„Ich komme aus einem ur-sozialdemokratischen Haushalt“

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Der Journalist Jan Fleischhauer im Interview zur schlechten Lage der politischen Linke, den Zustand in deutschen Redaktionen und die Frage, wie das alles zusammenhängt

 

Blog politische Ökonomie: Ich würde mich gerne mit Ihnen über die allgemeine Lage und die grundlegende Problematik linker Parteien und auch der Volksparteien unterhalten. Zu Beginn eine rhetorische Frage: Für wie sinnvoll halten sie Identitätspolitik auf einer Skala von 1 bis 10?

Jan Fleischhauer: Das kommt darauf an, was man will. Wenn ich schwarz bin und halbwegs studiert habe, Soziologie oder etwas Ähnliches, kann das mein Ticket sein, um auf Podien der Heinrich-Böll-Stiftung oder der Neuen Deutschen Medienmacherinnen zu landen. Dann ergibt das durchaus Sinn. Wenn man Identitätspolitik richtig betreibt, verdient man vielleicht keine Millionen, aber es kann zumindest ein Job dabei rauskommen.

Es gibt ja den Vorwurf, dass das eine Art Geschäftsmodell für einige Leute ist.  

Ob es ein Geschäftsmodell ist, weiß ich nicht, aber es bietet jedenfalls die Möglichkeit vorzukommen und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die man sonst vielleicht nicht bekäme.

Warum zündet das beim Wahlvolk nicht? Früher hat man doch auch von Werten und wertegeleiteter Politik gesprochen. Haltung war unter Willy Brandt wichtig, man stand für Demokratiebewegung und Freiheitsrechte, das ging also durchaus über den Materialismus hinaus und hat viele Leute angesprochen. Woran liegt es also, dass das heute viele Leute vielmehr nervt? Warum merken diejenigen, die Identitätspolitik betreiben, nicht, dass sie vielleicht mal einen Gang herunterschalten sollten?

Also, wenn der Eisenbieger aus Dessau von Mohamed Amjahid im Presseclub gesagt bekommt, er, der Eisenbieger, sei der wahrhaft Privilegierte, während ein Blick auf Google zeigt, dass Herr Amjahid so ziemlich jedes Stipendium eingeheimst hat, das man einheimsen kann, dann fragt sich der Facharbeiter, was mit Privilegierung gemeint sein soll. Solche Facharbeiter waren früher Kernklientel der SPD und wurden von der Partei mit an Bord genommen. Jetzt gelten sie im Grunde als Ballast, den man lieber heute als morgen über Bord wirft. Dass dies für eine Partei, die sich als links versteht, ein Problem ist, darauf hat Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch hingewiesen. Es braucht also gar nicht mich für diese Analyse.

Das Phänomen ist ja, dass es für Wagenknecht aus ihrer Partei extrem viel Gegenwind gab, bis hin zu Verleumdung und Hass und es wurde behauptet diese Position sei nicht links. Wie kann es sein, dass innerhalb der Parteien nicht mehr ein Diskurs zustande kommt und geklärt wird, was für die Partei der beste Weg ist. Sie haben zuletzt versucht mit Identitätspolitikern ins Gespräch zu kommen und ein Format zu entwickeln, das am Ende doch gescheitert ist.

Zur ersten Frage, warum machen Parteien das und schlagen ihrer Kernklientel vor den Kopf? Es ist ja letztlich ein Elitenprogramm, das bei der Sprache anfängt. Man befleißigt sich einer Sprache, die man nur als studierter Mensch verstehen kann. Und selbst das reicht nicht immer. Wenn ich BWL oder Jura studiert habe, weiß ich noch nicht notwendigerweise, was ein Cis-Mann ist. Da muss man schon ganz bestimmte Studiengänge hinter sich haben, am besten Gender Studies und Postcolonial Studies, nur dann weiß ich überhaupt, wovon die Rede ist. Wenn ich eine Partei vertrete, die den Anspruch hat, nicht nur fünf Prozent der Gesellschaft zu erreichen, sondern vielleicht 15 oder 20 Prozent, kreiert das ein Problem. Wenn Kevin Kühnert mit seinem Programm vor das Publikum tritt, muss er feststellen, dass sein Programm zwar gut ist für die AStA-Vollversammlung, aber bei der breiteren Bevölkerung ähnlich gut ankommt wie der Vorschlag, BMW zu verstaatlichen.

