Vorbemerkung
Die in diesem Papier unterbreiteten Vorschläge für ein verändertes Zusammenspiel der föderalen Ebenen der Bundesrepublik Deutschland im Bevölkerungs- und Zivilschutz stehen unter dem Eindruck der aktuellen Herausforderungen der COVID-19-Pandemie. Hinzutreten – und dies sind die leitenden Gedanken – langfristige Überlegungen und Einschätzungen zu neuen, hybriden Herausforderungen durch Cyberkriminalität, zum Schutz kritischer Infrastrukturen oder – aktueller denn je – zu gesteuerten Desinformationskampagnen.
Das Dokument ist eine Momentaufnahme während einer beispiellosen Ausnahmesituation aufgrund der COVID-19-Pandemie. Es muss daher im Verlauf und am Ende der Krise aufgearbeitet und aktualisiert werden. In das Dokument wurden nach der Erstveröffentlichung zahlreiche Änderungen eingearbeitet.
Einordnung
Deutschland ist im Bevölkerungsschutz im internationalen Vergleich gut aufgestellt.
Dass wir in der Lage sind, schnell und flexibel Ressourcen zu mobilisieren und bedarfsorientiert einzusetzen, haben wir nicht zuletzt in der Flüchtlingszuwanderung im Sommer 2015 oder dem Elbehochwasser 2013 gesehen.
Dies bedeutet für die aktuelle Herausforderung der COVID-19-Pandemie: Statt ad-hoc neue Strukturen zu schaffen, müssen wir uns auf das konzentrieren, was in den vergangenen Jahrzehnten und Jahren im Rahmen von Vorsorgemaßnahmen ausgebaut wurde, dieses einsetzen und entsprechend fortentwickeln.
Zugleich ist zu erkennen, dass in weiten Teilen staatlicher Tätigkeit eine starke Ökonomisierung stattgefunden hat – so auch im Gesundheitsschutz. Damit wurden der staatlichen Handlungs- und Reaktionsfähigkeit enge Grenzen gesteckt. Jahrzehntelanger Personalabbau auf allen Ebenen und der Rückgang staatlicher Investitionstätigkeit haben sich auch im Bevölkerungsschutz niedergeschlagen. Anzuerkennen ist, dass ein Umdenken in Verbindung mit einer verstärkten Investitionstätigkeit stattgefunden hat. So wurde seit 2016 das Personal in den Sicherheitsbehörden massiv ausgebaut – allein die Bundespolizei erhielt in den vergangenen vier Jahren knapp 8.500 neue Stellen. Für die Feuerwehren wurde ein 100 Mio. schweres Fahrzeugersatzprogramm des Bundes geschaffen und die hauptamtliche Betreuung der Ehrenamtlichen beim Technischen Hilfswerk (THW) deutlich ausgebaut.[1] Dies ist jedoch nur ein Anfang. Auch im Falle nicht ausgeglichener öffentlicher Haushalte darf auf keinen Fall die Investitionstätigkeit im Bereich des Bevölkerungsschutzes und der Katastrophenvorsorge zurückgefahren werden.
In der aktuellen COVID-19-Pandemie stellen wir fest, dass beispielsweise Depotstrukturen des Bundes und der Länder nicht ausreichen, um auf eine Pandemie von nationalem Ausmaß zu reagieren. Beschaffungen finden verzögert statt, Produktionsstätten und Bevorratung sind außerhalb der nationalen Einflusssphäre.
Die COVID-19-Pandemie ist dabei ein Sonderfall im Bevölkerungsschutz. Sie entwickelt sich zunächst langsamer und leiser als Waldbrände oder Hochwasser. Zudem wird sie sich langfristig auf das Verhalten der Bevölkerung auswirken. Daher spielen sozio-ökonomische und psychologische Kriterien hier eine größere Rolle. Dennoch lassen sich allgemeine Schlüsse aus der aktuellen Pandemie für den Bevölkerungsschutz ziehen. Die COVID-19-Pandemie zeigt Stärken und Grenzen des Bevölkerungsschutzsystems in Deutschland auf.
