für gemeinnützige Aufgaben vorgesehen. Hier aber geht es um kommerzielle, gewinnorientierte Unternehmen, die sich von den heutigen nur dadurch unterscheiden würden, dass niemand sie mehr ausnehmen, kaufen, verkaufen, vererben oder ihnen sachfremde Kriterien der Unternehmensführung aufzwingen kann. Für kommerzielle Unternehmen war der Umweg über das Stiftungseigentum immer ein umständlicher Behelf, weil das Eigentumsrecht keine passenderen Möglichkeiten bereithielt. Deshalb ist ein neuer Rahmen notwendig, der außerdem nicht Ausnahme bleiben, sondern bei großen Unternehmen zur Regel werden sollte.

Um zu verhindern, dass die Führungsetage eines Unternehmens nachlässig, schlampig oder einfach schlecht arbeitet, braucht es keine externen Eigentümer. Was es braucht, sind Kontrollorgane, die mit Leuten besetzt sind, deren Interesse sich möglichst mit dem einer langfristig guten, stabilen und erfolgreichen Unternehmensentwicklung deckt. Wenn die Mitarbeiter – vom Hilfs- über den Facharbeiter bis zum leitenden Angestellten – gewählte Vertreter in das Kontrollgremium entsenden, ist gewährleistet, dass sich die Interessen der gesamten Belegschaft dort wiederfinden.

Je nach Größe und öffentlichem Gewicht des Unternehmens könnten auch Vertreter der Gemeinde, des Bundeslandes oder, bei sehr großen Unternehmen, des Bundes Mitspracherechte erhalten. Das ist vor allem sinnvoll bei sehr großen Unternehmen, deren Investitionsentscheidungen die gesamte Volkswirtschaft betreffen, oder bei solchen, die von öffentlichen Forschungsgeldern oder anderen Unterstützungen profitieren. Auch gemeinnützige Unternehmen ließen sich in der Form des Leistungseigentums führen, dann müssten im Kontrollgremium Vertreter der Allgemeinheit genau diese Gemeinnützigkeit als Kriterium der Unternehmensführung überwachen.

Stiftung Verantwortungseigentum

Interessanterweise wird ein ähnliches Modell wie das hier vorgestellte Leistungseigentum inzwischen auch von vielen aktiven Unternehmern gefordert. 32 von ihnen haben im November 2019 die Stiftung »Verantwortungseigentum« gegründet, mittlerweile hat sie bereits über 600 Unterstützer. Von der Stiftung wurde ein Gesetzentwurf für eine »GmbH in Verantwortungseigentum« vorgestellt, die den hier skizzierten Ideen zwar nicht genau entspricht, aber nahekommt.

Will ein Unternehmer vollen Zugriff auf sein Eigentum und seine Gewinne, kann er immer noch eine Personengesellschaft mit voller Haftung gründen, was im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, für die der Wettbewerb funktioniert, in jedem Fall eine Alternative bleibt.

Auch für Industrieunternehmen in Leistungseigentum verlangt die Verbesserung der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft mehr Wettbewerb und daher die Entflechtung großer Konzerne. Sie erfordert die Rückkehr zu leistungsgerechter Bezahlung und einen Staat, der seine Rolle als Forschungsfinanzier und strategischer Investor wieder zu übernehmen bereit ist. Und sie erfordert, dass wir die Globalisierung, wie sie in den zurückliegenden drei Jahrzehnten vorangetrieben wurde, beenden, Wertschöpfung nach Europa zurückholen und die Finanzmärkte neu ordnen. Unter solchen Voraussetzungen stehen die Chancen gut, dass unsere Wirtschaft ihre Innovationskraft zurückgewinnt.

Motivierend und gerecht: Für eine echte Leistungsgesellschaft

Die hohe Akzeptanz des Leistungsgedankens ruht auf mindestens drei wichtigen historischen Erfahrungen. Die erste besteht darin, dass eine Wirtschaft das Verhalten honorieren sollte, das sie voranbringt und das sie daher fördern will. Gesellschaftlich wichtige Leistungen anzuerkennen und auch materiell zu belohnen bedeutet, Menschen zu motivieren, solche Leistungen zu erbringen. Wer das unterlässt, steht irgendwann ohne eine ausreichende Zahl guter Facharbeiter, guter Lehrer und guter Pflegekräfte da. Auch in Betrieben bedeutet die mangelnde Anerkennung solider Arbeit bei ständig höherem Druck, dass die Beschäftigten irgendwann eben schlechter arbeiten. Der Abschied von einer nachvollziehbaren Leistungsvergütung und der Niedergang der innovativen und produktiven Potenziale des Kapitalismus stehen daher durchaus in einem Zusammenhang.

