Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss. Ein Buchauszug aus dem neuen Buch von Moritz Schularick

Die Kritik am deutschen Staat und seiner Leistungsfähigkeit war in der Corona-Pandemie außerordentlich scharf. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums diagnostizierte «Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten», und scheute sich nicht, in einem offiziellen Gutachten von «Organisationsversagen» zu sprechen.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus rief nach 16 Jahren Regierungsverantwortung seiner Partei zur Revolution auf, wobei man davon ausgehen darf, dass er damit keinen Regierungswechsel meinte. Die Virologin Melanie Brinkmann sprach von einer «intellektuellen Beleidigung», die britische «Financial Times» von der «Lachnummer Deutschland». Für Gabor Steingart herrschte in Deutschland ein «epidemisches Versagen», und YouTuber Rezo sah «Arbeitsverweigerung» und «Wissenschaftsfeindlichkeit».

Michael Halleg, Leiter der Intensivmedizin der Uniklinik Köln, brachte seine Kritik an der deutschen Corona-Politik bei Anne Will nüchterner, aber umso wirksamer auf den Punkt: «Viele Menschen leiden und sterben, ohne dass es nötig wäre.»

War diese Kritik nur ein (zu) lautes Aufregen, der Angst und Verunsicherung in der Pandemie geschuldet? Ist es einfach so, wie es Minister Jens Spahn ausdrückte, dass ein paar Fehler gemacht worden sind und wir uns am Ende alle viel verzeihen müssen? Oder dass «im Großen und Ganzen», wie Kanzlerin Angela Merkel formulierte, doch alles gut gelaufen sei? Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne. Am Ende der Pandemie wird Deutschland, wenn nichts Unvorhergesehenes mehr geschieht, trotz allem im internationalen Vergleich mit relativ niedrigen Opferzahlen durch die Pandemie kommen. Auch die Impfkampagne nahm im April an Fahrt auf, Deutschland wird mit etwa zwei Monaten Rückstand auf die Spitzenreiter die rettende Ziellinie der Herdenimmunität erreichen.

Alles halb so schlimm. In einer globalen Pandemie kann schließlich nicht alles auf Anhieb klappen. Wenn dem so wäre, dann bräuchte es dieses Buch nicht. Es gab zwar nicht nur Schatten, aber eben auch nicht besonders viel Licht. Insgesamt erinnerte die Performance eher an einen grauen Berliner Novembertag. Selbst wenn wir am Ende mit einem blauen Auge davonkommen, müssen wir verstehen, warum Deutschland durch die Krise gestolpert ist und was wir tun können, damit Staat und Gesellschaft in Zukunft krisenfester werden. Denn neue Herausforderungen werden kommen.

Der französische Philosoph Bruno Latour sieht in der Pandemie die «Generalprobe» für die kommenden Krisen im Zuge des Klimawandels und seiner komplexen Konsequenzen für Umweltsysteme, Gesellschaften und politische Ordnungen. Irreversible Eingriffe in den Ökohaushalt des Planeten werden nicht nur zu weiteren Naturkatastrophen, Pandemien und Dürren führen, sondern auch zu Migrationswellen und politischen Konflikten zwischen und innerhalb von Gesellschaften. Enorme politische und ökonomische Herausforderungen kommen auf uns zu, für die Corona nur der Probelauf war. Mehr als jemals zuvor werden wir in Zukunft die Fähigkeit brauchen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Die Fußball-Weisheit von Sepp Herberger gilt insofern in abgewandelter Form auch hier: Nach der Krise ist vor der Krise.

Die Generalprobe ging teilweise daneben, und dieses Buch fragt nach dem Wie und Warum. Es zeigt, was sich ändern muss, wenn wir bei den kommenden Herausforderungen besser reagieren wollen. Dabei geht es aus ökonomischer Perspektive nicht nur um die Schwächen des staatlichen Krisenmanagements und deren Ursachen. Auch aus gesellschaftlicher Sicht war der Testlauf holprig, und neue Risse sind sichtbar geworden. Es gab zwar Engagement, Rücksichtnahme und Solidarität. Aber es ist bisher nicht erkennbar, dass ein gerechter Ausgleich der Lasten zwischen Jung und Alt stattgefunden hat. Das Virus war vor allem eine Gefahr für die Alten, aber die Kosten der Pandemie trugen die jüngeren Generationen in Form von Doppelbelastung, Einkommensverlust, Jobunsicherheit und Schulausfall, während Rentner und Pensionäre finanziell ohne Einbußen durch die Krise gekommen sind.