Stärken des Bevölkerungsschutzes im föderalen System
Die föderale Architektur trägt maßgeblich zum Funktionieren des Bevölkerungsschutzes in Deutschland bei und ist – anders als vielfach kolportiert – eine Stärke.
Erstens: Sie erleichtert die Einbindung von Ehrenamtlichen. So sind allein beim Technischen Hilfswerk über 80.000 freiwillige Helferinnen und Helfer in 668 Ortsverbände organisiert. Hinzu treten zahlreiche Hilfsorganisationen des Katastrophenschutzes von Feuerwehren mit ihren ca. 1 Millionen in Feuerwehren ehrenamtlich aktiven Männern und Frauen bis hin zu Hilfs- und Rettungsdiensten. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) verzeichnet daher in diesem „wichtigsten und stabilsten Tragpfeiler in der Architektur des Bevölkerungsschutzes“ rund 1,8 Millionen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die in Deutschland für die Hilfe im Katastrophenschutz ausgebildet und vor allem auf kommunaler Ebene tätig sind.
Zweitens: Sie ermöglicht eine bedarfsorientierte Anordnung von Maßnahmen und Ressourcen. Kommunen, Kreise und Städte wissen am besten, welche Kapazitäten wann und wo benötigt werden. Zudem haben sie ortsspezifische Kenntnisse und kennen lokale Behördenstrukturen, die in Krisensituationen unerlässlich sind. Die sofortige Entscheidung der norddeutschen Bundesländer beispielsweise, Strände und Halligen zu schließen, war vorrausschauend und hat maßgeblich zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung der Pandemie beigetragen.
Drittens: Gemeinden, Städte und Kreise können der Bevölkerung Schutz- und Warnhinweise besser lokal abgestimmt kommunizieren als Bundesbehörden. Sie sind die bürgernächste Stufe im föderalen Staatsaufbau. Dennoch dürfen Bundes- und Landesebene auf eigene, leitende Kommunikation nicht verzichten.
Die Architektur im Bevölkerungsschutz in Deutschland ist ein Zusammenspiel aus zentraler fachlicher Beratung und dezentraler Vorsorge und Implementierung. Dies ermöglicht einen funktionsfähigen Katastrophenschutz der Bevölkerung. Ein Netz aus Bundesbehörden, wie das Robert-Koch-Institut, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik oder das Bundesamt für Risikobewertung stellt wertvolle Expertise in ihren jeweiligen Fachbereichen bereit. Dies bildet die Grundlage für informiertes Handeln in den Regionen. Es wäre nicht effizient und auch kaum möglich, parallele Strukturen regional oder lokal aufzubauen.
Damit dieses System jedoch effektiv funktioniert, ist eine ständige Rückkoppelung zwischen Bund, Ländern und Kommunen notwendig. Hier werden Defizite sichtbar: Die Katastrophenschutzplanung der Länder ist teilweise veraltet und unvollständig. So stammen die Influenzapandemiepläne der Länder größtenteils aus der Mitte der 2000er Jahre. Um in der Praxis tatsächlichen Nutzen zu erzeugen, müssen Katastrophenschutzpläne hinreichend operationalisiert, differenziert und spezifisch sein. Es ist zudem nicht hinnehmbar, dass in Deutschland unterschiedliche qualitative Standards der Katastrophenvorsorge existieren.
Die Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren an Beratungs- und Entscheidungsgremien kann zudem zu Entscheidungsträgheit und widersprüchlichem Kommunikationsverhalten führen. Daher ergeben sich neue Anforderungen an die regelmäßig durchgeführten Bevölkerungsschutzübungen und die Schaffung dauerhafter, nicht ad hoc geplanter Kommunikations- und Verantwortlichkeitsstrukturen.