Die gleiche Beobachtung lässt sich übrigens in Redaktionen machen. Beim „Spiegel“ denken sie darüber nach, ob sie jetzt einheitlich gendern sollen, und zwar bis zur Titelzeile. Das ist noch nicht entschieden, aber der Vorschlag dazu liegt auf dem Tisch. Der Chefredakteur weiß, dass das ein Programm ist, das leicht zehn bis zwanzig Prozent der Leser kosten kann. Der Spiegel-Leser will so etwas nicht, der ist da ganz halsstarrig. Warum macht man das also? Ich glaube mit dem Vokabular der Politikwissenschaft kommt man bei dem Versuch einer  Erklärung nicht weiter. Man muss zum Instrumentarium der Religionswissenschaften wechseln. Eigentlich wäre Ursula Caberta, die berühmte Sektenbeauftragte aus Hamburg, die Auskunftsperson, an die man sich wenden müsste.

Im Fall meines Podcasts war das ein Angebot an Leute, die entweder Transpersonen sind oder muslimische Feministinnen, also einem Submilieu entspringen, das kaum Zugang zur breiteren Öffentlichkeit hat. Esra Karakaya hat ihren Karakaya Talk, aber das ist kein Quotenbringer, weshalb das ZDF-Jugendprogramm „Funk“ den Vertrag auch nicht verlängert hat. Auf einem Massenmedium wie „Focus“ stattzufinden, daran hätte also eine Chance gelegen. Dass nach insgesamt drei Folgen Schluss war, lag daran, dass die Community aufstand und meinen Partnerinnen sagte: Das geht nicht, mit jemandem wie Fleischhauer darf man nicht gemeinsame Sache machen. Vielleicht sollte man wieder anfangen, Claude Levi-Strauss zu lesen. Das Reine und das Unreine. Wir sind zurück im Urwald.

Im Journalismus ist das vielleicht ein wenig anders als bei einer Partei, die gewählt werden will. Bei der SPD und den Linken geht es seit Jahren nur noch bergab. Warum ruft niemand „Stoppt den Irrsinn“?

Das ist eine Analyse, die wir beide teilen, nicht aber die Identitätspolitiker. Die DDR, die Sowjetunion, Kuba, Venezuela – immer ist der Sozialismus gescheitert. Aber hält das den Sozialisten davon ab, seinen Traum zu verfolgen? Nein. Wenn man ihn auf das Scheitern anspricht, sagt er, dass die Ideen nur falsch umgesetzt wurden. Das Sektenmitglied ist der festen Überzeugung, dass sich der reine Glaube über die Welt verbreiten werde, wenn es nur entschieden genug darauf hinarbeitet.

Ich würde mal behaupten, dieser Sozialismusstrang auf der einen und die Identitätspolitik auf der anderen Seite bilden eine merkwürdige, von der Realität entrückte Melange einiger Funktionäre. Das läuft in Teilen der linken Parteien, aber die große Masse der Bevölkerung erreicht das eher unterschwellig. Mal von der weiteren öffentlichen Kreisen bekannten Wolfgang-Thierse-Beschimpfung abgesehen: Journalisten kriegen den ganzen identitätspolitischen Irrsinn hautnah mit, auf Twitter und anderswo, darüber steht aber nur manchmal was in Feuilleton – ganz selten etwas im Politikteil. Aber der Tagesschau-Zuschauer bekommt das halt nicht mit.

Teile der politischen Funktionäre reden also über Themen, mit denen die Wähler nichts anfangen können. Man spürt die Entfremdung als Wähler, aber so detailliert bekommt man es nicht mit. Einige Funktionäre reden nun schon noch über klassische sozialdemokratische Themen. Das Gesicht der Sozialdemokratie sind für die Mehrheitsbevölkerung immer noch nicht die Sektenmitglieder und es gibt noch eine andere Sozialdemokratie, die sichtbar ist. Woran liegt es, dass die pragmatischen Funktionäre, die auch über andere Themen reden, es öffentlich nicht mehr wagen, der Identitätspolitik zu widersprechen und stärker darüber zu reden, was die richtige Strategie um für die Mehrheitsbevölkerung wählbarer zu werden?

