Die Frage nach seiner Zukunft kann nur das Ruhrgebiet beantworten

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Stefan Laurin Journalist
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Wer sich die Frage nach der wirtschaftlichen Zukunft des Ruhrgebiets stellt, braucht gute Nerven und sehr, sehr viel Optimismus, um nicht zu verzweifeln.

Als auf Zeche Prosper-Haniel am 21. Dezember 2018 die letzte Tonne Steinkohle gefördert wurde, war damit nicht nur Deutschland aus der Kohleförderung ausgestiegen. Es war auch der Tag, als das Ruhrgebiet endgültig die, am Ende eher symbolische als reale Klammer verlor, die es zusammenhielt. Über Jahrhunderte prägten Bergbau und Stahl die Region, ja, schufen sie erst aus einer Ansammlung bedeutungsloser Dörfer und kleiner Städte. Seit spätestens diesem Tag haben sie alle keine gemeinsame Gegenwart mehr, sondern teilen nur noch eine gemeinsame Vergangenheit.

Das Ruhrgebiet ist kein Wirtschafts- sondern ein Problemraum. Die elf Großstädte und vier Landkreise, die ebenso locker wie gezwungenermaßen über den Regionalverband Ruhr miteinander verbunden sind, unterscheiden sich von ihrem Umland vor allem durch eine höhere Arbeitslosigkeit. Das Ruhrgebiet ist nicht mehr da, wo die Schlote qualmen, sondern wo die Menschen ärmer sind. Unter den Großregionen Deutschlands ist das Revier der Sozialfall.

Das ist ein Problem. Nicht nur für die Menschen, die in Stadtteilen wie Schalke-Nord in Gelsenkirchen, Duisburg-Marxloh oder Herne in heruntergekommenen Häusern ohne Perspektive leben, sondern für das Land Nordrhein-Westfalen. Das Ruhrgebiet hat gut fünf Millionen Einwohner. Fast jeder dritte Nordrhein-Westfale lebt hier und NRW würde in allen Statistiken deutlich besser abschneiden, wenn es das Revier mit seiner wirtschaftlichen Schwäche nicht gäbe: Ostwestfalen, das Münsterland und vor allem das Siegerland sind Hochburgen des Mittelstandes mit Industrieanteilen und Arbeitslosenzahlen wie in Bayern oder Baden-Württemberg. Münster, Köln und Düsseldorf sind boomende Städte, international bestens vernetzt und mit hoher Lebensqualität. Vergleichbares sucht man zwischen Ruhr und Lippe vergebens.

Seit Jahrzehnten ist das Ruhrgebiet der Mühlstein am Hals Nordrhein-Westfalens, der das Land in den Statistiken nach unten zieht. Egal welche Parteien im Land die Macht hatten, ganz gleich, wie viele Milliarden sie in die Region pumpten, das Ruhrgebiet kam und kommt nicht auf die Beine. Es ist gerade einmal gelungen, den vollkommenen Absturz zu verhindern.

Schaut man sich die Region genauer an, stellt man auch innerhalb des Ruhrgebiets große Unterschiede fest. Der schwierigste und ärmste Teil liegt grob gesehen nördlich der A40 und südlich der A2. Große Teile Duisburgs, Oberhausen, die Dortmunder Nordstadt, Essens Problemviertel Katernberg und Altenessen, Herne und fast ganz Gelsenkirchen befinden sich zwischen den beiden Autobahnen.

Ganz im Norden hingegen, in Dorsten oder Haltern, wo das Ruhrgebiet ins Münsterland übergeht, sind die Städte schmuck, ist der Wohlstand deutlich größer und die Probleme kleiner. Klar, ganz so wohlhabend wie in den angrenzenden Kreisen Coesfeld oder Borken ist man nicht, aber die Welt ist schon eine andere als in den Slums im Emschertal.

Bochum, Dortmund und Essen mit ihren Universitäten und Fachhochschulen, sehenswerten Kulturangeboten, bürgerlichen Stadtteilen und vielen Freizeitangeboten können zwar mit Köln, Berlin oder Hamburg nicht mithalten, aber hier liegt die Lebensqualität immerhin auf dem Niveau des unteren Mittelfelds deutscher Großstädte. Auch wenn die Wirtschaftsleistung noch niedrig ist, sind diese Städte auf einem guten Weg. Nein, nicht an die Spitze, aber raus aus dem Sumpf von Elend, Armut und Perspektivlosigkeit, in dem die meisten Städte des Ruhrgebiets langfristig verharren werden.

Warum das so ist? Das Ruhrgebiet ohne Kohle ist nur eine Goldgräbersiedlung ohne Gold, zu lange hielt man auch an den alten Industrien fest: Mit der Bodensperre sorgten Wirtschaft und Politik bis in die späten 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dafür, das ansiedlungswillige Unternehmen im Ruhrgebiet oft keine Flächen fanden: Ob Ford oder Henkel, sie konnten sich nicht im Revier niederlassen.