In der Zukunft werden die Jungen nicht nur zusätzliche finanzielle Belastungen, sondern auch die Kosten des Bildungsausfalls zu tragen haben. Auch andere gesellschaftliche Konfliktlinien taten sich auf. Als Jürgen Habermas in den 1980 er Jahren von der «neuen Unübersichtlichkeit» sprach, hat wahrscheinlich nicht einmal er geahnt, wie viel unübersichtlicher die Welt 30 Jahre später sein würde. Dass bei sogenannten Querdenker-Demos Neonazis mit Reichskriegsflaggen Seite an Seite mit Regenbogen-Flaggen schwenkenden Hippies und Anthroposophen demonstrierten, sagt viel über die politische Unübersichtlichkeit der Situation aus.

Auch gesellschaftlich gab uns die Pandemie einen Vorgeschmack auf künftige Ungewissheiten. In Krisen zeigt sich, wie Staat und Gesellschaft mit unerwarteten Situationen umgehen. Sie sind ein Lackmus-Test für die Leistungsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit, eine Art Stresstest für das Gemeinwesen. Konfrontiert mit einem unerwarteten Schock zeigt sich, wie gut das System auf die Herausforderung reagiert. Wie bei einer Maschine, die plötzlich unter Hochdruck arbeitet, wird deutlich, wo das Material Risse zeigt, die Dichtungen versagen und das Öl heraussprudelt.

Es sind Momente, in denen es keine Anleitung zum Handeln gibt, in denen Handlungsalternativen unter Zeitdruck gegeneinander abgewogen werden müssen. Sie setzen Verwaltungsroutinen und das Institutionensystem unter Druck, auf die neuen Herausforderungen zu reagieren, ohne dass es eine Betriebsanleitung gibt. Deutschland tat sich schwer in dieser Situation. Es stand damit natürlich nicht allein, andere Länder hatten ebenfalls Probleme und machten Fehler. Aber können wir uns zurücklehnen, nur weil andere zum Teil schlechter agiert haben?

Zunächst brauchen wir dazu eine Diagnose, welche Teile der Maschine stotterten und was krisenfest war. Deutschland hat zwei unterschiedliche Pandemien erlebt. Eine erste Phase vom März 2020 bis zum Sommer, in der sich das Land relativ gut und erfolgreich geschlagen hat. Es konnte sich dabei weitgehend auf seine alten sozialstaatlichen Institutionen aus der Nachkriegs-Bundesrepublik verlassen. Natürlich lief nicht alles rund, aber das Gesundheitssystem hielt dem Ansturm des Virus stand und die Kurzarbeitsregelungen federten die Folgen für den Arbeitsmarkt ab. Der Finanzminister machte Konjunkturpolitik wie in den 1960er Jahren und stabilisierte die Wirtschaft.

Probleme gab es dort, wo der Sozialstaat Lücken hat: bei den kleinen Selbständigen, den Künstlerinnen und Künstlern sowie den Kulturschaffenden. Aber alles in allem funktionierte das System. Die sozialstaatlichen Institutionen wirkten als zuverlässige Schockabsorber. Im Sommer 2020 schaute die Welt auf Deutschland und seinen Sozialstaat als Erfolgsmodell. Aber schon ein halbes Jahr später war nur noch wenig Selbstzufriedenheit übrig. Die Untätigkeit des Sommers und Herbstes rächte sich. In der zweiten Phase der Krise ab dem November traten die Defizite deutlich zutage. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Verwaltung, die mangelnde Digitalisierung, vor allem aber die Probleme bei der politischen Entscheidungsfindung waren unübersehbar.

Zwar funktionierten Sozialstaat und Gesundheitssystem weiter, aber in der zweiten Phase schoben sich Fragen des aktiven staatlichen Handelns, der Planung und Risikoabwägung in den Vordergrund. Die Politik musste flexibel agieren und neue Lösungen finden, teilweise musste der Staat wie bei der Impfstoffproduktion und -beschaffung auch selbst ins Risiko gehen und unbekannte Wege beschreiten. Prioritäten mussten definiert, Strategien entwickelt und in einem sich rasch ändernden Pandemie-Umfeld dynamisch umgesetzt werden. Und hier liefen die Dinge im Großen und Ganzen nicht rund.