Das Problem beginnt damit, dass Sie von Mehrheitsgesellschaft sprechen. Wollen Sie damit sagen, dass Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder sexuellen Orientierung nicht zur Gesellschaft gehören? Na? Schon der fahrlässige Umgang mit dem Begriff „normal“ kann einen ja aus der Kurve tragen. Nicht jeder Funktionär ist schlagfertig genug oder ausreichend in den Diskursen bewandert, dass er solchen Angriffen etwas entgegenstellen kann. Diese braven Leute fühlen sich komplett überfahren. Die haben ja zum Glück nicht alle Abitur oder acht Jahre lang Postcolonial Studies studiert. Wie reagiert man, wenn einem unterstellt wird, man wäre Rassist, unterdrücke Minderheiten und müsse mal seine Privilegien hinterfragen? So heißt es doch: „Du bist ein weißer Mann, warum sitzt du überhaupt hier? Check your privileges!“ Das Nächste was kommt, ist der Vorwurf „Nazi“. Da kann man im Grunde die Uhr nachstellen. Überhaupt ist ja die wahnsinnige Aggressivität auffällig, die schon in die nebensächlichsten Auseinandersetzungen Einzug gehalten hat. Der Habermas’sche Diskurs, nachdem andere Meinungen erst einmal zu respektieren seien, ist komplett obsolet, um nicht zu sagen als reaktionär ausgemustert. Es geht nicht um Austausch. Es geht darum zu gewinnen, und der einfachste Weg zum Sieg ist, den anderen mundtot zu machen.

Geht es dann teilweise eher darum einen Kulturkampf anstatt Mehrheiten zu gewinnen?

Wir sehen das an den jungen Journalisten, die jetzt aus den Journalistenschulen in die Redaktionen eintreten und die alle schon die neue Lehre aufgesogen haben. Die gehen sofort in die Knie, wenn sie der Glaubensschwäche bezichtigt werden. Die sind so sehr bereit, das Böse in sich zu sehen, dass sie gleich flach liegen, wenn jemand kommt und ihnen Vorhaltungen macht.

Das ist ja ein gewisser moralischer Druck oder eine moralische Erpressung, die da läuft. Zwar gab es die latente Hoffnung, die Identitätspolitiker würden einsehen, dass sie auf dem falschen Weg sind (zumindest ich habe das gehofft), aber das eigentliche Ziel war doch, zumindest die Vernünftigen von diesem gefährlichen Pfad abzubringen und zu zeigen, dass es nicht darum geht einen Konflikt zu gewinnen, sondern einfach über andere Themen zu sprechen

Das ist Ihr Kampf, nicht meiner. Ich bin kein Parteimitglied und kann es halten wie Steve Bannon, der sagte, er könne von Identitätspolitik gar nicht genug bekommen, weil das der sicherste Weg sei, dass die politische Linke niemals mehr an die Macht komme, jedenfalls nicht auf legalem Weg über die Wahlurne.

Aber Sie schreiben doch Ihre Kolumnen nicht nur, weil sie Freude daran haben, in der Verlorenheit anderer zu bohren. Sie werben doch immer für einen Habermas’schen Diskurs, in dem das bessere Argument gewinnt. Sie haben doch bestimmt immer noch die Hoffnung, mit ihrem Argument jemanden zu erreichen und zu einem Umdenken zu bringen. Ich selbst habe immer gehofft, dass diejenigen, die ich für Übertreibungen der Identitätspolitik kritisiere, vielleicht einlenken und sich einmal die Gegenargumente ansehen. Auf der anderen Seite hatte ich gehofft, zumindest die Pragmatiker zu erreichen, die Mandate behalten, Schaden von der Partei abwenden und Wahlen gewinnen wollen. Selbst diejenigen, die empfänglich für identitätspolitische Argumente sind, sollten doch ein eigenes Interesse haben, sich auch mit Materialismus, Wirtschaft und Arbeit auseinanderzusetzen. Mit Ihren Texten wollen Sie doch auch Leute erreichen.

