Zur europäischen KMU-Politik

Die Corona-Pandemie fordert nunmehr seit über einem Jahr Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in allen europäischen Staaten heraus. Doch auch wenn aktuell vorrangig die Auswirkungen der Pandemie unser aller Alltag bestimmen, sind sie nicht die einzige Herausforderung, auf die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in den EU-Ländern Antworten finden müssen: Digitalisierung, Umwelt- und Klimaschutz sowie weltweite protektionistische Tendenzen wirken sich auf die unternehmerische Tätigkeit aus. Vertrauens- und Demokratiekrise erschweren die Gestaltung der (wirtschafts-)politischen Arbeit in einzelnen europäischen Staaten.

Durch die Corona-Krise sind diese Transformationsprozesse beschleunigt worden. Unabhängig davon ergeben sich in Folge der Corona-Pandemie jedoch auch neue Optionen für die EU-Staatengemeinschaft: Eine davon ist es, eine zukunftsweisende KMU-Politikstrategie für Europa zu entwickeln.

Klare Vorteile des EU-Binnenmarkts

Der erste Teil-Lockdown im Frühjahr 2020, im Zuge dessen auch die nationalen Grenzen geschlossen wurden, hat deutlich vor Augen geführt, wie vernetzt die europäische Wirtschaft ist: Von einem Tag auf den anderen brach für sehr viele mittelständische Unternehmen der Binnenmarkt weg. Für die Unternehmen in fast allen Mitgliedstaaten ist dieser jedoch der mit Abstand wichtigste Absatz- und Beschaffungsmarkt und die Hauptzielregion für Direktinvestitionen.

Vorrangig scheint vor allem die deutsche Exportwirtschaft hiervon zu profitieren: 85,1 % aller exportierenden deutschen Unternehmen sind in der EU aktiv. Blickt man jedoch auf den Anteil des EU-Binnenmarktes an den gesamten Exportvolumina, liegt Spanien (66,3 %) vor Frankreich (58,8 %) oder Deutschland (58,5 %). Dabei profitieren die Unternehmen nicht nur von der Größe des Binnenmarkts, sondern auch maßgeblich von den weitgehend harmonisierten (wirtschaftspolitischen) Rahmenbedingungen und Verfahren: Diese senken die Transaktionskosten und ermöglichen auch kleineren Unternehmen, Skaleneffekte sowie Produktivitäts- und Kostenvorteile zu realisieren. Hierdurch erhöht sich ihre Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Dem Binnenmarkt und der EU kommt daher eine bedeutende Funktion für die Erholung der mittelständischen Wirtschaft in allen Mitgliedstaaten zu.

Rahmenorientiert statt kleinteilig

Bislang wurden kleinere Unternehmen in der KMU-Politik der EU überwiegend aufgrund ihrer geringen Größe als bedürftig und defizitär dargestellt. Entsprechend beabsichtigen viele Unterstützungsmaßnahmen (vermeintliche) größenbedingte Nachteile von KMU abzufedern. Die Folge: Es werden häufig (Förder-)Maßnahmen für Probleme initiiert, die teilweise nur sehr kleine Zielgruppen betreffen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die KMU-Politik überwiegend nicht durch die Europäische Union, sondern durch die nationalen Regierungen umgesetzt wird. Trotz harmonisierter europäischer Normen werden daher die Maßnahmen oft von der jeweiligen nationalen Administration und Rechtsprechung unterschiedlich interpretiert, weil die einzelnen Mitgliedstaaten verschiedene, historisch begründete wirtschaftspolitische Leitbilder – beispielsweise im Hinblick auf die Rolle des Staates in der Wirtschaft – haben. Unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Zusammenwirkens von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erschweren zudem die Umsetzung der Maßnahmen. Es erstaunt daher kaum, dass immer noch viele Europäerinnen und Europäer der Europäischen Union weniger Bedeutung zusprechen als ihrem eigenen Nationalstaat.

