Ein Kommentar zur jüngsten Häufung gerichtlicher Entscheidungen in der Pandemie-Politik

Kaum hatte die Stadt Hannover in Umsetzung der von der MinisterpräsidentInnenkonferenz (MPK) beschlossenen Strategie eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, wurde diese vom OVG Lüneburg auch schon wieder aufgehoben. Eine Ausgangssperre sei nur als „ultima ratio“ zulässig, wenn also andere Maßnahmen keinen Erfolg versprächen.

Das aber habe die Stadt nicht darlegen können. Die Entscheidung reiht sich ein, in eine steigende Zahl an gerichtlichen Entscheidungen, die vor allem die zuletzt beschlossenen Corona-Maßnahmen kritisch beleuchten und immer häufiger aufheben. Ist das aus juristischer Perspektive ein Problem? Lässt sich das Virus überhaupt ansprechend bekämpfen, wenn die judikative Gewalt der Exekutive ständig in die Parade fährt?

Der Verfassungsstaat kennt keinen Ausnahmezustand des Rechts

Aus rein verfassungsrechtlicher Perspektive wird man diese Frage zügig verneinen können. Es ist die zentrale Aufgabe der Gerichte, exekutivisches Handeln auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen – und zwar zu jeder Zeit. Wo eine Maßnahme mit dem geltenden Recht nicht in Einklang steht, bleibt dem Gericht also keine andere Möglichkeit, als die Maßnahme aufzuheben und der Exekutive Besserung abzuverlangen. Und das gilt auch in der Pandemie. Sie mag sich für uns alle als Ausnahmezustand anfühlen. Der moderne demokratische Verfassungsstaat aber kennt keinen Ausnahmezustand des Rechts. Die Verfassungsordnung bleibt unverändert in Kraft und das gilt selbstverständlich auch für die Grundrechte. Dass sich die Exekutive davon bisweilen gegängelt und genervt fühlt, ist ebenso erwartbar wie erwünscht und letztlich Ausdruck einer effektiven Rechtsprechung im Besonderen und eines funktionsfähigen demokratischen Verfassungsstaates im Allgemeinen.

Vor diesem Hintergrund ist es auch kein grundsätzliches Problem, dass das exekutivische Handeln immer wieder als rechts- oder sogar verfassungswidrig eingestuft wird. Gerade in einer Pandemie, wo die Versuchung für die Exekutive groß ist, die Handlungsgrenzen ein wenig zu verschieben, sind entsprechende Verstöße kaum zu vermeiden. Solange die Gerichte diese Verstöße erkennen und einschreiten, sollte man daher mit allzu ausgeprägten Vorwürfen an die Exekutive zurückhaltend sein. Im Übrigen wird auf diesem Wege zugleich das Vertrauen in die sonstigen Maßnahmen erhöht: Wenn die Gerichte diese im Klagewege nicht aufheben, so spricht eben vieles dafür, dass diese tatsächlich rechtlich (im Gegensatz zu politisch) nicht zu beanstanden waren. Auch die Exekutive hat damit ein (allerdings nur selten selbst erkanntes) Eigeninteresse an einer effektiven gerichtlichen Kontrolle.

Die Gerichte haben sich lange zurückgehalten

Stellen gerichtliche Aufhebungen damit im Grundsatz kein verfassungsrechtliches Problem dar, da sie Ausdruck einer funktionierenden Arbeitsteilung im demokratischen Verfassungsstaat sind, könnte sich die Bewertung ändern, wenn diese in erhöhter Zahl und mit einer gewissen Erwartbarkeit auftreten. Denn tatsächlich sollte die Exekutive sich doch jedenfalls darum bemühen, die rechtlichen Grenzen einzuhalten. Den Gerichten wäre also zumindest dann ein Vorwurf zu machen, wenn sie ihre Kontrolldichte zuletzt so sehr erhöht hätten, dass der rechtliche Rahmen für die Bekämpfung der Pandemie als zu eng angesehen werden müsste.

Auch diesen Vorwurf wird man allerdings nicht aufrechterhalten können. Die Gerichte haben sich vielmehr gerade zu Beginn der Pandemie ausdrücklich zurückgehalten und der Exekutive in der unbekannten Pandemiesituation einen großen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum eingeräumt.

Das entsprach zugleich den realen Erwartungen der Bevölkerung in der Krise: In einer solchen Situation erwartet man vom Staat ein schnelles und beherztes (effektives) Eingreifen und stellt zugleich seine Erwartungen an die demokratische Teilhabe an den und die gerichtliche Kontrolle der getroffenen Entscheidungen zurück. Der Satz, wonach die Krise die Stunde der Exekutive sei, bringt genau diese Zusammenhänge zum Ausdruck: Die Exekutive diskutiert ihre Entscheidungen nicht öffentlich, kann daher schnell und effektiv die notwendigen Maßnahmen treffen. Die Gerichte stehen dem (zumindest zu Beginn) nicht im Weg und ziehen sich in der Kontrolldichte partiell zurück. Prozessrechtlich fällt die im einstweiligen Rechtsschutz anzustellende Abwägung also meist zugunsten der Regierung aus (zu Beginn der Pandemie gab es fast keine Gerichtsentscheidung gegen die Regierung).