Ich erreiche ganz viele Leute mit meinen Kolumnen. Ich behaupte ja von mir, dass ich einer der letzten Mainstreamjournalisten des Landes bin. Was ich schreibe, können 50 bis 60 Prozent der Deutschen unterschreiben. Selbst Sophie Passmann musste konzedieren, das sei traurig aber vermutlich wahr. Die militanten Vertreter der Identitätspolitik sind ja in Wahrheit eine ganz kleine Truppe. Die Tragik der Sozialdemokratie besteht darin, dass sie sich von so einer Minderheit hat kapern lassen. Die Mehrheit der Mitglieder sind total vernünftige Leute. Wenn ich SPD-Mann wäre, würde ich jeden Tag verzweifeln.

Olaf Scholz verkörpert mit seiner etwas getragenen Art dieses ganz normale Deutschland, er verkörpert das Versprechen, dass mit ihm an der Spitze kein Unsinn passiert, deshalb ist er ein guter Kandidat. Aber dann schauen die Wähler auf Saskia Esken neben ihm und sind sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich SPD wählen sollen. Das wird ein Problem des Wahlkampfs. Erst tritt Olaf Scholz auf die Bühne und sagt, warum die Menschen ihm vertrauen können, und dann kommt Saskia Esken, die Alterspräsidentin der Antifa, und haut ein sozialistisches Papier raus, das jeden Deutschen unwillkürlich zum Portemonnaie greifen lässt. Oder sie nimmt sich eine verdiente Genossin wie Gesine Schwan zur Brust, weil die es gewagt hat, eine Schauspielerin namens Heinrich zu misgendern. Einmal eine Transperson mit dem falschen Personalpronomen angesprochen zu haben, und man hat in der neuen Esken-SPD ein Parteiausschlussverfahren am Hals. Schmeißt die Identitätspolitiker aus der Partei, wäre mein Rat, dann geht es auch wieder aufwärts. Franz Walter hat einmal geschrieben, der Niedergang der SPD habe 1972/73 begonnen, als aus Begeisterung für Willy Brandt die Mitgliederzahl auf 1,1 Million stieg. Das Problem war, dass die meisten der neuen Mitglieder aus den Universitäten kamen. Diese Leute besaßen gegenüber den Altmitgliedern den enormen Vorteil, dass sie Zeit im Überfluss hatten. Ein normaler Arbeitnehmer, der morgens um sechs Uhr raus muss, kann nun einmal nicht bis Mitternacht Anträge zur Geschäftsordnung diskutieren. So ist das bis heute im Grunde geblieben. Wenn es darauf ankommt, sind die Akademiker unter sich.

Wann sind sie zur Uni gegangen?

1982, auf dem Höhepunkt der Franzosenlehre. Michel Foucault, Jacques Derrida, Luce Irigaray, das waren meine Götter. Ich kann in jeder Genderdebatte problemlos bestehen.

Sie haben doch mal in einem Buch geschrieben, dass Sie von einem Linken zu einem Konservativen geworden sind. Sie haben doch bestimmt mal die SPD gewählt.

Ja natürlich. Ich komme aus einem ur-sozialdemokratischen Haushalt. Meine Mutter ist 1963 wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten. An dem Tag, an dem das Misstrauensvotum gegen Brandt im Radio übertragen wurde, stand meine Mutter vor dem Radio in atemloser Anspannung und obwohl sie die Kirche ablehnte, könnte ich schwören, dass sich ihre Lippen im Gebet bewegten, dass der feige Anschlag gegen unseren Willy vereitelt werden möge. So ist es, Gottlob, ja auch gekommen.

Nehmen wir einmal an, die Vernünftigen in der SPD wachen auf und merken, die Identitätspolitik ist eine Religion, von der sie sich fernhalten sollten und reden wieder mehr und besser über vernünftige Themen der Wirtschafts-, Arbeitsmarkts-, und Sozialpolitik. Stellen wir uns also vor, Sie Herr Fleischhauer, wollen, dass die Sozialdemokratie gedeiht und auf die richtigen Themen setzt. Wenn Sie noch ein Linker wären, auf welche Themen der Wirtschafts-, Arbeitsmarkts-, und Sozialpolitik würden Sie setzen?