Insbesondere die Länder sind gefordert, ihre Kommunen eng, aber partizipativ zu beteiligen. Leitungs- und Krisenstäbe bieten gute Ansatzpunkte und sind geübte Praxis. Darüber hinaus braucht es in allen Gliederungen des politischen und administrativen Gefüges eine offene Fehlerkultur. Mängel oder Probleme müssen kommuniziert und dann behoben werden. Das Verschweigen von Fehlern führt langfristig zu einem Vertrauensverlust innerhalb der Bevölkerung. Im Falle neuer Herausforderungen sind Fehlschläge und veränderte Einschätzungen erwartbar und wenig überraschend. Ein transparenter Umgang damit ist unerlässlich.
Neue Leitgedanken für einen modernen Bevölkerungsschutz
Ein moderner Bevölkerungsschutz zeichnet sich durch informiertes, flexibles und zügiges Handeln sowie einen starken, vorsorgenden Staat aus. In der Konsequenz ist die Unterscheidung von Zivil- und Katastrophenschutz in Friedenszeiten überholt. Gemäß Artikel 73 Grundgesetz hat der Bund die Aufgabe, die Bevölkerung vor Gefahren in Kriegszeiten zu schützen („Zivilschutz“). Die Länder sind für den Schutz vor Katastrophen und Unglücken in Friedenszeiten zuständig („Katastrophenschutz“). Aktuell kommen dem Bund daher im Katastrophenfall in Friedenszeiten keine unmittelbaren Aufgaben zu. Allerdings stellen mittlerweile eine Vielzahl von Akteuren vor allem in Feldern der Cyberattacken, Desinformation und Terrorismus auch in Friedenszeiten erhebliche Bedrohungen dar, die schnell weite Teile oder das gesamte Bundesgebiet betreffen können (Stromausfall, Wasserversorgung, Sabotage und weiteres). Darüber hinaus regelt der Bund in verschiedenen Gesetzen und Verordnungen den Schutz kritischer Infrastrukturen, die essentiell für den Bevölkerungsschutz sind – auch in Friedenszeiten.
Im Rahmen der Amtshilfe kann der Bund durch das Amtshilfeverfahren gemäß Art. 35 Abs. 2 Satz 2 bei regionalen Katastrophennotständen durch die Länder angefordert werden. Bei überregionalen Katastrophennotständen gemäß Art. 35 Abs. 3 kann der Bund tätig werden, wenn eine Gefahr durch die Länder nicht wirkungsvoll bekämpft werden kann. Der Bundesregierung kommt dabei eine begrenzte Weisungs- und Einsatzbefugnis zu. Das bedeutet, dass über den Zivilschutzauftrag hinausgehende Regelungen, die der Planung, Vorbereitung und Koordinierung der Katastrophenhilfe des Bundes dienen, sich auf eine ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache stützen können. Die hierdurch geschaffenen Einrichtungen des Bundes, wie zum Beispiel das BBK, können vom Bund den Ländern im Rahmen der einfachen Amtshilfe i. S. v. Art. 35 Abs. 1 GG jederzeit nutzbar gemacht werden. Daraus ist jedoch keine generelle Steuerungskompetenz des Bundes bei länderübergreifenden Katastrophenfällen abzuleiten. [2]
Im Rahmen der Corona Pandemie wurde deutlich, dass es dem Bund an Steuerungskraft und Entscheidungsbefugnisse fehlt. Diese als „integriertes Hilfssystem“ konzipierte Architektur führt zu Parallelstruktur, Reibungsverlusten und ist wenig flexibel einsetzbar. Von mehr als 400 Anträgen an die Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe mussten fast die Hälfte aus Mangel an Ressourcen abgelehnt werden.[3] Die Bereitstellung von Ressourcen und Logistik durch Bund und Länder muss hier besser ineinandergreifen. Die Anforderungen treffen also die Ebenen Bund und Länder gleichermaßen und sind gemeinsame Verantwortung.
