Warum Europa sich von Amerika emanzipieren muss

In der Weltgeschichte gab es immer wieder Zeitspannen mit besonders prägendem Einfluss. Das vor uns liegende Jahrzehnt ist eine solche Schlüsselperiode.

Leider beschränkt sich das Bewusstsein hiervon im laufenden Wahlkampf bisher weitgehend auf den Klimawandel. Die epochale Verlagerung der geopolitischen Gewichte von West nach Ost, von den USA nach Asien, speziell China, und was das für Deutschland und Europa bedeutet, spielt dagegen so gut wie keine Rolle. Dabei ist sie genauso tiefgreifend für unser aller Leben.

Die Weigerung der USA, die Macht mit anderen zu teilen und besonders ihre Konfrontationspolitik gegenüber China bedrohen die Globalisierung und den damit erreichten Wohlstand in der Welt. Mehr noch: Sie bringen die Gefahr eines neuen Kalten, ja womöglich sogar Heißen Krieges zwischen Amerika und seinen Verbündeten auf der einen und China sowie dessen Mitstreitern, allen voran Russland, auf der anderen Seite mit sich. Die Verschiebung in der globalen Topografie der Macht nach China und die Reaktion der USA darauf haben daher genauso viel Aufmerksamkeit verdient wie der Klimawandel. Ohne den Erhalt von Wohlstand und Frieden ist der Kampf gegen die Erderwärmung aussichtslos.

Die Welt sieht sich demnach mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert. Ob sie dabei Erfolg hat wird wesentlich auch von Europa mitbestimmt: Verharrt es im eingefahrenen transatlantischen Denkmuster und gibt dem dem Verlangen der USA nach, diese bei der Verteidigung ihrer globalen Vormachtstellung als Hilfssheriff zu unterstützen? Oder beherzigt es die Maxime des britischen Staatsmanns Viscount Palmerston, wonach Staaten „weder ewige Verbündete noch immerwährende Feinde“ haben, „ewig und immerwährend“ nur deren Interessen sind?

Ungeachtet der transatlantischen Wertegemeinschaft, die US-Präsident Joseph Biden bei seiner Europareise erneut beschwören wird, haben sich Europas und Amerikas Interessen in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter auseinander entwickelt. Für Europa impliziert dies die Notwendigkeit, sich vom „Großen Bruder“ jenseits des Atlantiks zu emanzipieren. Schon in der Präambel zum EU-Vertrag haben die beteiligten Staaten einst ihre Entschlossenheit zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik formuliert, „um so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken und Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und der Welt zu fördern.“ Es ist höchste Zeit, diesen Worten endlich konsequent Taten folgen zu lassen.

Bedauerlicherweise hat unter den Regierungschefs der EU bisher allein der französische Präsident Emmanuel Macron den Willen zur Emanzipation von den USA manifestiert. Obwohl Deutschland – allein schon aufgrund seiner starken wirtschaftlichen Verflechtung mit China – daran mindestens genauso interessiert sein müsste, stieß Macron damit in Berlin bisher nahezu rundum auf taube Ohren. Dem politischen Nachfahren von Charles de Gaulle wird dort unterstellt, seinem Land, das nach dem Brexit als einziges EU-Mitglied über Atomwaffen und einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verfügt, damit zu Lasten Deutschlands die eindeutige Führungsrolle in der Gemeinschaft verschaffen zu wollen. Das außenpolitische Establishment wie auch die Medien hierzulande sind ohnedies viel mehr atlantisch orientiert als das gaullistisch inspirierte Frankreich und gegenüber Washington von Dankbarkeit für Marshallplan, Berliner Luftbrücke und Wiedervereinigung geprägt.

Auch Dankbarkeit und Wertegemeinschaft haben jedoch ihre Grenzen. Zum einen sind Werte des Westens nicht die Werte des Westerns. Zum anderen bedeutet Emanzipation von Amerika weder Undankbarkeit noch Untreue, Lagerwechsel oder gar Gegnerschaft. Sie bedeutet nur die Unabhängigkeit, die eigenen Interessen verfolgen zu können, Herr des eigenen Schicksals zu sein, und ein Ende der „demokratischen Aporie“ bei der die Völker Europas zwar ihre Führer souverän wählen, diese aber in zentralen außenpolitischen Fragen „nichts mehr entscheiden können“, wie es Macron einmal ausdrückte. Der Wechsel von Donald Trump zu Joseph Biden im Weißen Haus hat daran nichts geändert. Diener bleibt Diener, auch wenn die neue Herrschaft weniger rüde mit ihm umgeht.

Die Emanzipation Europas von Amerika ist demnach nicht nur ein Akt der Vernunft sondern auch ein demokratischer Akt, ja letztlich sogar ein Akt der Freundschaft. Denn nur ein Amerika, das Freiheit, Chancengerechtigkeit und Demokratie nicht nur im Munde führt, sondern national wie international auch praktiziert, das Völkerrecht respektiert, aufhört seine Macht zu missbrauchen und anderen Ländern mit wirtschaftlichen Sanktionen oder militärischer Gewalt (-androhung) seinen Willen aufzwingen und sein eigenes Gesellschaftssystem überstülpen zu wollen, verdient rund um die Welt Respekt. Nur ein Amerika, das aufhört Billionen und Aber-Billionen Dollar für Rüstung und endlose Kriege auszugeben und sich stattdessen um Life, Liberty and the pursuit of happiness“ seiner Bürger, aller seiner Bürger, kümmert, wird dem Auftrag seiner großartigen Verfassung gerecht.