Ich würde einfach so weitermachen wie in den vergangenen 16 Jahren. Wir sind ein durch und durch sozialdemokratisches Land. Alle Kanzler wussten das. Selbst Helmut Kohl hat ja eine klassische SPD-Sozialpolitik gemacht. Kein Kanzler hat den Sozialstaat mehr ausgebaut als Kohl, und das am Ende dann sogar noch zu einer Zeit, in der kein Geld mehr in der Kasse war, weil wir den Osten übernommen hatten. Norbert Blüm durfte schalten und walten, wie er wollte. Die Deutschen haben nichts gegen den Mindestlohn oder die Grundrente. Deshalb hat Angela Merkel auch jedes Mal, wenn die SPD mit einem neuen Gesetz um die Ecke kam, gesagt: Prima, das machen wir, und es dann zu 150 Prozent umgesetzt. Woraus folgt: Die SPD müsste einfach so weitermachen, mit einer Führungsfigur, die ähnlich beliebt ist wie Merkel und schon hat sie die Wahl gewonnen. Die CDU hat doch gar kein Gegenprogramm. Das Beste, was der SPD hätte passieren können, wäre Friedrich Merz. Der ist eine Art Bernie Sanders von der Gegenseite. Er ist ein Prediger für diejenigen, die schon bekehrt sind. Damit gewinnt man leider keine Wahlen.

Seit einiger Zeit gibt es einen Zweikampf zwischen den Grünen und der Union, und die SPD ist bedeutungslos und versucht nur nicht in Vergessenheit zu geraten. Mittlerweile werden in der Partei sogar Stimmen laut, die sagen, man wäre gerne Juniorpartner in einer Koalition mit den Grünen. Teilweise versuchen andere auch die Grünen zu kopieren, ähnlich wie Markus Söder das macht. Das Kernklientel der SPD sagt allerdings, Klimawandel sei wichtig, aber die eigene Arbeit ist doch wichtiger. Als Partei der Arbeit muss man sich doch zunächst fragen, ob die Leute sichere Jobs haben und diese auch behalten. Jobsicherheit und Zukunftsaussichten sind diesen Leuten wichtig, sie wollen wissen, dass sie ihre Kredite abbezahlen können und hegen Ressentiments gegenüber einer zu schnellen Klimawende. Jetzt haben wir allerdings einen Wahlkampf, in dem es größtenteils um den Klimawandel und die Transformation geht – neben dem ganzen Corona-Management-Zeugnis. Doch was fehlt, ist ein Meinungspluralismus was den Weg betrifft, wie diese Probleme angegangen werden sollen. Warum glauben Sie fehlen aktuell sozialdemokratische und christdemokratische Narrative in der Klimapolitik?

Das eigentliche Versprechen der Sozialdemokratie ist, dass man die einfachen Leute nicht vergessen hat, das hat mit Respekt und Anerkennung zu tun. Bei den Grünen wissen alle, dass es ein Elitenprojekt ist. Die Grünen machen Klientelpolitik für Leute, die über das richtige Bewusstsein und die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Und da wir ein reiches Land sind, reicht das, um bei Wahlen 25 Prozent oder gar 30 Prozent zu holen. Die Partei ist komplett akademisiert und vertritt eine mittlere und obere Mittelschicht wie man sie aus dem Prenzlauer Berg kennt, wo Lena und Jonas zum Musikunterricht gehen, während der Mann in einer Anwaltskanzlei das Geld ranschafft und die Mutter irgendwelche Projekte verfolgt. Wie gesagt: In einem reichen Land wie Deutschland kann man damit 30 Prozent der Wähler gewinnen, aber 70 Prozent können mit einem solchen Programm überhaupt nichts anfangen. Es hat schon etwas Masochistisches, wenn eine Partei mit einem Wahlprogramm antritt, das die Kernklientel überhaupt nicht berührt. Warum also macht die SPD das? Weil die Parteifunktionäre zu eben dieser urbanen Mittelschicht gehören. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich übrigens gerade bei den Konservativen.

Die Werte derer, die sie wählen sollen, kennen viele Politiker gar nicht. Für einen Politiker links der Mitte kommen als Wähler klassischerweise Menschen aus dem migrantischen Milieu in Frage oder dem Arbeitermilieu. Wenn Sie denen damit kommen, dass sie sich aber für ihren Wagen schämen sollen, weil er viel zu viel Benzin verbraucht, wissen die gar nicht, wovon die Rede ist – beziehungsweise zeigen ihnen einfach einen Vogel. Gehen Sie mal nach Berlin-Wedding, fragen Sie dort mal auf der Straße, von was von einem Auto die Leute träumen. Der Q 7 von Audi, bei dem sich jeder gute Linke dreimal bekreuzigt, der steht da aber ganz oben auf der Liste der Wunschautos.