Im Ernstfall werden Regelungslücken und unterschiedliche Regelungsstandards in den Bundesländern sichtbar. Während der Bund im Verteidigungsfall zentral agieren kann, sind seine Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten im Bevölkerungsschutz in Friedenszeiten eng begrenzt und jenseits der Verfassungsgrenzen der Amtshilfe nach Art. 35 GG in der Regel ausgeschlossen. Der Katastrophenschutz und die Gefahrenabwehr verbleiben im föderalen Zusammenspiel bei den Ländern, im Anforderungsfall ergänzt um den Bund. Die Grenzen dieser Struktur werden aktuell erkennbar.
Reformen im föderalen Zusammenspiel notwendig: Kooperationsgebot statt Kooperationsverbot
Dafür müssen wir uns von der Idee des Kooperationsverbots verabschieden und hin zu einem Kooperationsgebot, anknüpfend und in Verbindung mit dem Verfassungsgrundsatz der Bundestreue zwischen Ländern und Bund. Das Kooperationsgebot betrifft nicht nur die Vorsorge und strategische und logistische Planung von Katastrophenlagen, sondern auch die Verteilung von Ressourcen, Übermittlung von Daten und das Teilen von Erkenntnissen im Ernstfall bis hin zur Koordination. Die zentrale, fachliche Beratung durch Bundesbehörden ist nur so effektiv, wie die Katastrophenplanung und -institutionen der Länder einsatzbereit gehalten und angemessene Vorsorgeleistungen getroffen werden. Die Länder müssen ihrer Verantwortung gerecht und notfalls auch stärker in die Pflicht genommen werden. Der Erkenntnisgewinn von Übungen und Planungen muss konsequenter in Vorsorge- und Einsatzplanungen umgesetzt werden.
Umsetzung eines modernen Bevölkerungsschutzes von Verfassung bis Ressourcen – veränderte Zuständigkeiten
Grundlegend für einen modernen Bevölkerungsschutz ist der Leitgedanke eines starken, vorsorgenden Staates auf allen Ebenen: Bund, Länder und Kommunen sind gefragt.
Dem Bund kommt die Pflicht zu, die Länder bei der Aufgabenwahrnehmung zu unterstützen, im Zweifel zu koordinieren und eigene Fähigkeiten aufzubauen, die sinnvollerweise nicht bei den Ländern verortet werden sollten. Doch ein starker Staat bedeutet nicht zwangsläufig einen zentralstaatlichen Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Vielmehr ist Aufgabe des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützen, von Vorsorge- und Vorbereitungsmaßnahmen bis hin zur Bereitstellung von Ressourcen im Ernstfall.
Daher ist es an der Zeit, das BBK weiter zu stärken. Nach seiner Gründung am 1. Mai 2004 durch den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily müssen wir nun, mehr als 15 Jahre später, die Arbeit und Funktionslogik des BBK evaluieren und entsprechende Konsequenzen ziehen. Otto Schilys damalige Forderung einer Verfassungsänderung, wonach dem Bund bei nationalen Gefahrenlagen koordinierende und unterstützende Maßnahmen zugesprochen würden, scheiterte vor allem am Widerstand der damaligen Opposition. Die Debatte ist vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie dringend neu zu führen. Im Folgenden wird der Schwerpunkt jedoch nicht auf eine verfassungstheoretische Diskussion und Würdigung der Rechtslage gelegt, sondern Hinweise auf Anforderungsprofile, und Kompetenzzuordnungen im Bund/Länderverhältnis aus Sicht des Bevölkerungsschutzes gegeben.
Umsetzung eines modernen Bevölkerungsschutzes von Verfassung bis Ressourcen – veränderte Zuständigkeiten
Für einen modernen Bevölkerungsschutz bedarf es rechtlicher Anpassungen auf Ebene des Bundes und der Länder. Eine Ausweitung der Kompetenzen des Bundes durch die Verortung des Katastrophenschutzes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Artikel 74 Grundgesetz) könnte hier Abhilfe schaffen.