Der Staat war operativ nicht gut aufgestellt, den Verwaltungen und Ämtern fehlte es an Ausstattung und Organisationskraft, es mangelte an Testzentren, Computern und Software. Dem Staat fehlte auch die Wissensinfrastruktur in Form von Daten, Prozessen und Institutionen, in denen ein produktiver und geordneter Austausch zwischen Politik und Wissenschaft auf der Basis aktueller Informationen stattfinden konnte. Talkshows, die mehr und mehr zum geistigen Mittelpunkt der öffentlichen Debatte avancierten, waren dafür kein Ersatz. Es fehlte auch die Flexibilität im Denken und Handeln, um mit einer Ausnahmesituation umzugehen, für die es keine Betriebsanleitung gab. Die Ursachen hierfür liegen tief.

Vor gut 30 Jahren prägte der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck den eingängigen Begriff der «Risikogesellschaft». Im Jahr des Reaktorunfalls von Tschernobyl argumentierte er in seinem gleichnamigen Buch, dass moderne Gesellschaften im Zuge des ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritts zunehmend Risiken produzieren: Umwelt-verschmutzung, Erderwärmung, industrielle Risiken wie in Tschernobyl, ein immer komplexeres und störungsanfälligeres globales Wirtschafts- und Finanzsystem. Für Beck ist die moderne Welt dadurch gekennzeichnet, dass als Nebenprodukte des Fortschritts immer neue Risiken entstehen. Wir verstehen das und leben mit diesem Wissen. Wenn ein Risiko eintritt, wenn die Pandemie durchs Land zieht, dann sind wir wiederum auf Wissenschaft und Technik angewiesen, um die Auswirkungen zu managen. Wir müssen die Ausbreitung von Radioaktivität oder von Viren verstehen und in den Prozess eingreifen. Das wiederum birgt neue Risiken. So dreht sich das Risiko-Karussell immer weiter.

Die Covid-Pandemie hielt sich an das Drehbuch der Risikogesellschaft. Beck wurde zu Recht als «wichtigster Intellektueller der Pandemie» bezeichnet. Das Aufkommen des Covid-19- bzw. SARS-CoV-2-Virus in China war zu einem guten Teil auf menschliche Eingriffe in die Natur zurückzuführen und insofern eng mit der Urbanisierung im chinesischen Wirtschaftswunder verbunden. Auch die globale Ausbreitung des Virus durch Interkontinentalflüge und die schnelle Übertragung in dicht besiedelten Großstädten hatte mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt zu tun. Die globale Verflechtung von Wirtschaft und Menschen hat neue Risiken produziert – in diesem Fall die rasche Ausbreitung eines potentiell tödlichen Virus.

Dank der modernen Wissenschaft wurden bereits wenige Monate nach dem Ausbruch der Pandemie die ersten Impfstoffe entwickelt, die das Virus stoppen können. Ohne Zweifel ein Triumph der Wissenschaft. Aber diese Impfstoffe brachten auch wieder neue Risikoabwägungen: Sollte man einen Impfstoff anwenden, der bei 10 von 1 Million Menschen zu schweren Komplikationen führt, wenn gleichzeitig der Impfschutz viel mehr Menschen vor der Infektion bewahrt? Sollte man die Vakzine auch Bevölkerungsgruppen geben, für die noch keine Daten vorlagen, wie Schwangere, Alte und Kinder?

In der Risikogesellschaft findet sich der Staat in einer neuen, komplexen Rolle als Risikomanager wieder. Er muss etwa die Risiken für die Gesundheit und die Risiken für die Wirtschaft gegeneinander abwägen. Er muss handeln, obwohl die Unsicherheit groß ist. Letzte Sicherheit hat man nicht. Man muss sich mit Wahrscheinlichkeiten begnügen. Eine ähnliche Situation gab es schon in der ersten großen Krise des 21. Jahrhunderts, der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008. Die Risiken gingen damals von einem hochkomplexen und eng verflochtenen internationalen Finanzsystem aus, in dem Entwicklungen auf dem US-Immobilienmarkt zu massiven Schieflagen von Banken in Düsseldorf, Dublin und Dubai führten. Ein immer komplexeres System hatte eine unvorhergesehene Dynamik produziert.

