Es ist eine Zeitenwende für die Mobilität in Deutschland: Die drei wegweisenden Beurteilungen seitens Europäischer Union, Bundesverfassungsgericht und Berliner Charité innerhalb von wenigen Wochen werden Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und letztlich für das Leben aller Menschen haben. In einem nie dagewesenen Tempo, während die Branche der Covid-Krise trotzt und die ambitionierten Beschlüsse des Klimakabinettes umsetzt, ändern sich abermals die Rahmenbedingungen für den Verkehrssektor – und drängen uns in Deutschland dazu, umso dringender auf den Ausbau von Bus und Bahn zu setzen.
Charité, Verfassungsgericht und EU-Kommission
Die Berliner Charité legte Anfang Mai die Ergebnisse ihrer Studie zu der Frage vor, ob es Unterschiede beim Infektionsgeschehen zwischen den Verkehrsmitteln gäbe. In einem Satz: Das Infektionsrisiko in Bus und Bahn ist nachweislich genauso gering wie beim Auto- oder Radfahren. Die epidemiologische Unsicherheit für Fahrgäste ist damit ein gutes Stück geringer. Denn mit den Ergebnissen wurden die bisherigen (inter)nationalen Untersuchungen bestätigt, dass, bei Einhalten der bekannten Regeln, die Nutzung des ÖPNV unbedenklich ist.
Sie bilden die Basis, damit die Menschen mit einem besseren Gefühl in Bus und Bahn einsteigen können. Das ist auch mit Blick auf die beiden weiteren Entscheidungen wichtig: Das Bundesverfassungsgericht hatte am 29. April gesprochen, dass Klimaschutz justiziabel ist und im deutschen Klimaschutzgesetz keine ausreichenden Vorgaben für die Minderung der CO2-Emissionen ab 2031 gemacht wurden – kurz nachdem die EU am 21. April das bereits ehrgeizige Klimaschutzziel für 2030 nochmals verschärfte: Es wurde von gegenwärtig 40 auf 55 Prozent gegenüber 1990 angehoben. Damit erhöhen EU und BVerfG den Druck, die notwendige Mobilitätswende mit einem höheren Bus- und Bahnangebot zu forcieren.
Rettungsschirm ist politische Großtat
Hinzu kommt eine Großtat der Politik: Nach vertrauensvollen Gesprächen zwischen Bund, Ländern und dem VDV als Branchenverband wurde der ÖPNV-Rettungsschirm verlängert. Die Verluste durch fehlende Fahrgeldeinnahmen liegen in diesem Jahr bei etwa 3,6 Milliarden Euro. In den Pandemiemonaten des vergangenen Jahres belief sich der Schaden auf etwa 3,3 Milliarden Euro. Dank des 2020 beschlossenen Rettungsschirms in Höhe von fünf Milliarden von Bund und Ländern konnten die letztjährigen coronabedingten Verluste der Verkehrsunternehmen weitgehend ausgeglichen werden. Auch die Corona-Hilfen für den Bahn-Fernverkehr und die Güterbahnen sind gut investiertes Geld. Die Branche ist Bund und Ländern zu großem Dank verpflichtet – und dazu, bei der Mobilitätswende nicht nachzulassen.
Nach Befreiungsschlag wieder Fokus auf Mobilitätswende
Vor 14 Monaten waren Bus und Bahn am Tiefpunkt. 22 Jahre lang verzeichnete der ÖPNV bundesweit immer höhere Fahrgastzahlen. Doch im März 2020 sank die Fahrgastnachfrage coronabedingt gleichsam über Nacht auf zehn bis zwanzig Prozent des Vorkrisenniveaus. Die Folgemonate waren geprägt von einer beispiellosen Kraftanstrengung bei den Verkehrsunternehmen. Das Angebot wurde nahezu vollständig aufrechterhalten – als Teil der Daseinsvorsorge und systemrelevanter Teil der Wirtschaft – um diejenigen Krankenpfleger, Polizistinnen und Supermarkt-Kassierer an ihr Ziel zu bringen, die auf den ÖPNV angewiesen sind. Eines ist klar: Die Branche will, die Branche muss wieder zurückkommen. Der Bund hat sich zum Ziel gesetzt, dass der ÖPNV bis 2030 im Vergleich zu 2019 doppelt so viele Fahrgäste zum Ziel bringen soll. Hierfür haben die Verkehrsunternehmen pandemiebedingt kostbare Zeit verloren.
Neustart: Wiedereinsteiger gewinnen, Stammkunden halten
Je weniger coronabedingte Einschränkungen, desto höher die Fahrgastzahlen auch in der Pandemie – das spricht für das Vertrauen der Menschen in den ÖPNV. So glich die Entwicklung 2020 einer Berg-und-Tal-Fahrt: Zwar hatte sich der ÖPNV – nach dem Einbruch im Frühjahr – im Sommer 2020 auf einem hohen Niveau (rund 80 Prozent Bundesschnitt) eingependelt, doch Anfang 2021 standen Bus und Bahn mit 30 bis 40 Prozent wieder ungefähr da, wo sie zuletzt im März bis April-Mai 2020 waren. Die fehlenden Prozente ergeben sich daraus, dass sehr viele Leute in Kurzarbeit sind oder von zu Hause arbeiten.
