Den meisten deutschen (Groß-)Städten war bereits vor der Pandemie bewusst, dass ein Transformationsprozess ihrer Innenstädte notwendig sein würde:
- Wohnen in Innenstadtlagen wird immer mehr zum einem Luxusgut.
- Die Verteilung des öffentlichen Raums entspricht nicht mehr den Anforderungen an eine klimagerechte Stadt.
- Die innerstädtische Mobilität ist noch immer zu sehr am Leitbild des motorisierten Individualverkehrs ausgerichtet.
- Gewerbliche Nutzungen haben zu einem eintönigen und beliebigen Stadtbild geführt. Der Einzelhandel ist immer mehr durch immer gleiche Filialisten geprägt; die Gastronomie durch immer ähnlichere Imbissläden und Junkfood-Ketten.
- Die Fußgängerzonen der 70er und 80er Jahre, die noch immer wichtige Teile des Stadtbildes prägen, erinnern in vielen Städten spätestens nach Ladenschluss an eine „restricted area“.
- Eine Aufwertung der Aufenthaltsqualität ist bereits heute aus vielerlei Gründen notwendig.
Die Pandemie verstärkt die Herausforderungen
Nach einem Jahr Pandemie zeigt sich, dass die Verantwortlichen in den Städten vor weiteren Herausforderungen stehen:
- Das „erzwungene Experiment“ der Digitalisierung durch Corona – insbesondere die massive Zunahme von Onlinehandel und Homeoffice – hat einen ohnehin stattfindenden Veränderungsprozess forciert. Er ist für die Stadtentwicklung ein Datum und nicht verhandelbar. Einzelhandels- und Büroflächen werden (schneller) leergezogen. Ceteris paribus sinkt damit die Aufenthaltsfrequenz in den Innenstadtlagen – zumindest in dem Maße wie es nicht gelingt, zügig neue Nutzungen zu etablieren.
- Mit hoher Wahrscheinlichkeit hinterlässt die Pandemie „soziale Narben“, die sich auf die Nutzung innerstädtischer Einrichtungen auch dann noch auswirken können, wenn die Pandemie virologisch bereits eingedämmt ist. Das könnte z.B. bei der Wohnortwahl, beim Reise- und Pendlerverhalten oder bei der Nutzung hochfrequentierter kommerzieller und kultureller Einrichtungen so sein.
- Die genannten Wirkungen könnten sich potenzieren, falls es – wenngleich auf einen geringen Level – staatlicherseits dauerhaft angeordnete pandemische Einschränkungen gäbe, weil Restrisiken nicht ausgeschlossen werden können.
Betrachtet man sich die pandemiegetriebenen Wirkungen auf die Innenstädte marktideologisch, könnte man auf die Idee kommen, die negativen Konsequenzen als unternehmerisches Risiko den Betroffenen in Einzelhandel, Gastronomie, freier Kulturszene, Teilen des Handwerks oder im Tourismus aufzubürden und umgekehrt die Nutzung der drohenden Leerstände ebenfalls dem freien Markt zu überantworten. Beides wäre falsch.
Gewerbetreibende haben Anspruch auf staatliche Unterstützung
Soziale Marktwirtschaft kennt nicht nur eine Verantwortung gegenüber unverschuldet in Not geratenen Arbeiternehmer*innen, sondern auch gegenüber Unternehmen. Insofern ist es richtig und konsequent, wenn der Staat mit Überbrückungshilfen versucht unverschuldete Insolvenzen zu vermeiden. Restringiert wird dieser Anspruch durch die fiskalische Belastbarkeit des Staates einerseits und die Gefahr, Unternehmen zu lange im Markt zu halten, die auch ohne Corona nicht wettbewerbsfähig gewesen wären.
Wettbewerbspolitisch fragwürdig sind Forderungen, den Onlinehandel mit einer Paketsteuer zu belasten. Wettbewerbsverzerrungen zugunsten von Onlinehändlern müssen an den Ursachen ansetzen, also bei den wettbewerbsverzerrenden Parametern. Die gibt es bei der Unternehmensbesteuerung (bzw. bei der Steuergestaltung), die gibt es bei der Entlohnung, die gibt es bei den Arbeitsbedingungen und die gibt es bei der Behinderung innerbetrieblicher Mitbestimmung. Eine Paketsteuer setzt nicht an den Ursachen an, sondern versucht an den Symptomen zu kurieren. Mehr noch: Stationäre Einzelhändler, die sich stärker an den Konsumentenpräferenzen orientieren wollen und Teile ihres Vertriebs auf Onlinehandel umstellen, würden bestraft. Anpassungssubventionen für stationäre Einzelhändler, z.B. um Multi-Channel-Angebote zu etablieren, wären dagegen wettbewerbspolitisch vertretbar.
