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Die Erzählung von Wachstum und Wohlstand wird neu geschrieben. Über das Narrativ der Wirtschaftskompetenz. Und: Die erwartbare Wirtschaftspolitik von Schwarz-Grün wird dem Land schaden

 

Wäre „Wirtschaftskompetenz“ ein naturwissenschaftlich exakter Messwert, dann hätten wir derzeit eine stark fallende Inzidenz. Die Umfragewerte schrumpfen auch für die Union als „Wirtschaftsparteien“, die klassischen Träger dieser Kompetenz. Die Werte für die Sozialdemokratie verbleiben schon seit längerem gewohnt stabil im Keller. Im Unterschied zur bekannten Pandemie-Inzidenz sind fallende Werte hier jedoch kein Indiz für Entspannung.

Befinden wir uns derzeit also in einer dramatischen Phase des allgemeinen Verlustes ökonomischer Kompetenzen? Und dies angesichts wachsender Aufgaben einer klugen Wirtschaftspolitik nach der Corona-Krise und im Blick auf die Anforderungen der Transformation?

Schauen wir kurz auf die Zahlen. Im Deutschlandtrend von infratest dimap verlief die historische Entwicklung so:

BTW 1998        CDU 47%          SPD 33%

BTW 2002        CDU 46%          SPD 37%

BTW 2005        CDU 51%           SPD 29%

BTW 2009        CDU 47%           SPD 21% (BTW: Bundestagswahl).

Bei der Forschungsgruppe Wahlen liegt die SPD seit 2009 meist unter 20 Prozent, seit 2018 bei knapp über oder unter 10 Prozent. Die Union pendelt seit 2013 zwischen 40 und über 50 Prozent, stürzte aber aktuell auch zeitweise auf die 30er-Marke ab. Neben der Wirkung von mangelhaftem Krisenmanagement und Skandalen zeigen sich hier längerfristige Erosionen konservativer Programm-Perspektiven. Gut 75 Prozent der bei Civey befragten privatwirtschaftlichen Entscheider sagen, dass die Union in den letzten vier Jahren an Wirtschaftskompetenz verloren habe. Wird nach allen Parteien gefragt (Civey), liegen die Grünen bei knapp 5 Prozent, die FDP bei 10, die AfD bei fast 8 und die Linke zwischen 3 und 4 Prozent. Dafür liegen die Grünen in der Zukunftskompetenz bei 23, die CDU bei 33, die SPD bei 9 Prozent. Die Kompetenzverhältnisse haben angefangen zu tanzen.

Mangelware Literatur und Kriterien für Wirtschaftskompetenz

Es gibt überraschenderweise nur wenig Literatur zum Thema Wirtschaftskompetenz, schon gar nicht aktuell, von Handbüchern oder ähnlichen Grundlagenwerken ganz zu schweigen. Die meisten Titel handeln von der pädagogischen Vermittlung betriebs- und volkswirtschaftlichen Wissens – insbesondere bei BerufsschülerInnen. Das ist aller Ehren wert und gewiss müsste auch in allgemeinbildenden Schulen oder der gesamten Gesellschaft viel mehr entsprechendes Wissen vermittelt werden. Eine breite Debatte in der politischen Ökonomie findet indes nicht statt (und hat auch nie stattgefunden).

Ein Grund ist, dass der Begriff abgesehen von der pädagogischen Bedeutung vor allem ein demoskopisches Produkt für die Nutzung in der politischen Arena ist und kein klar und noch weniger allgemeingültig definierter Begriff der Wirtschaftswissenschaften.

Ab wann genau „Wirtschaftskompetenz“ abgefragt wurde, ist nicht so leicht zu ermitteln. Wahrscheinlich begann die Demoskopie das Konzept Ende der 1970er/Anfang der 80er Jahre regelmäßig zu verwenden. Abgefragt wird seither ein Begriff, der als flexible Projektionsfläche dienen muss: für eine Kompetenz, die zwar keinen klaren Definitionen oder Kriterien folgt, jedoch einem gleichwohl äußerst relevanten Motiv. Dieses Motiv ist u.a. mitentscheidend, wie Wahlen ausgehen.

Vertrauen in Handlungskompetenz

Es geht um das empfundene Vertrauen oder wenigstens die Hoffnung der Befragten auf eine wirksame Handlungskompetenz einer Partei oder Person auf ökonomischem Feld. Und im Hintergrund – nie in Umfragen erhoben – geht es auch um das Gegenteil von Wirtschaftskompetenz, also die Frage, ob eine Partei oder Person ggf. schädlich für die Entwicklung von Wachstum und Wohlstand wäre.