Andere Unternehmen, denen es gelang, sich anzusiedeln wie Nokia, Opel oder die Siemens mit seinen Telefonfabriken sind ebenso längst Geschichte, wie die Textilfabriken von Klaus Steilmann.

Es gab im ewigen Strukturwandel der Region natürlich auch Erfolge: Die Gründung der Universitäten und Hochschulen ab den 60er Jahren zum Beispiel. Heute gibt es im Ruhrgebiet 22 Hochschulen und 400 Studiengänge. Das ist nach den Werbebroschüren der Region die dichteste Hochschullandschaft Europas. Aus dem Umfeld der Hochschulen gründeten sich Unternehmen, sie wurden zu Wachstumszellen. Der Technologiepark Dortmund und das ehemalige Opel-Areal in Bochum sind Beispiele für diese Entwicklung. Hier haben sich Hightech-Unternehmen angesiedelt und viele Tausend Jobs geschaffen. Doch sie reichen für die fünf Millionen Menschen die immer noch in der Region leben nicht aus.

Das Ruhrgebiet ist heute die am wenigsten industrialisierte Region Nordrhein-Westfalens. Städte wie Herne haben noch einen Industrieanteil von neun Prozent, in Bochum sind es 15. Der Kreis Siegen kommt auf über 40 Prozent.

Ohne Industrie fehlen aber nicht nur Jobs in den Fabriken. Es fehlt auch an Ingenieuren und privater Forschung und Entwicklung. Dazu kommt, das die Zahl der Gründer unterdurchschnittlich ist.

Wundert es noch jemanden, dass das Ruhrgebiet während des fast zehn Jahre andauernden Booms den Abstand zu den anderen Regionen Deutschlands nicht verringern konnte? Sicher, auch hier ging die Arbeitslosigkeit zurück und wurden neue Jobs geschaffen – aber weniger als in allen anderen Ballungsgebieten und Großstädten Deutschlands. Das Ruhrgebiet ist in den vergangenen Jahren weiter zurückgefallen.

Das sind keine guten Ausgangsvoraussetzungen für die Zukunft.

Spitze ist das Ruhrgebiet wenn es darum geht, zu träumen. Es träumte von einer Zukunft als Standort von Medien-, Umwelt und Kreativwirtschaft. Es wollte Musicalstandort werden und ein touristischer Hotspot. Der neueste Traum heißt Wasserstoff. Er soll die neue Kohle werden, der Treibstoff, der das Ruhrgebiet antreibt und nicht nur das Revier träumt von dem chemisches Element mit dem Symbol H und der Ordnungszahl 1, ganz Deutschland tut es.

Wasserstoff kann im Ruhrgebiet nicht zu wirtschaftlichen Preisen erzeugt werden. Man muss ihn oder den Strom, mit dem man ihn herstellen will, importieren. Die Favoriten sind Island und Saudi-Arabien, auch Staaten der Levante kommen dafür in Frage. Mit diesem Wasserstoff soll dann bei ThyssenKrupp in Duisburg Stahl hergestellt werden. Technisch ist das anspruchsvoll, aber möglich. Die Umrüstung der Hochöfen auf Wasserstoff wird zehn Milliarden Euro kosten. Die Stahlindustrie ganz Europas auf Wasserstoff umzustellen kostet übrigens 100 Milliarden Euro.

Aber warum soll man Wasserstoff erst nach Duisburg bringen? Oder den Strom? Man könnte so ein Stahl-Werk auch in Israel, Ägypten oder im Libanon bauen. In Marokko, Spanien, Griechenland und natürlich in Italien. Oder den Wasserstoff dort produzieren.

Glaubt man Bill Gates, und vieles spricht dafür, dass es so kommt, wird Afrika die kommende Wachstumsregion. Der Umstieg auf erneuerbare Energien bevorzugen ohnehin den sonnigen Süden. Auch eine digitale Infrastruktur kann dort schnell und preiswert aufgebaut werden, Griechenland wird das in den kommenden Jahren tun.

Im digitalen Bereich abgehängt, eine unsichere und teure Energieversorgung, eine schleichende Deindustrialisierung, immer schärfere Auflagen – die wirtschaftliche Zukunft Europas und Deutschlands ist sicher nicht rosig. Besonders hart trifft eine solche Situation die Regionen, die bereits in der Krise stecken. Und zu denen gehört das Ruhrgebiet. Aber auch wenn man die Lage in Europa und in Deutschland optimistischer bewerten würde, hätte es das Ruhrgebiet schwer: Es muss eine Antwort auf die Frage finden, wozu es wirtschaftlich als größter Ballungsraum Deutschlands benötigt wird. Die Antwort auf die Frage könnte ebenso unangenehm wie schmerzhaft sein.

 

Stefan Laurin