Aber es geht nicht nur um die richtigen Anreize. Der Anspruch der Leistungsgerechtigkeit entspricht auch dem jahrhundertelangen Gemeinschaftsleben entsprungenen Wertekanon der Gegenseitigkeit, nach dem Gerechtigkeit im Miteinander der Menschen bedeutet, dass das, was jemand bekommt, in einem vernünftigen Verhältnis zu dem stehen sollte, was er gibt. Nach dieser konservativen und dennoch keineswegs überholten Gerechtigkeitsvorstellung steht dem Fleißigen mehr zu als dem Faulen und dem Hochproduktiven mehr als dem, der nur Dienst nach Vorschrift macht.

Unter Berufung auf diese Idee von Gerechtigkeit attackierte einst das Bürgertum die Adelsprivilegien als leistungslose und damit illegitime Einkommensquelle. Der Leistungsgedanke war auch in der Arbeiterbewegung tief verankert, die damit nicht nur ihre Lohnforderungen begründete, sondern auch ihre Kritik am kapitalistischen Eigentum. Immerhin besteht dessen Spezifik bis heute darin, dass es nicht-arbeitenden Erben großer Finanz- und Betriebsvermögen erlaubt, sich die Arbeitsergebnisse anderer anzueignen und ganz ohne eigene Leistung ein luxuriöses Leben zu führen.

Der Anspruch, dass der individuelle Status des Menschen nicht von der Herkunft, sondern von der eigenen Leistung bestimmt sein sollte, steht schließlich in der Tradition der Aufklärung, die unter Emanzipation verstand, dass jeder Mensch sein Schicksal selbst bestimmen kann, statt einer feudalen Geburtslotterie ausgeliefert zu sein, die ihn auf eine bestimmte Lebensbahn zwingt. Mit eigener Anstrengung über den persönlichen Status entscheiden zu können, statt von Willkür, Zufall und dem familiären Background abhängig zu sein, wurde hier nicht nur als eine Bedingung von Gerechtigkeit, sondern auch von Freiheit verstanden.

Eliten gegen »Streber«

Die Idee einer leistungsgerechten Verteilung anstelle herkunftsbedingter Privilegien stützt sich daher auf eine lange progressive Tradition. Sowohl die Emanzipationsbewegung des Bürgertums als auch der Arbeiterschaft wurden von diesem Gedanken getragen, bis er in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die große Erzählung von der Leistungsgesellschaft mündete. Kritik an »Leistungsfanatismus« und »Strebertum« hingegen kam traditionell von den privilegierten Schichten. Schon in den Elitendiskursen des beginnenden 19. Jahrhunderts stand hinter der Abwertung »ehrgeiziger Streber« das kaum versteckte Missfallen an sozialen Aufsteigern, die die Privilegien der wohlhabenden Schichten nicht mehr hinnehmen wollten, sondern sich hocharbeiteten und so den Söhnen und Töchtern aus besserem Hause Konkurrenz machen konnten. Leistungsverachtung kann sich eben vor allem leisten, wer aus einer sozialen Schicht stammt, die ihre Nachkommen auch ohne übermäßige eigene Anstrengung absichern kann. Der Aufstieg und die Emanzipation der weniger Begünstigten indessen wird nur dadurch möglich, dass eine Gesellschaft Leistung und Anstrengung belohnt.

Tatsächlich boten die westlichen Gesellschaften der fünfziger bis neunziger Jahre, die auf rationale Kriterien der Leistungsbemessung, auf die Anerkennung guter Arbeit und nachvollziehbare Maßstäbe für das berufliche Weiterkommen setzten, jenen Menschen, die sich bei ihrem beruflichen Aufstieg nicht auf ein ressourcenstarkes Elternhaus und persönliche Netzwerke stützen konnten, weit bessere Chancen auf ein gutes und selbstbestimmtes Leben als die heutigen. Dass auch die linksliberale Linke den Leistungsgedanken verächtlich macht, ist daher nur ein weiterer Indikator dafür, dass sie die Seiten gewechselt hat und mittlerweile eher das gesellschaftliche Oben als das Unten repräsentiert.