Um das noch einmal auf die Frage der Identitätspolitik zurückzubringen: Ich hatte immer den Eindruck, dass besonders für Menschen aus dem migrantischen Milieu der Ausdruck „Opfer“ eine schlimme Beleidigung ist, weil diesen Menschen oftmals das Aufstiegsversprechen sehr wichtig ist und man aus eigener Kraft etwas erreichen möchte und damit eine gewisse Würde verbinden. Und dann kommen besonders weiße Akademikerkinder und sagen diesen Menschen, dass sie in der Opferhierarchie ganz oben stehen und große Opfer sind. Dass Menschen aus diesem migrantischen Milieu diese Fremdzuschreibung aber ablehnen, kommt bei den Funktionären meist nicht mehr an, weil sie glauben, sie wüssten, wie diese Leute denken. 

Der Schlüssel der Erklärung ist Opportunismus. Man will im eigenen Milieu ankommen und sich nicht dumme Fragen stellen lassen müssen. Und das Milieu, aus dem die meisten sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre kommen, ist eben ein akademisches Milieu, in dem die größten Themen Klimawandel und Feminismus sind.

Wie kommt man aus dem Gefängnis des Opportunismus und der Gefallsucht gegenüber der eigenen Peergroup heraus?

Vielleicht muss man die Quotenidee neu beleben. Die Frauenfraktion sagt, man brauche die Quote, weil diejenigen, die über Fortkommen entscheiden, oftmals diejenigen auswählen, die so sind wie sie selbst. Wenn man sich Vorstandsetagen ansieht, ist da durchaus etwas dran. Wenn der Vorstandschef eines Dax-Konzerns früher bei McKinsey gearbeitet hat, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass er dann vor allem Mitarbeiter protegiert, die ebenfalls eine Vergangenheit bei McKinsey haben. Das ist nur zu menschlich. Wenn ich das durchbrechen will, geht das entweder durch gesellschaftlichen Druck oder eben Quoten. Die SPD könnte sich eine Quote setzen für Nicht-Akademiker. Eine Normale-Leute-Quote. Damit hätten sie automatisch auch wieder Leute in den oberen Parteirängen, die so reden wie die Menschen, die sie wählen sollen, und nicht so, dass nur Wähler sie verstehen, die drei Hauptseminare über Judith Butler absolviert haben.

Sie haben gesagt, das wichtigste Thema für die Sozialdemokratie seien Respekt und Anerkennung. Jetzt läuft Olaf Scholz durchs Land mit den Ideen des Harvard-Philosophen Michael Sandel im Gepäck und sagt den Leuten, er bringe ihnen Respekt und Anerkennung zurück. Wieso zündet das nicht?

Weil es ein Belehrungsprogramm ist. Jetzt kommt der Gymnasiallehrer und erzählt mir etwas von Würde. Ich denke schon, dass Scholz unter den Kandidaten, die zur Auswahl standen, die beste Wahl war. Nur haut es halt mit dem Rest des Teams nicht hin.

Meinen Sie Scholz hätte ohne das Willy-Brandt-Haus bessere Chancen?

Programm und Auftritt sollten bei jemandem, der sich fürs Kanzleramt bewirbt, schon zusammenpassen. Ich bin zum Beispiel auch nicht davon überzeugt, dass alle sozialdemokratischen Wähler per se Steuererhöhungen toll finden. Die SPD hat ja in der Vergangenheit nicht nur das Proletariat vertreten. Man hat auch die Facharbeiterschicht hinter sich versammelt und Teile des Bürgertums, denen es ökonomisch nicht schlecht geht, also die Leute, die das Rückgrat der Gesellschaft bilden, ohne, dass ihnen mal jemand dafür Dank abstattet. Man verliert diese Leute aber, wenn man ihnen ständig naseweis vorhält, dass sie die falschen Ansichten haben, über die falschen Sachen lachen und die falsche Sprache sprechen. Die sicherste Art, Leute zu verprellen, ist ihnen ständig zu sagen, dass man sie im Grunde für etwas minderbemittelt hält. Aus dieser Quelle speist sich auch der Riesenerfolg von jemanden wie Trump. Es stimmt ja nicht, dass er nur von Leuten in Armutsregionen wie den Appalachen gewählt wurde. Wer die normalen Menschen erreicht, hat die Wahl gewonnen. So einfach und gleichzeitig schwierig ist das.