Letzteres war für die SPD oft eine notwendige Randbedingung eines Wahlerfolges. Neben einer dazu notwendigen mindestens leidlich positiven Kompetenzzuweisung sollte sie auch nicht „stören“ können bei der Wirtschaftsentwicklung. Dabei spielte die frühere Mehrheitsauffassung eine Rolle, nach der der Staat bzw. die Politik sich im Zweifel aus der Wirtschaft raushalten sollte. „Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht“ war das passende Motto. (Zitat von Günter Rexrodt, eh. FDP-Wirtschaftsminister unter Helmut Kohl von 1993-98).

Wirtschaftskompetenz bedeutete zu Zeiten Helmut Kohls (der übrigens bescheidene Wirtschaftskompetenzwerte hatte) freilich etwas anderes als in der Ära Schröder oder heute unter Merkel (die hier ebenfalls keine besonders ausgeprägte Kompetenzzuschreibung besitzt). Schlicht und banal, weil die internationalen, makroökonomischen und politischen Rahmenbedingungen völlig unterschiedlich waren – und die Krisen, auf die jeweils geantwortet werden musste, ebenfalls.

Erzählung von Wohlstand und Wachstum

Wirtschaftskompetenz ist keine geheimnisvolle Essenz, die man naturwissenschaftlich messen könnte. Sie ist neudeutsch ausgedrückt ein sich wandelndes Narrativ, in das mehrere sehr unterschiedliche Faktoren eingehen. Es geht zunächst allgemein um eine politische Basis-Erzählung von Wohlstand und Wachstum. Vielleicht erklärt das auch, warum der demoskopische Begriff erst nach dem „Wirtschaftswunder“ und den ersten Krisen des deutschen Wirtschaftsmodells aufkam. Selbstverständlichkeiten waren in den 70ern erschüttert und die Fragen nach der Erfüllung des Versprechens der „Sozialen Marktwirtschaft“ – Erhards „Wohlstand für alle“ – neu gestellt worden.

Eine ähnliche Situation erleben wir derzeit erneut, die Bedingungen der Möglichkeit von Wachstum und Wohlstand haben sich dramatisch verändert. Die Krisenerfahrung der Pandemie verstärkt fulminant die Erschütterungen noch vor kurzem stabiler Glaubenssätze. Die „schwarze Null“, ein typisch deutsches Konstrukt, sei nur als ein Beispiel genannt. Es beruhte u.a. auf der beschworenen Wirtschaftskompetenz der „schwäbischen Hausfrau“, die einst fleißig aber unbedingt sparsam den Privathaushalt versorgte. Allein schon wegen der patriarchalen Rollenklischees sollte diese Quelle des hiesigen Austeritäts-Diskurses vertrocknen.

In die „Messwerte“ der Wirtschaftskompetenz gehen ein: zunächst die sich wandelnden Werte bei der Sonntagsfrage – es gibt zudem mehr Parteien denn je im Bundestag. Der Kuchen wird also stärker aufgeteilt. Relevant ist außerdem – mehr noch als ökonomisches, z.B. beruflich generiertes Wissen bei den Handelnden – das Vertrauen in deren Integrität, Handlungsstärke und Krisenkompetenz. Zwischen Kompetenzwerten von Person und Partei existiert natürlich eine Wechselwirkung.

Wirtschaftskompetenz erschöpfte sich nie im Nachbeten von Forderungskatalogen z.B. von Verbänden oder vermeintlichen „Wirtschaftsweisen“. Das wäre Klientelpolitik. Die erforderliche praktisch-politische Integrationsleistung, die zu höheren Kompetenzwerten führt, hat Sigmar Gabriel im Blick auf Gerhard Schröder einmal treffend beschrieben: (Spiegel, 30.11.2014): „Schröder hat seine Wirtschaftskompetenz nicht mit Etiketten gewonnen, sondern mit dem, was er praktisch getan hat, und zwar in Zusammenarbeit mit Unternehmen und Gewerkschaften. Als uns damals geraten wurde, doch die Old Economy aufzugeben und nur noch auf Internet und Finanzmärkte zu setzen, ist er dem zum Glück nicht gefolgt. Es geht uns Sozialdemokraten immer darum, gute Arbeit und guten Lohn in Deutschland zu halten, davon profitieren nicht nur die angeblichen ‚Bosse‘, sondern vor allem Arbeitnehmer und ihre Familien.“