Schon vor Jahren warnte der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski die Politiker in Washington, dass die Welt „einer Konzentration von hegemonialer Macht in den Händen eines einzigen Staates auf lange Sicht immer weniger Sympathie“ entgegenbringe. Amerika sei daher „nicht nur die erste und einzige wirkliche globale Supermacht, sondern wahrscheinlich auch die letzte.“ Und in einem „Come home, America?“ überschriebenen Beitrag in Amerikas führender außenpolitischer Zeitschrift „Foreign Affairs“, riet der einflussreiche Harvard-Professor Graham Allison denselben Adressaten, ihre „Grundauffassung  von der Rolle Amerikas in der Welt“ zu überdenken und „den Globus mit anderen Mächten zu teilen“.

Menschen wie Nationen akzeptieren fundamentale Veränderungen allerdings meist erst dann, wenn sie sich dazu gezwungen sehen. Deutschland etwa hat zur Veränderung seines Selbstbilds zwei vernichtende Niederlagen in zwei Weltkriegen gebraucht. Zur Korrektur des amerikanischen Selbstverständnisses ist ein solcher Lernprozess für die Menschheit keine Option.

Verkürzen kann diesen Prozess allein Europa, Amerikas engster Freund und stärkster Verbündeter. Nur wenn Europa sich von Amerika emanzipiert besteht die Chance, dieses zu der Einsicht bewegen, dass es auch ihm am Ende zum Vorteil gereicht, von seinem Machtmonopolanspruch und der damit verbundenen bellizistischen Außenpolitik abzulassen, einen geordneten Rückzug anzutreten und führend am Aufbau einer multipolaren, das heißt demokratischeren und gerechteren Weltordnung mitzuwirken.

Die EU ist als Friedensprojekt entstanden und wurde dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Dies ist nicht nur Ehrung, sondern mehr noch Verpflichtung. Die vornehmste weltpolitische Aufgabe der EU muss die einer, nein der globalen Friedensmacht sein. „Gräben überwinden statt vertiefen“, so hat Willy Brandt einst das Ziel seiner Politik des „Wandels durch Annäherung“ gegenüber dem Sowjetblock beschrieben. Es ist das Ziel jeder vernünftigen Politik und Diplomatie. Ihr hat Deutschland nicht zuletzt seine Wiedervereinigung zu verdanken. Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte ist durch kritisch-konstruktive Zusammenarbeit, durch eine Politik der friedlichen Koexistenz und des friedlichen Wettbewerbs der Systeme besser gedient als durch Konfrontation gegenüber Andersgläubigen und militante Regimewechsel-Strategien.

Europas Friedensaufgabe besteht heute darin, die USA und China von einem Kurs abzubringen, der die gesamte Welt ins Verderben zu stürzen droht. Das kann jedoch nur gelingen, wenn es sich nicht länger als Brückenkopf zur Beherrschung Eurasiens und Hilfssheriff Washingtons bei der Verfolgung dessen hegemonialer Ziele im Rahmen der NATO hergibt, ein Verhältnis auf Augenhöhe etabliert und sowohl gegenüber Amerika wie China eine Außenpolitik verfolgt, die sich allein an seinen eigenen Interessen orientiert.

Demografische, wirtschaftliche und vor allem macht- und geopolitische Gründe ziehen Amerikas Aufmerksamkeit schon seit Jahren zunehmend vom Atlantik weg hin zum Pazifik. Diejenigen in Europa, die dem jetzt durch einen noch engeren Schulterschluss mit und Übernahme noch größerer Hilfsdienste für Washington begegnen wollen, begehen einen historischen Fehler. Sie verpassen nicht nur die Zukunftschancen, die sich durch die globale Gewichtsverschiebung gerade auch für unser Land und unseren Kontinent eröffnen. Nehmen diese Amerika einen noch größeren Teil seiner militärischen und sonstigen Hegemoniallasten ab, damit es sich ganz darauf konzentrieren kann, das aufstrebende China hinter sich zu halten, verstärkt es überdies auch die Bereitschaft zur Konfrontation. Verweigert es diese Lastenteilung dagegen und emanzipiert sich, erhöht es den Druck auf Washington von seinem Konfrontationskurs abzulassen, weil dieser zu teuer wird und statt in immer neue Waffen und Kriege künftig mehr in den Kampf gegen den Klimawandel gegen Armut und Ungleichheit zu investieren.

Findet Europa nicht bald die Kraft zur Emanzipation von den USA sind neben dem Klima auch unser Wohlstand, die europäische Idee und am Ende der Weltfriede in höchster Gefahr. Zeit für eine Europapolitik also, die ihren Namen verdient, weil sie wirklich Europa dient.

 

Stefan Baron

Am 15. März ist „Ami go home!: Eine Neuvermessung der Welt“ von Stefan Baron im Econ Verlag erschienen

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