Auch ohne Corona stellen die Alterung der Bevölkerung, der digitale Wandel und die zunehmende Rolle Chinas in der Weltwirtschaft die heranwachsende Generation vor große Herausforderungen. Deshalb müssen wir alle Kinder und Jugendlichen mit einem Fundament an Kompetenzen ausstatten, das sie dazu befähigt, eigenverantwortlich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und von den Chancen neuer Technologien und offener Märkte zu profitieren. Gute Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen sind der Schlüssel für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft.

Darum ist es verheerend, dass Kinder, Jugendliche und Familien von der Coronakrise wohl am stärksten belastet werden. Trotz anderslautender Beteuerungen wurden ihre Belange bei Lockdown-Entscheidungen und Hilfspaketen immer wieder hintenangestellt. Mittlerweile sind viele Kinder seit Beginn der Pandemie 25 Schulwochen nicht in der Schule gewesen. Das entspricht zwei Dritteln (!) eines normalen Schuljahres von 38 Schulwochen.

Wie verbrachten Schulkinder die Schulschließungen?

Was das für die Kinder und Jugendlichen bedeutet, zeigen die Ergebnisse von zwei groß angelegten repräsentativen Elternbefragungen, die wir vom ifo Zentrum für Bildungsökonomik in den beiden Phasen der flächendeckenden Schulschließungen im Frühjahr 2020 und Anfang 2021 durchgeführt haben. Während der Schulschließungen Anfang 2021 haben Schulkinder durchschnittlich 4,3 Stunden täglich mit schulischen Aktivitäten verbracht. Das ist zwar eine knappe Dreiviertelstunde mehr als während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber immer noch drei Stunden weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona. Besonders bedenklich ist, dass fast jedes vierte Kind sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit Schule beschäftigt hat. Mit 4,6 Stunden pro Tag haben Schulkinder mehr Zeit mit passiven Aktivitäten wie Fernsehen, Computer- und Handyspielen verbracht als mit Lernen.

Anfang 2021 hatte etwa ein Viertel der Schüler*innen täglich gemeinsamen Unterricht für die ganze Klasse (z.B. per Video), im Vergleich zu 6% im Frühjahr 2020. Jedoch haben immer noch zwei von fünf Schüler*innen nur maximal einmal pro Woche Videounterricht. Statt regelmäßigem Austausch mit Lehrkräften und Klassenkamerad*innen ist ihr Schulalltag fast ausschließlich vom eigenständigen Erarbeiten von Unterrichtsstoff zu Hause geprägt.

Die Mehrzahl der Eltern schätzt das Lernen zu Hause im Vergleich zum Lernen in der Schule als weniger effektiv ein. Die berichteten Lernzeitverluste dürften den tatsächlichen Wissensverlust also deutlich unterschätzen. Insgesamt denkt eine deutliche Mehrheit der Eltern, dass ihr Kind während der Schulschließungen viel weniger gelernt hat als sonst. Rund die Hälfte der Kinder hat beim Lernen zu Hause Konzentrationsschwierigkeiten und kommt häufig nicht weiter. Demgegenüber scheint die technische Ausstattung bei den meisten Kindern nicht der beschränkende Faktor zu sein. Zum Beispiel haben nur 5% der Kinder nie die Möglichkeit, einen Computer oder Tablet fürs Homeschooling zu nutzen.

Für die Hälfte der Kinder war die Situation Anfang 2021 eine große psychische Belastung – deutlich mehr als während der ersten Schließungen (38%). Mit 40% geben auch deutlich mehr Eltern an, dass sie sich mit ihrem Kind mehr gestritten haben als sonst. Für drei Viertel der Kinder war es eine große Belastung, nicht wie gewohnt Freund*innen treffen zu können. Im Einklang damit berichtet mehr als die Hälfte der Eltern, dass die Schulschließungen den sozialen Fähigkeiten ihres Kindes geschadet haben. Ein knappes Drittel gibt zudem an, dass ihr Kind während der Corona-Pandemie z.B. wegen Bewegungsmangel an Körpergewicht zugenommen hat. Einzige Lichtblicke: Eine Mehrheit der Eltern gibt an, dass ihr Kind durch die Schulschließungen gelernt hat, sich eigenständig Unterrichtsstoff zu erarbeiten und mit digitalen Technologien besser umzugehen.