Rehabilitation der Politik

Aktuell wird insbesondere die Rolle der Politik und des Staates bei Krisenbewältigung und Transformation der Ökonomie neu bewertet. Insgesamt gibt es eine Rehabilitation bzw. Renaissance der Politik (ungeachtet der schweren Versäumnisse in der Pandemie-Krise). Zugleich weichen ideologische Dogmen einer Bereitschaft zum pragmatischen Handeln. Der Hochlauf der Wasserstoff-Technologie z.B. und die Integration in die industriellen Wertschöpfungsketten lässt sich nicht mit neoliberalen, neoklassischen oder keynesianischen Lehrbüchern unter dem Arm organisieren, sondern nur mit praktischen wirtschaftspolitischen Schritten und den passenden Instrumentarien. Regulatorik und Finanzierung sind die Stichworte. Und schnelles Handeln, damit langfristige Investitionsentscheidungen jetzt getroffen werden können.

Die Klimaziele erfüllen sich nicht, weil wir sie uns noch fester wünschen. Der Erfolg kann erst später bilanziert werden. Insofern hat Wirtschaftskompetenz auch mit Lernerfahrungen zu tun und längerfristigen retrospektiven Bewertungen. Nichtstun ist dabei am wenigsten demoskopisch erfolgversprechend, zum Glück.

Zusammengefasst: Die Erzählung von Wirtschaftskompetenz wird derzeit politisch neu verhandelt. Die Anteile am Kuchen werden zugleich neu verteilt. Und im Kern beeinflussen weitere, begleitende Kompetenzen die jeweilige Ausprägung von Wirtschaftskompetenz. Letztlich jedoch sind mittelfristig unterschiedliche Wachstums- und Wohlstandsmodelle, die sich als neue Paradigmen herauszubilden scheinen, entscheidend für die Kompetenzperspektiven von Parteien und Personen.

Aus der Krise und ihren finanziellen Lasten müssen wir herauswachsen. Dazu sind gigantische Investitionen notwendig. Die Politik muss diese unterstützen, fördern und begleiten. Die Antworten der Parteien darauf sind unterscheidbar.

Der Wettbewerb ist eröffnet

Der politische Wettbewerb um Wirtschaftskompetenz darf wieder mit Elan aufgenommen werden. Die Karten werden neu gemischt. Einfaches Reklamieren von Kompetenz wie bei den Unionsparteien oder ein Sympathiebonus ohne Leistungstest wie bei den Grünen sind nicht ausreichend und schon gar nicht nachhaltig. Genauso wenig ist es die aus verständlicher Enttäuschung über die mangelnde Würdigung ihrer historischen und aktuellen Leistungen resultierende Haltung der SPD. Sie duckt sich beim Thema Wirtschaftskompetenz meist beleidigt weg und rangelt lieber auf dem Feld der Sozialkompetenz mit der Linken und auf dem Gebiet des Umweltschutzes mit den Grünen.

Von Schröders Reformen bis zu Olaf Scholz´ Navigation in der Krise oder Malu Dreyers und Manuela Schwesigs Reform- und Integrationsleistungen haben SPD-PolitikerInnen jedoch einen überproportional entscheidenden Beitrag für Wohlstand und Wachstum geleistet und Krisenkompetenz bewiesen. Das sollte sich noch auszahlen, wenn Merkel demnächst erkennbar abtritt und nicht alle zu bilanzierenden Erfolge auf ihrem Konto verbucht werden.

Politikkompetenz der Wirtschaft?

Schlussbemerkung: Es wird ja korrespondierend zur Wirtschaftskompetenz der Politik auch so etwas wie Politikkompetenz der Wirtschaft geben. Diese möge sich gelegentlich stärker artikulieren. Das schlimmste, was dem Land demnächst nämlich passieren könnte, wäre eine Regierungskonstellation, deren wirtschaftspolitische Vorstellungen sich, gerade weil sie inkompatibel sind, zu einem Albtraum-Szenario verbinden: harte Sparpolitik und Einschnitte beim Sozialstaat auf Seiten der Unionsparteien kombiniert mit maximalen Umweltauflagen, Verboten und Misstrauen auf Seiten der Grünen.

Was würde da aus den Zukunftsinvestitionen werden? Und dem Zusammenhalt der Gesellschaft? Das wäre dann das Gegenteil von Wirtschaftskompetenz, das, wie wir wissen, nie demoskopisch abgefragt wird, aber mitgedacht werden sollte.

 

Dr. Frank Wilhelmy