Es ist sicher kein Zufall, dass diese Kritik am Leistungsgedanken auf die 68er-Bewegung zurückgeht, deren Wortführer in erster Linie wohlhabende Bürger- und Großbürgerkinder waren. Heute ist die Kritik an messbaren Leistungskriterien sowie einer leistungsgerechten Verteilung sicher auch deshalb so meinungsstark, weil sie dem Bemühen der akademischen Mittelschicht entspricht, das eigene soziale Milieu nach unten abzuschotten und den Zugang zu lukrativen Berufen auf die eigenen Nachkommen zu beschränken. Genauso verständlich ist es daher, dass der Leistungsgedanke in der klassischen Mittelschicht und der Arbeiterschaft unvermindert lebendig ist und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in diesen Kreisen nahezu keine Unterstützung genießt.

Auch wenn es eine ideale Leistungsgesellschaft vielleicht nie geben kann, weil Zufall und Glück individuelle Lebensbahnen immer mit beeinflussen und Leistung sich nie hundertprozentig quantifizieren und messen lässt, taugt die Leistungsgesellschaft als normativer Maßstab für eine gerechte Gesellschaft weit besser als viele andere. Das Ziel sollte also darin bestehen, sich leistungsgerechter Verteilung, leistungsabhängigen Aufstiegschancen und einer an vorangegangenen Leistungen orientierten sozialen Absicherung weitestmöglich anzunähern.

Die Wiederherstellung und der Ausbau der beitragsfinanzierten Solidarsysteme zu einer echten Absicherung des Lebensstandards im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter ist dafür ebenso unerlässlich wie das gesetzliche Austrocknen der Niedriglohnzonen und prekären Beschäftigungsverhältnisse und die Rückkehr zu tariflich regulierter Arbeit als Norm. Auch muss den Millionen Solo-Selbstständigen und Freiberuflern, die meistens nicht genug verdienen, um selbstständig für Krankheit und Alter vorzusorgen, ein attraktives Angebot zur Teilnahme an der gesetzlichen Sozialversicherung gemacht werden. Ein solches bestünde beispielsweise in einer speziellen gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung für diese Berufsgruppen nach dem Vorbild der Künstlersozialkasse. Gerade für die vielen Click- und Crowd-Worker wäre das eine sinnvolle und verlässliche Absicherung, die dafür sorgen würde, dass sie erstmals ebenfalls von den gesetzlichen Solidarsystemen profitieren könnten.

Teurer schwacher Sozialstaat

Für den Sozialstaat gilt übrigens das Gleiche, was wir im vorangegangenen Kapitel über den Staat im Allgemeinen gesagt haben: Ein starker Sozialstaat ist nicht notwendigerweise teurer als ein schwacher. Der Grad an sozialer Absicherung, den wir heute in Deutschland haben, ist ohne Zweifel schlechter als der, den die Bundesrepublik ihren Bürgern in den siebziger und achtziger Jahren geboten hatte. Der Gesamtetat jedoch, der heute für soziale Belange ausgegeben wird, ist gemessen an der Wirtschaftsleistung nicht kleiner. Es werden eben nur andere Dinge finanziert.

Früher hat die öffentliche Hand beispielsweise in großem Umfang selbst Wohnungen unterhalten und Sozialwohnungen gebaut. Heute werden stattdessen immense Mittel dafür ausgegeben, die ständig steigenden Mieten im weitgehend privatisierten Wohnungsbestand über Wohngeld und Wohnkostenzuschüsse zu subventionieren. Mit Hartz IV ist das Geld, das ein Arbeitsloser nach einem Jahr bekommt, deutlich geringer geworden. Anstelle dessen werden jetzt aufwendige Kontrollen finanziert, unzählige Gerichtsverfahren gegen Widersprüche bestritten und eine ganze Hartz-IV-Industrie am Leben erhalten, die die sogenannten Fördermaßnahmen als Geschäftsmodell entdeckt hat. Auch die gut 10 Milliarden Euro, die im Jahr für sogenannte Aufstockerleistungen ausgegeben werden, weil die Politik zu feige ist, den Mindestlohn auf ein existenzsicherndes Niveau anzuheben, gehen zulasten des Sozialetats. Statt solche Ausgaben zu finanzieren, die die soziale Sicherheit in keiner Weise verbessern, sollten die Sozialausgaben wieder auf das konzentriert werden, wozu sie da sind: die Bevölkerung für die Risiken des Lebens abzusichern. Zugleich sollten Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung und andere elementare Dienste wieder öffentlich bereitgestellt werden.

Zu einer echten Leistungsgesellschaft gehört natürlich auch das im letzten Abschnitt vorgestellte Leistungseigentum zumindest in großen Unternehmen der kommerziellen Wirtschaft, also ein Eigentum, das sicherstellt, dass von den Früchten der Arbeit in einem Unternehmen die profitieren, die diese Arbeit leisten, von der Geschäftsführung bis zum einfachen Arbeiter, nicht aber unternehmensfremde Eigentümer, die die Betriebsstätte noch nie von innen gesehen haben.