Insgesamt sind die Ergebnisse der Untersuchungen durchaus ernüchternd und lassen hohe Lernverluste befürchten. Zudem sind benachteiligte Kinder besonders betroffen: Nicht-Akademikerkinder erhalten seltener Online-Unterricht und haben – wie auch leistungsschwächere Kinder – weniger individuellen Kontakt zu ihren Lehrkräften. Auch die Effektivität des Lernens zu Hause wird bei leistungsschwächeren Kindern und Nicht-Akademikerkindern deutlich geringer eingeschätzt. Nur ein geringer Teil der Schüler*innen hat an Fördermaßnahmen teilgenommen, um entgangenen Schulstoff nachzuholen – zum Beispiel 4% an Ferienkursen und 10% an Förderunterricht, bei Nicht-Akademikerkindern noch deutlich weniger. Die Bildungsungleichheit dürfte sich durch die Corona-bedingten Schulschließungen weiter verschärfen. Insgesamt zeigt die große Heterogenität, wie verschiedene Kinder und Jugendliche mit dem Homeschooling klarkommen, dass man von Einzelerfahrungen im Homeschooling nicht auf die Gesamtsituation verallgemeinern kann.

Ökonomische Folgen

Die berichteten Ergebnisse zeigen, dass die Coronakrise eine extreme Belastung für die kognitive, psychische und soziale Entwicklung vieler Kinder und Jugendlicher ist. In einer ökonomischen Perspektive lassen sich in Modellrechnungen auch die ökonomischen Folgen der Lernverluste grob abschätzen. Um die Lernverluste zu quantifizieren, zeigt eine niederländische Studie, dass die Schüler*innen im Durchschnitt 20 Prozent eines Schuljahres weniger gelernt haben, was eins zu eins den dort nur acht Wochen andauernden Schulschließungen entspricht. Bei uns waren die Schulen deutlich länger geschlossen, und wir hatten eine weit schlechtere Infrastruktur für digitales Distanzlernen. Zahlreiche Erkenntnisse aus der Forschung legen nahe, dass einmal ausgefallene Schule nicht leicht wieder aufgeholt werden kann.

In der empirischen Wirtschaftsforschung gibt es kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf wirtschaftlichen Wohlstand. Im Durchschnitt geht ein Verlust von dem, was man etwa in einem Drittel Schuljahr lernt, langfristig mit rund 3 Prozent niedrigeren Erwerbseinkommen im Lebensverlauf einher. Fallen die Lernverluste größer aus, so ist mit entsprechend größeren Einkommensverlusten zu rechnen. Wenn wir nicht massiv gegensteuern und möglichst viel der Lernverluste aufholen, dürfte es also zu massiven Einkommensverlusten kommen.

Weil Wachstum letztlich auf technologischen Fortschritt basiert, der von einer hochgebildeten Bevölkerung abhängt, kann Bildung gesamtwirtschaftlich deutlich größere Effekte haben als die individuellen Einkommenseinbußen. Mathematisch-naturwissenschaftliche Basiskompetenzen sind der wohl bedeutendste Bestimmungsfaktor des langfristigen volkswirtschaftlichen Wachstums und damit des Wohlstands einer Gesellschaft. In Wachstumsprojektionen lässt sich ein Szenario modellieren, in dem zwölf Jahrgänge die Kompetenzen eines Drittel Schuljahres verlieren. Die Wachstumseinbußen in einem solchen Szenario entsprächen bis zum Ende des Jahrhunderts (Lebenshorizont eines heute geborenen Kindes) einem durchschnittlich 1,5 Prozent niedrigeren Bruttoinlandsprodukt, was für Deutschland über 2 Billionen Euro bedeuten.

Bildungspolitische Prioritäten

Aus den berichteten Befunden ergibt sich dringender politischer Handlungsbedarf. Wir müssen unsere gesellschaftlichen Prioritäten endlich wieder richtig setzen: Wo immer infektiologisch machbar müssen die Kinder und Jugendlichen wieder in die Schule dürfen – natürlich unter allen Schutz- und Hygienemaßnahmen und mit regelmäßiger Testung.