Ist der konservativ gewordene Herr Fleischhauer an der Wahlurne mittlerweile ein schwarzer oder ein gelber?

Ich glaube, bei meiner ersten Wahl habe ich noch für die SPD gestimmt, wahrscheinlich, weil mir meine Mutter dabei über die Schulter geguckt hat. Dann erst mal für lange Zeit die Grünen. Dann habe ich auch mal die Union gewählt, aber seit 2005 an eigentlich nur noch die FDP, jedenfalls mit der Parteistimme. Ich weiß, ich wandele damit auf dünnem Eis, das ist ein Bekenntnis, mit dem man sich schnell Kopfschütteln einhandelt, wenn nicht noch schlimmeres. Warum wählen die Leute in unserer Welt grün? Kurze Antwort: Weil die anderen es auch tun. Funktioniert ähnlich wie in der Gastronomie: Man geht dorthin, wo es voll ist. Da gibt es auch am wenigsten Nachfragen.

Und was macht der Focus-Kolumnist, wenn im September Annalena Baerbock gewinnt?

Da mache ich eine Flasche auf, dann habe ich als Kolumnist für vier Jahre ausgesorgt. Gut, ein Problem verschärft sich dann natürlich, dass der Altersvorsorge. Ich gehe auf die 60 zu, ich habe nicht mehr so viele Erwerbsjahre vor mir. Ein Freund hat mir Uruguay empfohlen. Vielleicht sollte ich versuchen, noch rechtzeitig einen Teil meines Vermögens nach Südamerika zu transferieren, bevor Grün-Rot-Rot alles konfisziert.

Oder ich setzte auf die grüne Inkonsistenz. Wir haben kürzlich unser drittes Kind bekommen. Ich habe mit Verspätung gemerkt, dass in den Peugeot, den ich bisher gefahren bin, gar kein dritter Kindersitz passt. Also habe ich mir einen Volvo XC90 zugelegt, 4 Meter 90 Länge, ein richtiges Schlachtschiff. Und das tollste ist: Volvo gilt irgendwie als grün. Damit können sie sogar durch Berlin-Kreuzberg gondeln, ohne dass einem gleich die Scheiben mit Tomaten beschmissen werden. Wer Volvo fährt, gehört irgendwie zu den Guten.

Also sind Sie endlich im grünen Sub-Milieu angekommen.

Täuschen Sie sich nicht. Meine Heimatgemeinde Pullach wird jetzt in zweiter Amtszeit von einer grünen Bürgermeisterin regiert. Ich habe selbst für sie gestimmt. Ich habe mich dabei an meiner Frau orientiert. Die sieht das ganz pragmatisch: Mehr Fahrradwege sind doch super, das steigert den Wohnwert der Gegend. Nur auf Bundesebene darf man die Grünen nicht ran lassen, da kann zu viel anbrennen.

Ich glaube, wir haben genug, ich glaube dieses Interview könnte ganz schön Wellen schlagen auf Twitter. Anders als bei manchen kontroversen Twitter-Accounts stimmen Ihre Leser ja meist mit Ihnen überein.

Nein, das stimmt nicht ganz, das wäre mir auch zu langweilig. Twitter ist für mich ein großer Segen, weil ich so in Schichten vorstoße, die sonst nie den „Focus“ lesen würden. Wenn ich meine Kolumnen mit einem entsprechenden Teaser versehe und in die soziale Welt schicke, gibt es ganz viele Leute, die sich sagen: Ich habe mir geschworen, nie wieder Fleischhauer, aber was schreibt der Irre denn jetzt, das ist ja Wahnsinn – und, wusch, habe ich sie an der Angel. Auf diese Weise habe ich mir auch Teile meines „Spiegel“-Publikums erhalten.

Und wo glauben Sie geht die Reise für den „Spiegel“ hin? Kann man sich noch wehren gegen die „woke“ Übernahme?

