Investitionen in die Zukunft oder Schwäbisches-Hausfrauen-Gedächtnis-Sparen?

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Die Bundestagswahl bringt einen politischen Wettstreit wie zuletzt vor 15 Jahren. Damals hätte ein Professor aus Heidelberg, von der Union als Finanzminister auserkoren, mit seinen neoliberalen Vorschlägen Angela Merkel fast die Kanzlerschaft gekostet. In diesem Herbst wird entschieden, ob mit der SPD die gesellschaftlichen Zukunftsmissionen kraftvoll angepackt werden oder ob CDU und CSU mit ihrem finanzpolitischen Dogmatismus zur Zukunftsbremse für Deutschland werden.

Die Kanzlerin scheint von der volkswirtschaftlich falschen Fiskalpolitik längst abgerückt. Der Vorstoß ihres Kanzleramtschefs Helge Braun, über eine Reform der Schuldenbremse nachdenken zu wollen, zeigt das deutlich. Doch das finanzpolitische Programm von CDU/CSU, von Merz bis Laschet, ist bis heute unverändert und so simpel, dass es auf einen Bierdeckel passt: Steuern runter für Spitzenverdiener und Unternehmen, keine Kreditfinanzierung. Die Zeche für diese Politik würden nahezu alle Schichten der Bevölkerung bezahlen. Mit Merz und Laschet kehrt der Bierdeckel zurück.

Man darf sich nicht täuschen lassen, wenn die Große Koalition in der Corona-Pandemie relativ geräuschlos umfassende und kreditfinanzierte Krisenmaßnahmen auf den Weg gebracht hat. Wäre es nach denen gegangen, die in CDU und CSU den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs bestimmen und teils um die Kanzlerkandidatur gerungen haben, hätte es Hilfen in dieser Höhe niemals gegeben.

Friedrich Merz, Fast-CDU-Vorsitzender und selbst ernannter Wirtschafts- oder Finanzminister, kritisierte die Maßnahmen gegen die Krise als „Ausgabenorgien“ und wollte alle staatlichen Ausgaben, Subventionen und soziale Transferleistungen „auf den Prüfstand stellen“. Markus Söder, CSU-Vorsitzender, plädierte vor dem Nachtragshaushalt 2020 für eine Obergrenze für neue Kredite. Demnach wäre bei 100 Milliarden Euro Feierabend gewesen, Krise hin, Krise her. Armin Laschet, inzwischen CDU/CSU-Kanzlerkandidat, pflichtete ihm ausdrücklich bei. Mitten in der Krise hätte man dann allen Betroffenen in Kurzarbeit, allen notleidenden Unternehmen und allen taumelnden Selbständigen den Boden unter den Füßen weggezogen. Dringend notwendige Investitionen, etwa für die Digitalisierung der Bildung, wären dem Rotstift zum Opfer gefallen. Und auch die Geschwindigkeit, mit der der Vorschlag von Helge Braun von führenden Unionspolitikern wie Fraktionschef Ralph Brinkhaus und Markus Söder zurückgepfiffen wurde, macht deutlich: Eine progressive und zugleich pragmatische Finanzpolitik gibt es nur mit der SPD.

Glücklicherweise hat sich die SPD durchsetzen können. Aus guten Gründen: Schon in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 waren es ein SPD-Finanzminister und SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz, die Deutschland mit kreditfinanzierten Konjunkturpaketen und Kurzarbeit gestärkt aus der Krise geführt haben. Als nun Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz den Haushalt 2021 mit knapp 500 Milliarden Euro vorlegte, um die größte Wirtschaftskrise seit dem zweiten Weltkrieg abzuwehren, war Angela Merkel klug genug, erneut auf ihren Koalitionspartner zu hören. Im aktuellen Haushalt sind gut 180 Milliarden Euro über Kreditaufnahmen finanziert – gut angelegtes Geld.

Die Corona-Pandemie führt uns täglich vor Augen, wie wichtig ein verlässlicher und starker Sozialstaat ist: bei der Gesundheitsversorgung, beim Katastrophenschutz, bei der Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Menschen und Unternehmen, bei Wissenschaft, Kultur, Bildung und Betreuung oder bei der digitalen Infrastruktur.