Es würde dem Bund mehr Handlungsspielraum ermöglichen, Finanzierungspflichten sichern, das BBK stärken und gleichzeitig den Ländern ihren benötigten Spielraum garantieren. Konkret könnte das heißen: Wenn mehrere Bundesländer, die von einer Katastrophenlage betroffen sind, nicht mehr in der Lage sind, diese Krise selbstständig zu lösen oder eine bundeseinheitliche Vorgehensweise für am effektivsten erachten, können sie ihre Kompetenzen im Bereich Katastrophenschutz an die Bundesebene übertragen. Zweifelsohne geboten wäre in einer zweiten Fallkonstellation die führende Rolle des Bundes, wenn eine Katastrophenlage das gesamte Bundesgebiet (wie beispielsweise durch eine COVID-19-Pandemie) betreffen würde. Die Hürden dafür könnten durch einen Antrag der Bundesregierung an den Bundestag unter Zustimmung des Bundesrates deutlich höher gesteckt werden als in Fragen der Amtshilfe nach Art. 35 GG Abs. 2 Satz 2 sowie Art. 35 Abs. 3.
Eine bundesweit einheitliche Herangehensweise in Bezug auf den Umgang mit Großveranstaltungen, Öffnung von Kitas und Schulen usw. hätte im Rahmen der COVID-19-Pandemie ein noch effektiveres Vorgehen ermöglicht. Über die notwendigen Änderungen im Infektionsschutzgesetz hinaus sollte dies verfassungsrechtlich für den Bevölkerungsschutz allgemein geklärt werden.
Die Regierungsfähigkeit auf Ebene des Bundes und der Länder bleibt trotz der COVID-19-Pandemie bestehen. Doch weder stellt die regelmäßige Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder ein Verfassungsorgan dar – mit einer notwendigerweise anderen Anforderung an Transparenz – noch verfügen diese und ähnliche ad hoc Koordinierungsstrukturen über einen verwaltungsmäßig klar abgegrenzten Unterbau.
Aus dem Blickwinkel des Bevölkerungsschutzes stellt sich die Frage nach der Kompetenzzuordnung zwischen Bund und Ländern als auch Verbesserungen und Vereinheitlichungen von Kommunikation und Austausch sowie Koordination und Finanzierung.
Föderale Strukturen stärken, Ressourcen schaffen und Länder befähigen
Die Aufwertung des Bundes im Katastrophenschutz auch in Friedenszeiten bietet die Grundlage für einen verbesserten und modernen Bevölkerungsschutz. Zugleich würden vorhandene Strukturen besser eingegliedert und Fähigkeiten besser genutzt.
Aufwertung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Die unter Federführung des BBK angefertigten Risikoanalysen sowie ressort- und länderübergreifenden Krisenmanagementübungen (LÜKEX) liefern wertvolle Erkenntnisse in Bezug auf unterschiedliche Katastrophenlagen. Im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung sollten die Länder, ebenso wie die Ressorts der Bundesregierung, verpflichtet werden, an Risikoanalysen und LÜKEX-Übungen teilzunehmen und diese auf Landesebene auszuwerten. Dazu gehört auch, dass das BBK die Umsetzung der Erkenntnisse aus Risikoanalysen und LÜKEX-Übungen überwacht. Dies ist verbunden mit einer stärkeren Diskussion der gewonnen Erkenntnisse im Bundestag und in der Bundesregierung. Das BBK muss die Möglichkeit erhalten, die Umsetzung der in der „Konzeption Zivile Verteidigung“[4] getroffenen Vorgaben, insbesondere in Bezug auf die Ausarbeitung von Rahmenkonzepten und Folgearbeiten, auf Landesebene zu monitoren und auf Lücken aufmerksam zu machen. In der Konsequenz müssen die Länder verpflichtet werden, ihre Katastrophenschutzpläne regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls notwendige Anpassungen vorzunehmen. Dabei sind die Kommunen mit einzubeziehen.