Im zweiten Shutdown stieg ihr Anteil wieder – und es fehlten weiter die Anlässe: ohne Tourismus, Konzerte, Fußball und Freizeitangebote fehlen dem öffentlichen Personennahverkehr die Gelegenheitskunden. Derzeit liegen wir bei 50 bis 60 Prozent. Sobald die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich immunisiert sind müssen wir binnen Jahresfrist und soweit es geht wieder an die alten Fahrgastzahlen herankommen, sonst schaffen wir die Mobilitätswende nicht. Die Branche muss enorm aufholen, um an die Erfolge der Zeit vor Corona wieder anzuknüpfen. Die gute Nachricht: Unsere Stammkundschaft ist uns zu großen Teilen treu, das Vertrauen in Sicherheit und Leistung ist prinzipiell da. Hier setzt die bundesweite Wiedereinsteiger-Kampagne #BesserWeiter an.
HomeOffice-Effekt offen
Viel ist geschrieben worden zu den verkehrlichen Entwicklungen, die Corona gebracht hat. Dabei sollten wir unterscheiden zwischen pandemiebedingten Entwicklungen, die einen langfristigen Trend bestärkt haben und solchen, die durch die Pandemie-Beschränkungen notwendig wurden und sich abschwächen werden. Wie sich die Thematik um das Homeoffice weiterentwickelt, können wir noch nicht mit genügender Genauigkeit prognostizieren. Bäckerin, Handwerker und Apothekerin werden nicht permanent von zu Hause arbeiten können – dieser Effekt sollte daher nicht überschätzt werden. Zahlreiche Vor-Corona-Gewohnheiten werden zurückkommen. Vielleicht wird auf etwas höherem Niveau – gut für den Umweltverbund – Fahrrad gefahren, aber sicher nicht bei Schnee, Eis und Regen. Diejenigen, die derzeit mehr Pkw fahren, werden das nicht mehr in dem Maße tun, wenn sie wieder viel Zeit im Stau verlieren.
Mobilitätsanbieter für multimodale Budgets
Jetzt geht es um mehr Kapazität, mehr Qualität, mehr Flexibilität beim Angebot: Flexible und kombinierbare Angebote entsprechen inzwischen der alltäglichen Mobilität vieler Menschen. Darum müssen wir für alle Gelegenheitskunden und für die, die künftig vermehrt von zu Hause arbeiten, flexibler in unseren Angeboten und Tarifen werden. Statt sich auf ein Verkehrsmittel wie beispielsweise den Dienstwagen festzulegen, erhalten die Mitarbeitenden ein Budget für verschiedene Mobilitätsangebote. Dazu zählen beispielweise das steuerlich privilegierte Jobticket für den ÖPNV und Guthaben für Sharing-Angebote aller Art. Diese Form der multimodalen Mobilität ist nicht nur effizient und klimaschonend, sondern entspricht auch dem alltäglichen Bewegungsverhalten der Menschen. Parallel dazu können flexiblere Angebote – wie etwa ein Mobilitätsbudget – die jeweils individuelle Mobilitätssituation verbessern.
Klimakabinett Wegbereiter für Zeitenwende
Wohl selten standen die Zeichen so günstig für einen nachhaltigen Ausbau des ÖPNV und der Güterbahnen. Denn die Zeitenwende läutete das Klimakabinett des Bundes bereits Ende 2019 kraftvoll ein: Mit der Novelle der Gemeindeverkehrsfinanzierung steigen die Mittel erheblich – von bislang 333 auf 665 Millionen Euro, seit 2021 eine Milliarde Euro, ab 2025 sogar auf zwei Milliarden Euro – dynamisiert mit 1,8 Prozent jährlich. Auch die Regionalisierungsmittel wurden auf 5,2 Milliarden Euro bis 2031 erhöht, nicht zu vergessen die Entflechtungsmittel.
Auch das Planungsrecht wurde „beschleunigt“. Der Bund hat seine Hausaufgaben für diese Legislatur gemacht. Nun muss die Branche deutlich mehr planen und bauen, um die notwendigen Kapazitäten zu schaffen, damit der öffentliche Verkehr seinen Beitrag zur Klimawende leisten kann. Dazu benötigen wir einen langen Atem und wir müssen die Mittel auch bei einer pandemiebedingt verschlechterten Haushaltslage für die Branche dauerhaft sichern. Beim Planungsverfahren der „Standardisierten Bewertung“ gibt es noch Handlungsbedarf – so gibt es auch für die kommende Bundesregierung weiter viel zu tun. Der ÖPNV hat indes wieder die Rolle, die er bis Anfang 2020 bereits innehatte: die des Problemlösers beim Klimaschutz, bei der Luftreinheit und bei der Aufenthaltsqualität in unseren Städten. Wir sind verpflichtet, das in uns gesetzte Vertrauen als der wesentliche Treiber der Mobilitätswende zurückzuzahlen.
Ingo Wortmann