Aber schon im Jahr 1 v. Cor., also 2019, haben das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer Studie im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) gemeinsam und übereinstimmend festgestellt:

„Die öffentliche Hand in Deutschland hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten die eigenen Investitionen massiv vernachlässigt. Das Ergebnis ist ein öffentlicher Kapitalstock, der den Anforderungen einer modernen Volkswirtschaft nicht gerecht wird und nicht ausreichend ist, um den Herausforderungen durch den anstehenden demografischen Wandel und der – international zugesagten – Dekarbonisierung zu begegnen. Rechnet man die Erfordernisse in den Bereichen Bildung, Verkehr, Kommunikationsnetze und Dekarbonisierung zusammen, so kommt man auf zusätzlich notwendige gut 450 Mrd. € an öffentlichen Investitionen oder öffentlicher Investitionsförderung über die kommenden 10 Jahre, also rund 45 Mrd. € pro Jahr. Diese Summe ist volkswirtschaftlich gut zu schultern, es ist aber unrealistisch, diese Investitionen allein durch Umschichtung in den bestehenden Haushalten zu finanzieren. Deshalb sollten die Schuldenregeln im Grundgesetz um eine goldene Regel erweitert werden, die eine Kreditaufnahme im Umfang der Nettoinvestitionen erlaubt. Bis zur Umsetzung einer solchen Regel sollten Spielräume, etwa durch Extrahaushalte, genutzt werden. Wichtig ist darüber hinaus eine nachhaltige Entschuldung der Kommunen, die eine zentrale Rolle für öffentliche Investitionen, insbesondere bei der Verkehrsinfrastruktur spielen.“

„Der Analyse von IW und IMK zufolge steigert eine Erhöhung des staatlichen Infrastrukturbestands um 10 Milliarden Euro das Bruttoinlandsprodukt dauerhaft um rund 2,5 Milliarden Euro im Jahr.“ (vgl. BDI und DGB verlangen ambitionierte Investitionsoffensive der öffentlichen Hand, BDI und DGB verlangen ambitionierte Investitionsoffensive der öffentlichen Hand | DGB,  Studie-von-IW-und-IMK-Fuer-eine-solide-Finanzpolitik-Investitionen-ermoeglichen.pdf und Titel (bdi.eu)).

Bei der nächsten Wahl werden also die Weichen gestellt, ob unsere Gesellschaft stärker aus dieser Krise hervorgeht. Wir müssen sie deshalb als Chance nutzen, unser Land in den nächsten Jahren zu modernisieren und fit zu machen für die Zukunft. Mehrere große Missionen, wie Olaf Scholz die Aufgaben nennt, stehen an, für die große öffentliche Kraftanstrengungen notwendig sind: Wir müssen die Jahrhundertaufgabe Klimawandel zur Chefsache machen, mit wirtschaftlicher Innovation zukunftsfähige Arbeitsplätze erhalten und schaffen und diese Gesellschaft gerechter gestalten. Das schaffen wir nur mit groß angelegten Investitionen in Bildung, Digitalisierung, Energiewende, Mobilität und den starken Sozialstaat.

Um das bewältigen zu können, müssen wir Zukunftsaufgaben über rentierliche Kreditaufnahmen finanzieren und die höchsten Einkommen und Vermögen stärker zur gerechten Finanzierung heranziehen. Helge Brauns Vorstoß und der aktuelle Bericht des Stabilitätsrats zeigen, dass die Schuldenbremse gerade in Krisenzeit eine Zukunftsbremse sein kann und auch die nächsten Jahre zumindest ausgesetzt werden muss. Denn eines ist klar: Die Investitionen von heute sind die Arbeitsplätze, die lebenswerte Umwelt und die Zukunftsperspektiven der Generationen von morgen. Das können und müssen wir stemmen. Der Bierdeckel der Union bedeutet hingegen Stillstand. Den können wir uns schlicht nicht leisten.

Zusatz- und Schlussbemerkung:

Die Europäische Union ist nicht nur ein beispielloses Modell zur Friedenssicherung, sie ist zugleich Grundlage für das stark exportorientierte Wirtschaftsmodell Deutschlands und die wirtschaftliche Entwicklung in unseren Nachbarländern. Gerade das deutsche Nachkriegsmodell mit Länderfinanzausgleich und dem grundgesetzlichen Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse hat sich für die Bundesländer und den Bund gleichermaßen als Grundlage für Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum erwiesen. Auf derselben Linie liegt eine Fortführung und Vertiefung der europäischen Integration – in unserem eigenen und im Interesse unserer europäischen Partner. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass nur Solidarität statt Konkurrenz hilft. Um die großen Aufgaben der Zukunft (sozial-ökologischer Umbau, Konkurrenz mit anderen Wirtschaftsräumen) bewältigen zu können, brauchen wir eine stärker aufeinander abgestimmte Steuer-, Wirtschafts- und Investitionspolitik in und für Europa.

 

Michael Schrodi