Verbesserte strategischer Bevorratung – auch analog erweitertem Katastrophenschutz
Wie zentral eine angemessene Bevorratung im Katastrophenfall ist, wird im Rahmen der COVID-19-Pandemie deutlich. Der Aufbau und die Aufrechterhaltung von zentralen Depotstrukturen sind daher genauso im Katastrophen- wie im Zivilschutz geboten. Es sollten zudem Depotstrukturen für die Versorgung von fünf bis acht Millionen Bürgerinnen und Bürger, verteilt auf die Länder, aufgebaut werden. Diese 10 bis 16 Hauptdepots müssen einen Grundstock an Versorgungsmaterial enthalten, der konstant aktualisiert wird. Zudem sollte es analog zur Spezialisierung von Einheiten des Brand- und Katastrophenschutzes bestimmte Schwerpunktdepots geben. Das Anlegen von Schwerpunktdepots muss regionale Unterschiede berücksichtigen. Schwerpunktdepots zum Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren sind in der Nähe von Industrieregionen und Hochwasserschutz in der Nähe von Gewässern geboten. Das BBK besitzt die notwendige Expertise und Ressourcen, diese Strukturen anzulegen. Dabei sollten auch die Kapazitäten des Europäischen Katastrophenschutz-Pools berücksichtigt werden. Die Verteilung sollte anhand eines Bevölkerungsschlüssels erfolgen und vom Technischen Hilfswerk organisiert werden, da es über die benötigten Liegenschaften und Logistik verfügt In § 13 des Gesetzes über den Zivilschutz und Katastrophenhilfe sollte klargestellt werden, dass diese Ressourcen auch für Bundeszwecke einsetzbar sind. Die Einrichtung und Aufrechterhaltung dieser Depots sind aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren. Diese Schwerpunktdepots können bei den acht Landesverbänden des THW eingerichtet werden und durch ein zentrales Logistikunterstützungszentrum, in dem regionale Bedarfe zu einem Gesamtlagebild gebündelt werden, unterstützt werden.
Konkret sollten für zukünftige Pandemieereignisse medizinische Schutzausstattungen für das Gesundheitssystem und die gesamte Bevölkerung vorgehalten werden. Neben Pandemien können auch Naturgefahren, technische Katastrophen und hybride Gefahren die Daseinsführsorge bedrohen. Daher hinaus ist die ergänzende Bevorratung von Betreuungs- und Unterbringungsausstattung für evakuierte Bevölkerung notwendig. Zudem sind Vorhaltungen an Zivilschutz- und Katastrophenschutzausstattung, wie Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Brückenbaumaterial, Kapazitäten zur Kraftstoffverteilung erforderlich.
Denkbar wäre auch ergänzend eine Lieferung von Materialien an die Länder analog zu den Beschaffungsverfahren für Fahrzeuge des erweiterten Katastrophenschutzes. Diese stellt der Bund den Ländern über sein bereits deutlich aufgestocktes Fahrzeugbeschaffungsprogramm zur Verfügung.
Beschaffung: Effiziente Strukturen statt Doppelstrukturen
Es ist zudem geboten, die Beschaffung von Schutz- und Versorgungsmaterial zentral zu organisieren. Die Beschaffung von medizinischem Material im Rahmen der COVID-19-Pandemie u.a. durch das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr und das Beschaffungsamt des Bundesinnenministeriums zeigen auf, dass unterschiedliche staatliche Einheiten in unterschiedlicher Schnelligkeit agieren.
Es bedarf eines zentralen, durch das BBK organisierten, vorausschauenden Beschaffungsvorgangs, der zivile Ressourcen schnell und unbürokratisch bereitstellen kann. Im Nachgang der COVID-19-Pandemie sollen gewonnene Erkenntnisse ausgewertet werden und zu Veränderungen führen.
