Seit einigen Wochen hat die Debatte um Identitätspolitik und den Umgang mit anderen Meinungen in Deutschland Fahrt aufgenommen. Ausgangspunkt war ein FAZ-Artikel von Wolfgang Thierse, nicht gerade bekannt für abseitige Thesen, über die Art der Debattenführung in Themenbereichen wie Rassismus, Postkolonialismus und Gender.
In seinem Meinungsbeitrag kritisiert er den Anspruch sexueller und anderer Minderheiten, ausgehend von ihrer kollektiven Identität (daher “Identitätspolitik”) selbst zu definieren, was für sie richtig und was erträglich bzw. unerträglich ist, statt sich dem offenen und kontroversen Streit darüber auszusetzen. Der Vorwurf, etwas sei verletzend, trete häufig an die Stelle der argumentativen Auseinandersetzung.
Worum es Wolfgang Thierse ging
Thierse sorgt sich um den Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland, gerade angesichts der immer weniger eindeutigen ethnisch-nationalen und der nicht mehr selbstverständlichen national-kulturellen Prägung der Gesellschaft. Man gewinnt den Eindruck, er hätte nicht seine spezifische Position markieren, sondern ein Angebot für einen Minimalkonsens der Sozialdemokratie in dieser Hinsicht machen wollen. Jedenfalls lässt Thierses Gedankenführung durchaus Platz für verschiedene Akzentuierungen. Und sie schließt viel enger an die programmatische Tradition der SPD und ihrer Vorläufer seit dem 19. Jahrhundert an als viele Äußerungen von vermeintlich progressiven Interessensgruppen sowie Teile der oberen Parteihierarchie.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein Kernanliegen der SPD, und es kennzeichnet das Selbstverständnis dieser Partei, dass reale soziale Probleme und Gegensätze nicht schön geredet, sondern politisch bearbeitet werden. Wie das zu geschehen hat, darüber wird innerparteilich seit über hundert Jahren diskutiert und unter Umständen gestritten. Auch das gehört zu dieser alten Volkspartei. Die Rede ist hierbei vom materiellen Kern des Zusammenhalts. In ihrem Görlitzer Programm von 1921 bezeichnete sich die SPD als “Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land”. Nur als solche hat sie weiterhin eine Zukunft, nicht als reine Koalition von Randgruppen.
Thierse geht es um die mentale und kulturelle, namentlich alltagskulturelle Dimension des Zusammenhalts. Selbstverständlich ist jede Diskriminierung abzulehnen und zu bekämpfen, aber die Erwartungshaltung muss halbwegs realistisch sein. Ohne Vorurteile kann der Mensch sich nicht orientieren; er muss allerdings bereit sein, sie dem Wirklichkeitstest zu unterwerfen. Die Älteren erinnern sich noch gut an gegenseitige Ressentiments zwischen Protestanten und Katholiken, obwohl doch die Religionskriege über 300 Jahre und Bismarcks Kulturkampf rund 100 Jahre zurücklagen.
Es gibt Traditionen
Heute leben wir in einer Gesellschaft in der gleichzeitig viele Gruppen eine Heimat suchen, sich nicht in der Mitte der Gesellschaft sehen, Anerkennung und Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Zum Beispiel zunehmend Flüchtlinge und Zuwanderer aus entfernten Kulturkreisen. Sie müssen verstehen – und das setzt eindeutige und eindringliche Signale des neuen Heimatlandes voraus –, dass sie nicht in einen inhaltsleeren Raum zu uns kommen, sondern in ein konkretes Land, unser Deutschland mit einer teilweise, aber nicht ausschließlich grauenhaften Geschichte (die nun auch die ihre ist, wenn sie hier dauerhaft leben wollen), mit einer alten, reichhaltigen, zu achtenden Kultur und tradierten Bräuchen.
Das bedeutet für sie und uns hier schon lange Lebende immer wieder, dass das nationale Selbstverständnis stets neu ausgehandelt und ausgekämpft werden muss. Das geht nur mit Respekt, den vielen Einzelnen wie insbesondere allen Minderheiten gegenüber, dem Grundprinzip friedlichen, freiheitlichen und günstigenfalls solidarischen Zusammenlebens.
Mehr Ökonomie und weniger Identitätspolitik
Diesem starken Argument von kollektiven Bindungen, gemeinsamer Kultur und gemeinsamer nationaler Identität als Voraussetzung eines guten Zusammenlebens, steht die identitätspolitische Selbstbespiegelung von Teilgruppen der Gesellschaft entgegen. Wächst diese identitätspolitische Selbstbespiegelung nun auch zum dominierenden Politikverständnis der Sozialdemokratie aus, steht dies der Funktion der Sozialdemokratie im Wege, eine Partei für die werktätigen Massen zu sein, die an ökonomischer Prosperität der Volkswirtschaft, sicherer Arbeit und guten Lebensbedingungen interessiert sind.
Der Fokus auf Identitätspolitik beeinflusst Programmatik, öffentliche Wahrnehmung und das Selbstverständnis von Sozialdemokraten, wofür sie arbeiten müssen: Nämlich eine politische Ökonomie des Zusammenhalts, in der jeder Bürger auch materiell seinen sicheren Platz finden mag.
Die Mäßigung in Sachen Identitätspolitik, zu der Wolfgang Thierse aufgerufen hat, ist daher richtig und notwendig.
Prof. Dr. Peter Brandt