Damals wie heute führte die Reaktion auf die erste Krise zu neuen Risiken: Erst wurden Banken mit Staatsgeldern gestützt, um die Volkswirtschaften vor den Konsequenzen von Bankenzusammenbrüchen zu retten. Wenig später brachte die Bankenrettung einige Staaten selbst in Schwierigkeiten, was zu neuen Interventionen führte. In der Pandemie wurde der Staat zu einem proaktiven Risikomanager, der auf der Grundlage von unsicherem Wissen einen Weg durch die Krise finden musste. Sollte man große Teile der Bevölkerung zunächst nur einmal impfen, um die Ausbreitung zu stoppen, obwohl die Zulassungsstudien des Impfstoffs eine zweimalige Impfung vorsehen? Oder erstmal nur besonders gefährdete Gruppen, obwohl das die Ausbreitung nicht wirksam verlangsamt? Oder auch: Ist ein kurzer, aber extrem scharfer Lockdown mit dem Ziel, die Inzidenz fast auf null zu bringen, ökonomisch und sozial sinnvoller als der Versuch, «mit dem Virus zu leben»?

Für seine Rolle als Risikomanager, so die Kernthese dieses Buches, ist der deutsche Staat bislang schlecht gerüstet. Deutschland, seine Institutionen und seine Politiker sind insofern noch nicht in der Risikogesellschaft angekommen. In der Pandemie führten Schwächen in der Risikoeinschätzung und der Entwicklung von Strategien wiederholt zu Problemen: Dies betrifft den mangelnden Einsatz ökonomischer Expertise etwa bei Fragen der Impfstoffbeschaffung und Vertrags-gestaltung, aber auch Fehleinschätzungen bei Lockdown-, Test- und Impfstrategien. Im Rückblick waren viele der Entscheidungen nicht optimal, wie wir sehen werden. Wenn es sich um Einzelfälle handelte, würde es ausreichen, zu erklären, was jeweils schieflief. Aber es gibt ein Muster, das auf ein tieferliegendes Problem hindeutet. Wir brauchen eine andere organisatorische und intellektuelle Infrastruktur, um mit künftigen Herausforderungen besser umzugehen. Vater Staat braucht ein Upgrade. Er braucht bessere Daten und eine bessere Vernetzung mit der Wissenschaft. Er braucht auch ein anderes Mindset: mehr Dynamik, den Willen zum Handeln und das Selbstvertrauen zu erkennen, dass manchmal auch unkonventionelle Lösungen zum Erfolg führen können.

Wir sind nicht gut auf das vorbereitet, was auf uns zukommt. Das ist vielleicht das größte Problem, das die Krise offenbart hat. Die Enttäuschung und der Vertrauensverlust in die staatliche Leistungsfähigkeit kommen zur Unzeit. Wie soll ein Staat, der es in einem Jahr nicht schafft, Lüfter in Klassenzimmer seiner Schulen einzubauen, den komplexen ökologischen Umbau der gesamten Volkswirtschaft steuern und neue Konzepte für Mobilität, Wohnen und Energie begleiten und durch Investitionen fördern? Wie den richtigen Ordnungsrahmen dafür setzen, dass das Land die Chancen der Digitalisierung nutzt, wenn in den Amtsstuben noch die Faxgeräte surren?

Ohne einen leistungsfähigen und krisenfesten Staat werden wir weder den Klimawandel noch die Herausforderungen der Digitalisierung meistern. Dabei geht es nicht um mehr oder weniger Staat oder um einen Neodirigismus, sondern um einen stärkeren und kompetenteren Staat mit einer leistungsfähigen Verwaltung und einer besseren Verzahnung von Wissenschaft und Politik. Wirtschaftshistoriker wissen, dass der Aufbau von Staatskapazität, der Fähigkeit des Staates, für Infrastruktur, öffentliche Güter und Planungssicherheit zu sorgen, die zentrale Voraussetzung für den Beginn modernen Wirtschaftswachstums in der industriellen Revolution war und ein wichtiger Wettbewerbsfaktor ist.

Dies wird bei der anstehenden zweiten Revolution, der ökologischen Transformation der Volkswirtschaft, nicht anders sein. Mit einem nur «bedingt einsatzbereiten» Staat ist unser künftiger Wohlstand in Gefahr. Die Pandemie war ein Probelauf für die Herausforderungen der Zukunft. Die Generalprobe ist misslungen, aber das gibt uns die Chance, aus den Fehlern zu lernen. Gerade deshalb sind die Lehren der Pandemie so wichtig.

 

Es handelt sich bei diesem Text um eine Leseprobe und zwar die Einleitung aus dem neuen Buch von Moritz Schularick im C.H. Beck-Verlag: „Der entzauberte Staat. Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss“.

Download der Leseprobe:

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Die Fußnoten der Einleitung sind hier weggekürzt und sie finden sich im Buch.

Hier kann man das Buch bestellen