Wo Schulschließungen unvermeidbar sind, sollten kurzfristig endlich universelle und verbindliche Konzepte für täglichen Online-Unterricht per Videokonferenz für alle Schüler*innen vorgegeben und umgesetzt werden. So haben die Kinder und Jugendlichen geregelte Strukturen, sehen regelmäßig ihre Mitschüler*innen und bekommen von ihren Lehrkräften den Lernstoff vermittelt, den sie dann in Phasen des selbständigen Arbeitens einüben können. Die Rahmenbedingungen dazu, insbesondere rechtssichere und datenschutzkonforme Videokonferenzlösungen, sollten von den zuständigen Ministerien einheitlich vorgegeben werden. Die Konzepte sollten besonders darauf ausgerichtet sein, leistungsschwächere Schüler*innen und Kinder aus bildungsfernen Familien zu unterstützen. Die Durchführung üblicher Test- und Prüfungsverfahren auch im Distanzunterricht dürfte dazu beitragen, die Kinder und Jugendlichen zum Lernen zu motivieren.

Schon vor der Coronapandemie hinkte Deutschland bei der Digitalisierung der Schulen und der Nutzung digitaler Technologien im Unterricht weit hinter anderen Ländern her. Deshalb sollte die Politik mit hoher Priorität in qualitativ hochwertige digitale Bildung investieren. Dazu gehören Investitionen in die Breitbandinfrastruktur, um eine flächendeckende Teilnahme am Distanzunterricht mit Videoverbindung zu ermöglichen. Verbleibende Lücken beim Zugang zu digitalen Geräten und guten Internetverbindungen sollten schnell geschlossen werden. Wir brauchen Investitionen in anwendungsorientierte Konzepte für eine qualitativ hochwertige Nutzung digitaler Technologien und in adaptive Lernsoftware, die sich an den jeweiligen Lernstand der Schüler*innen anpasst und sie so individuell fördern kann. Das pädagogische Personal sollte für den professionellen Einsatz digitaler Medien geschult und unterstützt werden.

Bund und Länder sollten umfangreiche finanzielle Mittel für Fördermaßnahmen für benachteiligte Kinder und Jugendliche bereitstellen, um die durch die Schulschließungen entstandenen Bildungsdefizite aufzuholen. Die Maßnahmen müssen besser als bisher auf leistungsschwächere Schüler*innen und Kinder aus bildungsfernen Schichten konzentriert werden. In den Schulen sollten flächendeckend Förderunterricht am Nachmittag und Ferienprogramme angeboten werden, für die ggf. Lehramtsstudierende als zusätzliches Personal rekrutiert werden sollten. Darüber hinaus sollte in umfangreiche außerschulische Zusatzangebote wie Nachhilfeunterricht und studentische Mentor*innen investiert werden, die den zurückgefallenen Schüler*innen individuell helfen.

Die Forschung hat allerdings gezeigt, dass Geld allein noch nicht zu besseren Ergebnissen führt. Damit die Mittel auch effektiv eingesetzt werden, sind zum einen Strukturreformen im föderalen System und vereinfachte Verwaltungsabläufe notwendig, die die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden klarer regeln. In einer Praxis der verbindlichen Kooperation sollten sich die Länder stärker koordinieren und gemeinsame Standards setzen.

Zum anderen sollte der Bund gekoppelt an die bereitgestellten Digitalisierungs- und Fördermittel einfordern, dass die Länder in einem Staatsvertrag gemeinsame Zwischen- und Abschlussprüfungen einführen. Wenn einheitliche Prüfungen das Erlernte deutschlandweit überprüfen, besteht ein verbindliches Ziel, auf das sich Lehrkräfte und Schüler*innen vorbereiten müssen. In einem gemeinsamen Kernabitur sollten in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch deutschlandweit Prüfungsbestandteile gemeinsam durchgeführt werden. Transparenz und Vergleichbarkeit würden Qualität und Schülerleistungen erhöhen und zu bundesweit hinreichender Studierfähigkeit und fairem Hochschulzugang beitragen. In den anderen Schulabschlüssen und in Zwischenprüfungen ausgewählter Jahrgangsstufen sollten ebenso bundesweite Prüfungsbestandteile eingeführt werden.

Zukünftiger Wohlstand und Chancengleichheit in unserer Gesellschaft hängen davon ab, dass alle Kinder und Jugendlichen eine hervorragende Bildung erhalten. Wenn uns das nicht gelingt, verspielen wir die Zukunft unserer Jugend.

 

 Prof. Dr. Ludger Wößmann