11.05.2021Digitalisierung

Digitale Daseinsvorsorge – Europas Chance in der Digitalisierung?

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Der Vormarsch der globalen Digitalunternehmen scheint ungebrochen und bestimmt zunehmend unseren Alltag. Immer mehr Bedürfnisse des persönlichen Lebens werden von Apps auf unseren Smartphones abgedeckt. Besonders bedeutend sind dabei digitale Plattformen wie Amazon, Facebook, Uber oder Google, die vor allem ihren Endkund*innen Leistungen von Dritten bekannt machen oder vermitteln. Die dahinterstehenden Unternehmen sitzen meist in den USA. Europa hat bei globalen Plattformen den Anschluss verloren.

Neben Branchen wie dem Einzelhandel und Verlagen bedroht diese Entwicklung auch Kommunen und kommunale Unternehmen. Die globalen Plattformunternehmen werden zunehmend vor Ort aktiv, sie suchen beispielsweise Kooperationen mit lokalen KMU, veröffentlichen lokale News oder bauen digitale Schnittstellen zu lokalen ÖPNV-Angeboten. Dabei hilft ihnen ihre hohe IT-Kompetenz, ihre weltweite Skalierungsfähigkeit und ihre enorme Finanzkraft. An der physischen Erbringung von Dienstleistungen vor Ort haben die Internetunternehmen meist kein Interesse, ihnen geht es darum, die Kund*innenschnittstelle zu besetzen und dort Vermittlungsgebühren zu kassieren sowie wertvolle Daten abzugreifen.

Die Rolle der Kommunen

In Deutschland und vielen europäischen Ländern haben die Kommunen traditionell eine starke Stellung, sie bieten zahlreiche Leistungen der Daseinsvorsorge an, die über die hoheitlichen Aufgaben weit hinausgehen: Energieversorgung, Mobilität, Markthallen und Messen, Sparkassen, Gesundheitsdienstleistungen und Freizeitangebote sind typische Leistungen, bei denen Kommunen in Wettbewerbsmärkten aktiv sind. Bei den Bürger*innen findet es meist großen Rückhalt, dass viele Leistungen des täglichen Bedarfs von kommunalen Unternehmen als lokalen, demokratisch kontrollierten Dienstleistern erbracht werden. Dass diese Leistungen zunehmend im marktlichen Wettbewerb stehen, hat zu hoher Kundenorientierung und Kostendisziplin geführt. Europaweit sind kommunale Unternehmen heute überwiegend gut aufgestellt und im Wettbewerb erfolgreich.

In den nächsten Jahren wird sich entscheiden, ob die Kommunen ihre starke Stellung als lokale Dienstleister halten können oder sie an globale Plattformunternehmen verlieren. Wenn Plattformen die Kund*innenschnittstellen besetzen, sind kommunale Dienstleister nur noch als Zulieferer der Plattformen aktiv oder werden schrittweise verdrängt. Wie die Taxifahrer von Uber-Fahrern, wie die Einzelhändler von Amazon, wie klassische Medien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch Facebook und YouTube, wie die Sparkassen durch PayPal etc.

Nun kann man argumentieren, dass das eine ökonomisch positive Entwicklung ist, die zu besseren und günstigeren Leistungen für die Bürger*innen führen kann. Alle können von globalen Skaleneffekten und geballter IT-Kompetenz profitieren.

Das Gegenargument, das aktuell in den USA heiß diskutiert wird, ist eine mögliche wettbewerbsfeindliche Marktdominanz großer Anbieter. Aus europäischer Sicht ist das Problem aber vor allem ein Verlust an demokratischer Kontrolle über wichtige Leistungen des täglichen Lebens. Wenn Mobilitätsapps aus den USA den Zugang zum lokalen ÖPNV darstellen, wird in den USA entschieden, welche Verkehrsmittel den Fahrgästen empfohlen werden. Wenn lokale KMU ihre Online-Präsenz auf Plattformen wie Google oder Amazon etablieren, verliert die Kommune jede Kontrolle über den Zugang und die Regeln lokaler Marktplätze.

Dazu laufen die lokalen KMU das Risiko, sich von den Plattformen abhängig zu machen und ebenfalls ihre Kundenschnittstellen zu verlieren. Wenn sich Bürger*innen Informationen über lokale Freizeit- und Kulturangebote über globale Plattformen besorgen, wird nur noch nach kommerziellen Kriterien entschieden, was einem vorgeschlagen wird. Wenn dann auch noch Zahlungen nur noch über globale Plattformen erfolgen, wird die digitale Identität der Bürger*innen zunehmend über deren Accounts bei den globalen Plattformen bestimmt („Login mit Google“, „Login mit Facebook“). Die Acatech-Initiative „European Public Sphere“ hat darauf hingewiesen, dass dies dazu führen kann, dass der Staat auch in originären Aufgaben unterlaufen wird, insb. in der Sicherstellung einer (digitalen) Identität seiner Bürger*innen. Google-Login oder Apple-ID können wichtigere Nachweise persönlicher Identität werden als der staatliche Personalausweis.