Das ist eine spannende Frage. Ich fand es bemerkenswert, dass Giovanni Di Lorenzo in seinem Leitartikel anlässlich des 75. Jahrestages der „Zeit“ schrieb, dass die wahre Gefahr für den freien Journalismus von links kommt. Da hat er sich echt was getraut. Ich glaube, er guckt mit einer gewissen Beklemmung auf seine eigene Zeitung. Noch kann er diese Identitätspolitiker Kraft seiner Autorität in Schach halten, aber was passiert mit der „Zeit“, wenn er abtritt? Das gleiche gilt natürlich für den „Spiegel“.

Der Laie denkt ja immer, Redakteure hätten zuvorderst ihren eigenen Arbeitsplatz vor Augen. Aber viele sind für das Durchsetzen der reinen Lehre durchaus bereit, tausende von Leser zu opfern. Die sind dann froh, dass diese vermeintlich falschen Leser weg sind und man sich mit Frauen, Migranten und anderen Minderheiten Leser erschließt, die so sind, wie man sich das wünscht. Die Wahrheit ist natürlich, dass es sehr viel leichter ist, Leser zu verlieren als neue zu gewinnen, weshalb viele Zeitungen und Zeitschriften beständig an Auflage abnehmen. Das ist ein Mechanismus, den man auch bei der SPD beobachten kann und der die Partei auf 13 Prozent gebracht hat. Natürlich sagt Frau Esken nicht, ihr seien 13 Prozent an Überzeugten lieber als 23 Prozent an unsicheren Kantonisten. Sie lebt in der Illusion, dass man sich ganz neue Gruppen erschließen könne, wenn man der reinen Lehre folge. Die Achillesferse dieser Bewegung ist, dass sie bei einer freien, gleichen und gerechten Wahl keine Chancen hat. Deswegen verlegt man sich bei der Durchsetzung seiner Ziele jetzt auch so auf das Verwaltungshandeln.

Ich habe mit dem ehemaligen Münchener Oberbürgermeister Christian Ude einen interessanten Abend gehabt. Er ist viermal gewählt worden, jedes Mal mit einem noch besseren Ergebnis als zuvor, und das auch noch, als angeblich Gerhard Schröders Agendapolitik der gesamten Sozialdemokratie das Genick gebrochen hatte. An dem Abend kamen wir darauf zu sprechen, dass die SPD nicht nur Wähler an die Linke, sondern auch an die AfD verloren hat. Auf die Frage, was denn die Partei tue, um diese Leute widerzugewinnen, sagte Ude, dass man in seiner Partei doch traurigerweise froh sei, diese Leute los zu sein. Ich glaube, das ist die Wahrheit.

Wenn die SPD mehr Leute hätte, denen man gerne zuhört, würde es mit der Partei auch wieder aufwärts gehen, davon bin ich überzeugt. Man kann über Kevin Kühnert sagen was man will, aber quatschen kann er. Ich meine das nicht despektierlich. Quatschen können ist für einen Politiker die halbe Miete. Kühnert hat eine unverstellte Sprache, vielleicht wirkt sich da seine Arbeit in einem Callcenter segensreich aus. Inhaltlich ist das, was er vertritt, aus meiner Sicht Murks. Aber er traut sich etwas, und er ist auf seine Art auch irgendwie authentisch.

Würden Sie jemals wieder die SPD wählen, wenn Typen wie Schröder und Ude vorne stünden?

Ich wäre an Bord, vor allem, wenn ich das Gefühl hätte, dass nicht das Einzige, was der SPD wieder einfällt, ein Umverteilungsprogramm ist, bei dem man mit der großen Sozialstaatskanne durchs Land läuft, um überall zu wässern, wo jemand besonders laut nach Geld ruft. Die Schröderjahre waren gute Jahre für das Land. Glaubt jemand, Schröder wäre in der Pandemie so naiv gewesen anzunehmen, die USA würden die bei ihnen produzierten Impfstoffe schon brav mit uns teilen? Der hätte zuallererst die Frage gestellt, wo der Kram produziert wird, und dann die Hand drüber gehalten.

 

Jan Fleischhauer

Dieses Interview hat Dr. Nils Heisterhagen geführt