Gesamtstaatliches Lagebild
Zur Verbesserung der Prognosefähigkeit und Erfassung kritischer Lagen bedarf es einheitlicher Melderichtlinien in Verbindung mit der Erstellung eines gesamtstaatlichen Lagebildes. Dies muss auch eine Meldeverpflichtung außerhalb des Verteidigungsfalls umfassen. Neben Informationen zur Lageentwicklung müssen auch Daten über materielle und personelle Ressourcen davon erfasst sein. Das gemeinsame Melde- und Lagezentrum im BBK hat die Möglichkeit, diese Informationen zusammenzutragen. Darin einfließen müssen auch die durch die Bundeswehr, das Technische Hilfswerk und Bundesministerien gesammelten Informationen. Bei der Erstellung des Lagebildes und der Koordination von Notfallmaßnahmen ist enge Rücksprache mit dem Europäischen Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen (ERCC) zu halten. Das BBK sollte dazu entsprechende Indikatoren und Kriterien entwickeln.
Das BBK als Sicherheitsbehörde
Um ihren Aufgaben angemessen nachzukommen, sollte das BBK zu einer echten Sicherheitsbehörde ausgebaut werden. Damit wird der Informationsfluss zum BBK verbessert und es hilft dem BBK beim Aufbau und der Aufrechterhaltung des gemeinsamen Melde- und Lagezentrums. Mit dem Zuwachs an Aufgaben für das BBK müssen entsprechend mehr Haushaltsmittel und Personalaufwuchs einhergehen sowie eine enge Einbindung in die staatliche Sicherheitsarchitektur. Um die Koordination und den Inforationsaustausch mit den Ländern zu verbessern, sollte das BBK durch Verbindungsbeamte in den Staats- und Senatskanzleien vertreten sein.
Das Fundament eines modernen Bevölkerungsschutzes ist eine resiliente Zivilgesellschaft
Der Zivil- und Katastrophenschutz wird in Deutschland maßgeblich durch Ehrenamtliche getragen. Dies zeigt sich durch das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern im Ernstfall und die Bereitschaft der gesamten Bevölkerung, im Katastrophenfall konstruktiv und konsequent mitzuwirken. Während sich viele tausend Ehrenamtliche langfristig und umfassend bei THW, Feuerwehren, Deutschem Roten Kreuz, DLRG, dem Maltester Hilfsdienst, Johanniter-Unfall-Hilfe oder beim ASB engagieren, ist es anderen Bürgerinnen und Bürgern aufgrund beruflicher, familiärer oder anderer Verpflichtungen nicht möglich, sich so umfassend und langfristig zu engagieren. Auch für diese Personen sollte es in Ergänzung der Katastrophenhelfer bei den Blaulichtorganisationen leicht zugängliche, zusätzliche Möglichkeiten des Engagements als sogenannte „Krisen- und PräventionshelferIn“ geben. Die Länder haben dafür Sorge zu tragen, dass die administrativen Kosten der Hilfsorganisationen dabei geringgehalten werden. So ist zudem über eine Vereinfachung der Abrechnungsmodalitäten gegenüber den Ländern nachzudenken.
Krisen- und PräventionshelferInnen ausbilden – Strategische Reserve schaffen
Die Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ist die einzige zentrale Bildungseinrichtung in Deutschland, an der Krisenmanagement in Deutschland gelehrt wird. Sie muss ein niedrigschwelliges Angebot schaffen, Krisen- und PräventionshelferInnen auszubilden. Das AKNZ entwirft dabei ein einheitliches Curriculum, basierend auf e-Learning Einheiten. Die Hilfsorganisationen vor Ort ergänzen das Programm durch die Durchführung eines Praxiswochenendes, welches verbindlicher Teil der Ausbildung ist. Die Krisen- und PräventionshelferInnen haben die Wahl, bei welcher Hilfsorganisation, sie ihr Praxiswochenende absolvieren möchten. So könnten in wenigen Jahren, Zehntausende PräventionshelferInnen auf Krisen lokal vorbereitet werden. Diese würden die Arbeit der ehrenamtlich Tätigen im THW sowie der Ehrenamtlichen in den Feuerwehren, Rettungs- und Hilfsdienste sinnvoll ergänzen und verstärken. Zugleich wäre dies eine weitere Möglichkeit, Freiwillige für das Ehrenamt zugewinnen. Das BBK schafft Strukturen zur Bereithaltung und spontanen Aktivierung von PräventionshelferInnen und weiteren SpontanhelferInnen.