Damit verbunden ist das Problem des Rosinenpickens bei Leistungen der Daseinsvorsorge. Wenn es globale Plattformunternehmen schaffen, die Kundenschnittstellen in der Daseinsvorsorge zu übernehmen, werden kommunale Unternehmen überall dort verdrängt, wo margenträchtige Geschäftsfelder liegen. Dienstleistungen werden von den Internetunternehmen gezielt nur noch dort angeboten, wo sie sich rechnen, die Ideen einer allgemeinen Versorgung und einer Gemeinwohlorientierung gehen verloren. Im Ergebnis werden viele der heutigen, kommunalen Leistungen nicht mehr finanzierbar sein und entfallen oder deutlich teurer werden. Das trifft insbesondere Bevölkerungsgruppen, die für die Digitalkonzerne keine attraktiven Kunden sind. Ein offensichtliches Beispiel dafür sind die privaten Ride-Sharing-Dienste, die ihre Dienste vor allem in den wirtschaftlich attraktiven Innenstädten großer Städte anbieten, selten aber auf dem flachen Land. Ökonomisch effizient wäre genau das Gegenteil.

Chancen ergreifen

Können die europäischen Kommunen dem etwas entgegensetzen? Ja!

Die Kommunen müssen die Chancen der Digitalisierung nun beherzt ergreifen und ihre Stärken der lokalen und demokratischen Verankerung sowie der Verknüpfung von Dienstleistungen ausspielen. Digitale Technologien haben ein sehr großes Potential, kommunale Dienstleistungen radikal zu reformieren und dabei bürgerfreundlicher und effizienter zu gestalten. Kommunen müssen die „Digitale Daseinsvorsorge“ unter eigener Kontrolle vorantreiben und dabei ihre Gemeinwohlorientierung behalten. Sie müssen die digitalen Zugänge zu ihren Leistungen bündeln und den Bürger*innen digitale Identitäten anbieten. München beispielsweise treibt das mit dem „M-Login“, den schon fast 800.000 Bürger*innen nutzen, erfolgreich voran.

Wenn kommunale Dienstleister im Wettbewerb gegen die globalen Plattformanbieter erfolgreich sein wollen, müssen sie aber auch Skalenvorteile durch interkommunale Kooperationen heben und föderale Strukturen schaffen, um auf höheren Ebenen Kompetenzen zu bündeln. Zusätzlich müssen sie vor Ort in verstärkte Kooperation, auch mit lokalen KMU, gehen (economies of scope) und vor allem schnell sein. Interoperabilität ist dabei stets anzustreben und gemeinsame Standards (APIs, Datenaustauschformate etc.) sind zu nutzen.

Wenn die Kommunen und kommunalen Unternehmen dies nun rasch und beherzt vorantreiben, haben sie gute Chancen, die Verdrängung durch globale Plattformunternehmen zu verhindern. Die Digitalaktivitäten kommunaler Unternehmen können aber auch einen Beitrag zu einer europäischen Initiative leisten, damit Europa beim Thema Plattformen wieder aufholt. Ein kommunaler Bottom-Up-Ansatz kann einen europäischen Top-Down-Ansatz gut ergänzen. Dazu braucht es eine rasche europäische Anstrengung den Rückstand bei Software, Plattformen und Digitalunternehmen aufzuholen. Dies erfordert mehr als Regulierung. Es erfordert aktive Industriepolitik und zuvorderst einen starken Digitalkompetenz-Aufbau in der öffentlichen Verwaltung auf allen Ebenen. Ziel muss es ein, dass in der öffentlichen Verwaltung die IT-Kompetenz auf das gleiche Niveau kommt wie die juristische Kompetenz.

Aber auch in der Regulierung ist noch einiges zu tun. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Politik ein „Level Playing Field“ von kommunalen und privaten Unternehmen insbesondere bei Leistungen im Wettbewerb sicherstellt. Das betrifft Themenfelder wie Vergaberecht, Kommunalrecht (und damit eingeschränkte Skalierungsfähigkeit digitaler Geschäftsmodelle), PSI-Richtlinie/Open Data etc., die Wettbewerbsnachteile gegenüber privaten Digitalunternehmen darstellen.

Bürger*innen erwarten von Kommunen und kommunalen Unternehmen grundsätzlich ein hohes Maß an Sensibilität im Umgang mit personenbezogenen Daten. Bei Regulierungen zu Datenschutz sollte die EU eigene Maßstäbe setzen und auf strenge Regeln setzen. Dabei sollte die öffentliche Hand auch ihre Marktmacht nutzen, um Standards durchzusetzen. Die Hoheit über personenbezogene Daten, die bei der Erbringung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge entstehen, muss bei den jeweiligen Bürger*innen bleiben; die Hoheit über sonstige Daten aus der Daseinsvorsorge und aus dem öffentlichen Raum muss bei den Kommunen liegen.

Mit unternehmerischer Initiative von Kommunen und kommunalen Unternehmen, flankierender Anpassung der Regulierung und geeigneter europäischer Industriepolitik kann es gelingen, den globalen Plattformunternehmen ein europäisches Modell entgegenzusetzen, das seine Kraft aus traditionellen Stärken Europas zieht: Dezentralität, Unternehmergeist und starke Kommunen.

 

Prof. Dr. Florian Bieberbach

 

Anmerkung: Dieser Artikel basiert in Teilen auf den Ergebnissen einer Veranstaltung der Stadtwerke München mit dem Bayerischen Städtetag, dem Verband kommunaler Unternehmen, der Gewerkschaft Verdi, der Landeshauptstadt München, Digitale Stadt München e.V. und dem Zentrum Digitalisierung Bayern am 19.1.2021