Eine Wirtschaftspolitik für kleine und mittlere Unternehmen kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie von der jeweiligen Bevölkerung im Allgemeinen sowie den anvisierten Unternehmerinnen und Unternehmern im Besonderen akzeptiert – und bejaht wird. Dies kann am besten mit einer rahmenorientierten KMU-Strategie erreicht werden, die den besonderen Charakter von mittelständischen Unternehmen wertschätzt und deren Vielfalt würdigt: Kleine Tourismusbetriebe im Süden Europas zählen schließlich ebenso hierzu wie Start-ups in Berlin oder Riga sowie die Handwerksbetriebe, Handelsunternehmen, Dienstleister oder die mittelständischen Industrieunternehmen in den einzelnen EU-Staaten.

Eckpunkte für eine zukünftige KMU-Politik der EU

Mittelständische Unternehmen zeichnen sich durch unternehmerisches Denken und Handeln, Erkennen und Nutzen von (Markt-)Chancen, Kreativität, Flexibilität sowie verlässliche und zielgerichtete Zusammenarbeit mit verschiedenen Stakeholdern und soziale Verantwortung aus. Die europäische KMU-Politik sollte sich daher von der Erkenntnis leiten lassen, dass eine Vielzahl an kleinen und mittleren Unternehmen mit unterschiedlichen Ideen, Perspektiven und (kulturellen) Hintergründen wichtig ist, um auch in der innereuropäischen Interaktion und Kooperation unternehmerische Initiative und Lösungsbeiträge freisetzen zu können. Konkret bedeutet dies: Zukünftig sollte die KMU-Politik verstärkt auch den Aufbau von Kompetenzen, Innovationen und Kooperationen der mittelständischen Unternehmen unterstützen.

Hierfür ist jedoch eine stärker an den Rahmenbedingungen ausgerichtete europäische KMU-Strategie oberhalb der Ebene der Nationalstaaten hilfreich und sinnvoll. Auch gilt es, ein angemessenes Verhältnis zwischen Solidarität und (marktwirtschaftlicher) Eigenverantwortung im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten untereinander zu erzielen. Vergessen darf man aber auch nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger den EU-Binnenmarkt als vorteilhaftes, „faires“ Instrument wahrnehmen sollten. Dies setzt allerdings voraus, dass die unterschiedlichen Lebensrealitäten in den Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Dabei könnte es hilfreich sein, Unternehmerinnen und Unternehmer aus allen EU-Staaten für eine begrenzte Zeit in die Formulierung der Ziele und Inhalte der zukünftigen KMU-Politik einzubinden.

Damit der Binnenmarkt seine volle Dynamik entfalten kann, ist es darüber hinaus wichtig, dass bürokratische, regulatorische und protektionistische Hemmnisse konsequent beseitigt und zukünftig vermieden werden. Voraussetzung hierfür ist unter anderem, dass europaweit in den Verwaltungen eine moderne digitale Infrastruktur aufgebaut wird. Zugleich gilt es, in Cybersicherheit zu investieren und dem weltweit zunehmenden digitalen Protektionismus entgegenzutreten.

Das Wirtschaften unter Corona-Bedingungen zeigt deutlich auf, welchen Stellenwert die Digitalisierung mittlerweile bei der Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen sowie im Hinblick auf die vielfältigen grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen einnimmt. Diese Tendenz wird sich auch in der Post-Coronazeit nicht wieder umkehren. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert, wenn die Datenverkehrsfreiheit als fünfte Grundfreiheit in die Freizügigkeiten des Binnenmarktes aufgenommen würde. Damit würde sowohl die Bedeutung eines großen digitalen Binnenmarktes unterstrichen als auch ein deutliches Zeichen gegenüber außereuropäischen Staaten gesetzt, die in den vergangenen Jahren nach und nach digitale protektionistische Maßnahmen aufgebaut haben.

 

Prof. Dr. Friederike Welter