Bessere Rahmenbedingungen für Gewerbetreibende – gerade für die Nach-Corona-Zeit – sollten auch durch ein eigenständiges Gewerbemietrecht geschaffen werden. Die einschlägigen Regelungen im BGB kennen – im Gegensatz zum Wohnmietrecht – keine mieterschützenden Normen, mit dem Ergebnis dass die Mietkosten in bestimmten Lagen einen immer höheren Anteil der Betriebskosten ausmachen. Noch problematischer ist vermutlich, dass gerade in Innenstadtlagen viele Immobilien im Besitz von renditegetriebenen und zum Teil spekulativ angelegten Immobilienfonds sind. Für solche Fonds kann es rational sein, Leerstände temporär zu akzeptieren, um eine Abwertung durch Abschluss eines schlechter dotierten Mietvertrages zu verhindern. Zudem sind anonyme Immobilienfonds für die Verwaltung in der Regel keine geeigneten Partner bei der Stadtentwicklung.
Die Funktionalität der Innenstädte ist ein öffentliches Gut
Die Legitimation für staatliche – in diesem Fall vor allem kommunale – Eingriffe in den Transformationsprozess bei der Stadtentwicklung lässt sich (noch) einfacher begründen als die Unterstützungsmaßnahmen der Gewerbetreibenden.
Die Funktionalität der Innenstädte ist ein öffentliches Gut und eine kommunale Kernaufgabe. Bei keiner Aufgabe sind die Städte in ihrer gestalterischen Kreativität so frei (autonom) wie in der Stadtentwicklung. Es gibt Best-Practice-Beispiele, es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, aber die konkrete Situation vor Ort ist immer anders. Kreativität zulassen und Stadtentwicklung – politisch und fiskalisch – Priorität einzuräumen, sind zwei wichtige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Transformationsprozess.
Wenn es infolge der Pandemie mehr Leerstand geben wird, spielen alternative Nutzungen eine zentrale Rolle, um Innenstädte belebt zu halten. Dabei kann die Schaffung bezahlbaren Wohnraums eine adäquate Möglichkeit sein, um abgemietete Büroflächen zu nutzen. Dagegen eignen sich Erdgeschosslagen, die in der Regel bisher gewerblich genutzt wurden, für kulturelle und soziale Nutzungen oder für neue Formen der urbanen Produktion. Die Erfahrungen der Pandemie erhöhen den Druck auf mehr Grün in den Innenstädten. Die sogenannte doppelte Innenentwicklung gilt schon seit Jahren als ein wichtiges Instrument für die urbane Klimaanpassung.
Erfolgreiche Stadtentwicklungspolitik setzt Flächenverfügbarkeit für die Kommunen voraus. Wichtige Instrumente sind eine Stärkung des kommunalen Vorkaufsrechts und der kommunalen Bodenverfügbarkeit. Der Gesetzgebungsprozess auf Bundesebene, dem die Beratungen der Baulandkommission vorausgegangen sind, wird zwar einige Verbesserungen bringen. Er bleibt aber aufgrund der Einwände aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deutlich hinter dem Notwendigen zurück. Komplementär zur besseren Flächenverfügbarkeit müssen die Voraussetzungen für die Einrichtung kommunaler Immobilien- und Bodenfonds geschaffen werden. Das ist vor allem eine Frage der Finanzausausstattung. Hierzu zählen die Regeln für die Aufnahme von Kommunalkrediten, aber auch die Altschuldentilgung, die bei vielen Kommunen eine notwendige Voraussetzung ist, um überhaupt eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung fiskalisch begleiten zu können.
Die Quote aus notwendigen Ausgaben und laufenden Einnahmen bei den Kommunen steigt durch den Transformationsprozess. Das sollte bei der vertikalen innerstaatlichen Einnahmenverteilung ceteris paribus zu einem höheren Finanzbedarf auf der kommunalen Ebene führen. Nach der Logik der Finanzverfassung könnte dieser zusätzliche Finanzbedarf über die vertikale Verteilung der Umsatzsteuer und über den kommunalen Finanzausgleich befriedigt werden. Denkbar und nach den bisherigen Erfahrungen mit dem deutschen Fiskalföderalismus auch wahrscheinlicher sind Förderprogramme des Bundes und der Länder, etwa eine neue Programmlinie im Städtebauförderungsgesetz oder eine separates Stadtumbauprogramm.
Fazit
Stadtentwicklung ist am Gemeinwohl orientiert. Die Innenstadt ist mehr als die Summe ihrer Nutzungen. Erfolgreiche Innenstadtentwicklung schafft mehr Aufenthaltsqualität. Mehr Aufenthaltsqualität bedeutet mehr Menschen in der Innenstadt und damit auch mehr Wertschöpfungspotential für das innerstädtische Gewerbe.
Innenstadtentwicklung ist kommunale Gestaltungsaufgabe. Sie verlangt Leadership der Stadtspitzen, fachliches Know-How und Kreativität der Verwaltung. Ohne die notwendigen finanziellen Spielräume in den Kommunalhaushalten ist der Transformationsprozess aber zum Scheitern verurteilt.
Prof. Dr. Carsten Kühl