Bildung: Ausgleich herkunftsbedingter Unterschiede

Eine echte Leistungsgesellschaft setzt ein Bildungssystem voraus, das geeignet ist und aktiv darauf hinwirkt, bereits im frühkindlichen Alter herkunftsbedingte Unterschiede auszugleichen. Das bedeutet: ab dem 3. Lebensjahr eine bestens ausgestattete, kostenlose bilinguale Kita mit individueller Förderung für alle. Ganztagsschulen mit kleinen Klassen und gemeinsamer Hausaufgabenbetreuung. Gezielte Begabtenförderung durch anspruchsvolle Leistungskurse und die Möglichkeit, Klassen zu überspringen, aber Trennung der verschiedenen Schultypen frühestens ab der 8. Klasse. Vor allem aber: Abschied von der Vorstellung, eine Absenkung des Anspruchsniveaus und der Verzicht auf traditionelle Lerntechniken und Noten würde die kreative Entwicklung der Kinder fördern.

Die linke Kritik an Lernanstrengung und schulischem Leistungsdruck mag angesichts des schweren Stands, den Kinder aus ärmeren Familien im heutigen Schulsystem haben, gut gemeint sein. Sie führt letztlich jedoch zu dem gleichen Ergebnis wie die Kürzung von Lehrerstellen und die Kommerzialisierung der Bildung: zu immer größeren herkunftsbedingten Bildungsunterschieden. Kinder, deren Eltern kaum Hilfestellung leisten können, schaffen nach Absenkung der Standards zwar vielleicht einen Schulabschluss, können aber trotzdem nicht richtig lesen, schreiben und rechnen, während die mit viel Geld und elterlichem Engagement geförderten Akademikerkinder ein gutes Bildungsniveau erreichen können. Die einen müssen sich dann in harten, eintönigen Niedriglohnjobs durchs Leben schlagen, während die anderen gute Aussichten auf hoch bezahlte Arbeitsplätze und ein erfülltes Berufsleben haben. Es ist nicht links, sondern unsozial, diesen Status quo in die Zukunft fortzuschreiben.

Mangelnde Kompetenzen

Nur eine Gesellschaft, die bereit ist, ausreichend Geld in ein gutes Bildungssystem zu investieren, kann auch den Anspruch der Leistungsgerechtigkeit einlösen. Dass in Deutschland heute anteilig zur Wirtschaftsleistung rund 30 Milliarden Euro weniger für Bildung aufgewandt werden als in den Jahren der Bildungsexpansion in den späten Siebzigern und noch sehr viel weniger, als etwa die skandinavischen Länder in die Bildung ihrer jungen Generation investieren, zeigt überdeutlich, wie weit das einstige Land der Dichter und Denker sich vom Anspruch der Chancengleichheit entfernt hat.

Unterfinanzierte Bildungseinrichtungen führen allerdings nicht nur zu großen sozialen Ungerechtigkeiten. Sie haben längerfristig auch schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Denn mangelnde Kompetenzen rächen sich. Eine hoch entwickelte, produktive Volkswirtschaft muss nicht nur akademische Dienstleistungsberufe besetzen können, zumal viele von ihnen mit Blick auf den allgemeinen Wohlstand von zweifelhaftem Nutzen sind. Gerade eine Ökonomie, die im internationalen Wettbewerb mit qualitativ überlegenen Industrieprodukten erfolgreich sein möchte, ist auf gute berufliche Ausbildungsstandards in den von der Industrie benötigten Qualifikationen angewiesen. Früher war die deutsche Wirtschaft hier dank eines soliden Bildungssystems und der dualen Ausbildung klar im Vorteil. Aber durch chronischen Lehrermangel, den Niedergang von Haupt- und Realschulen und eine Inflation von Schrottdiplomen zulasten dualer Ausbildungsgänge hat sich das Bild gewandelt.

Dass inzwischen die Fleischindustrie und andere Niedriglohnproduzenten die am schnellsten wachsenden deutschen Exportzweige sind, während Maschinen- und Autobauer eher Marktanteile verlieren, hat seinen Grund nicht nur, aber durchaus auch in der Bildungsmisere. Das sollte ein Grund mehr sein, einen anderen Weg einzuschlagen. Übrigens spricht viel dafür, dass eine Gesellschaft, die viel Geld in die richtige Bildung investiert, später weniger für Arbeitslosenunterstützung und andere Sozialprogramme ausgeben muss.

 

»Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt« von Sahra Wagenknecht, erschienen im Campus Verlag am 14. April 2021.

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