Von Seiten der Bevölkerung wird im Gegenzug für diese Bereitschaft auf Teilhabe und Rechtsschutz zu verzichten erwartet, dass die Regierung tatsächlich effektive Maßnahmen ergreift. Das war zu Beginn der Pandemie der Fall – der erste Lockdown zeigte schnell Erfolge –, scheint aber seit Ende letzten Jahres zunehmend fraglich: Der „Lockdown-light“ zeitigte nicht die erhoffte Wirkung, seitdem gehen die Zahlen wieder hoch. Eine wirksame Strategie ist schon lange nicht erkennbar, das Testen läuft zäh und hinsichtlich der Impfzahlen haben uns etliche Länder überholt. Wann es hier richtig losgeht, ist weiterhin nur schwer abzusehen.

Eine solche Situation aber stellt die Akzeptanz der Bevölkerung auf eine harte Probe. Denn die Legitimität einer politischen Ordnung hängt von den drei genannten Kriterien ab: ausreichende Teilhabe, ausreichende Begrenzung und ausreichende Effektivität. Und bei allen dreien sieht es aktuell schlecht aus: Die Teilhabe ist bereits seit längerem defizitär, es entscheidet die hinter verschlossenen Türen agierende MPK. Die Maßnahmen selbst greifen massiv in das Privatleben ein, mit der Begrenzung ist es also nicht so weit her, gerade die Wirtschaft ist kaum noch in der Lage ansprechend zu planen. Gastwirte und Hoteliers verzweifeln angesichts des Umstands, dass sie weiterhin nicht wissen, wann sie öffnen dürfen. Und das alles wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn wenigstens die Effektivität des staatlichen Handelns erkennbar wäre. Von „Osterruhe“ bis zum „Brückenlockdown“ war davon zuletzt aber wenig zu sehen.

Was also tun?

Prinzipiell kann man bei allen drei Akzeptanzkriterien ansetzen und genau das sollte man auch versuchen. Man sollte also erstens die Partizipationsmöglichkeiten erhöhen, indem man die erste Gewalt stärker ins Spiel bringt: Regelmäßige öffentliche Debatten im Bundestag anstelle nächtlicher Pressekonferenzen übernächtigter MPs. Das könnte dann zweitens zugleich die Effektivität der Maßnahmen erhöhen – jedenfalls wäre eher erwartbar, dass völlig sinnfreie Maßnahmen gar nicht erst getroffen werden.

Mit ihren Urteilen arbeiten die Gerichte schließlich drittens bereits daran, die Einschnitte in das Privatleben jedenfalls da abzumildern, wo die getroffenen Entscheidungen erkennbar nichts oder wenig bringen – das betrifft auch die oben erwähnte Ausgangssperre. Die Gerichte artikulieren damit rechtsverbindlich genau die Bedenken, die auch die Bevölkerung verspürt, aufgrund der defizitären Partizipationsmöglichkeiten aber nicht selbst vorbringen kann. Sie mindern damit zugleich die partielle Ohnmacht, die einige angesichts bisweilen offensichtlich eher verwirrender denn effektiver Maßnahmen verspüren und tragen so zur Stabilität des Gesamtsystems bei. Dass die Gerichte mit ihrem häufigen Einschreiten eine effektive Pandemiebekämpfung verhinderten, trifft insofern nicht zu. Gerade weil die Kenntnisse im Hinblick auf die Pandemiebekämpfung gewachsen sind, verlangen die Gerichte zu Recht Maßnahmen, die epidemiologisch nachvollziehbar und effektiv sind. Mit der Aufhebung bisweilen doch sehr undurchdachter Maßnahmen leisten sie insofern einen kleinen Beitrag dazu, das allgemeine Vertrauen in den Rechtsstaat als bedeutendem Teil des politischen Systems aufrecht zu erhalten – wenn erkennbar willkürliche oder ineffektive Maßnahmen auch vor Gericht Bestand hätten, wäre der Weg zur Verschwörungstheorie bei einigen nicht mehr lang.

Entscheidend aber ist und bleibt die Politik bzw. die MPK. Ihr muss es jetzt schnell gelingen eine effektive Strategie zu formulieren. Andernfalls wird es mittelfristig schwer werden, die notwendige Akzeptanz zu sichern – Gerichte hin oder her.

 

Prof. Dr. Alexander Thiele vertritt zur Zeit einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie, der Allgemeinen Staatslehre und der Verfassungsgeschichte.