eLearning auch im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz weit öffnen
Moderne Formen des digitalen Lernens erleichtern es Personen, sich entsprechend des eigenen Zeitbudgets weiterzubilden. Das BBK kann als die zentrale Fachbehörde für Katastrophenprävention digitale Tools für die Weiterbildung als Präventionshelfer entwerfen. Diese digitalen Lerneinheiten ergänzen und vertiefen die Inhalte der Wochenendseminare an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz. Sie können außerdem den Zugang zu Themen des Katastrophenschutzes für breite Bevölkerungsgruppen erleichtern.
Vorsorge stärken und Wissen in Bevölkerung aufbauen
Zusätzlich dazu sollten Erste-Hilfe-Kurse und Kurse zum Rettungsschwimmer deutlich ausgebaut und Menschen ermuntert werden, in regelmäßige Folgen daran teilzunehmen. Zu oft wird ein Erste-Hilfe-Kurs einmal beim Führerscheinerwerb abgelegt, ohne das Wissen wieder aufzufrischen. Arbeitgeber*innen könnten dies durch die Freistellung während der Arbeitszeit unterstützen. Auch hier ist der Einsatz digitaler Lernformen zu berücksichtigen.
Anerkennungskultur stärken heißt den Bevölkerungsschutz stärken
Für die Stärkung und Sicherstellung des organisierten zivilgesellschaftlichen Engagements sind rechtliche Sonderregelungen für gemeinnützige Organisationen zu entwickeln. Grundsätzlich dürfen gemeinnützige Organisationen nur im Rahmen ihres Vereinszweckes tätig werden. In der Krise, sowohl jetzt im Rahmen der COVID-19-Pandemie als auch bei der Zuwanderung der Flüchtlinge 2015, sind viele Organisationen jedoch wegen ihrer strukturierten Vorgehensweise in eingespielter Teamarbeit zum Aufbau und sogar zum Betrieb von Sammelunterkünften, zur Versorgung von Menschen, für Hilfsdienste und -fahrten etc. eingesetzt worden bzw. werden derzeit eingesetzt. Hier braucht es Vorschriften, die solche Tätigkeiten möglich machen, damit die Gemeinnützigkeit erhalten bleibt.
Moderner Bevölkerungsschutz hat die Grundpfeiler Informationen und Transparenz
-Es bedarf einer bundesweit einheitlichen, Ebenen übergreifend abgestimmten Kommunikationsstrategie. Diese sollte nicht ad hoc verabredet und geplant werden, sondern Teil der Vorsorgeplanung sein. Daraus sollte hervorgehen, wann welche Informationen an die Öffentlichkeit herangetragen. Bereits gewonnene Erkenntnisse hierzu werden jedoch derzeit nicht konsequent zur Anwendung gebracht. Zu berücksichtigen ist, dass politische Entscheidungen auf einer fundierten Grundlage stehen müssen. Dies ist umso wichtiger, wenn sie Einschränkungen im Bereich der Grundrechte nach sich ziehen. Dabei muss stets geprüft werden, ob politische Schlussfolgerungen wissenschaftlich fundiert und korrekt sind. Öffentliche Debatten um die richtigen Maßnahmen sind dabei essenziell. Sie sorgen für demokratische Legitimität getroffener Entscheidungen und stärken die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Debatte um Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat setzt vor allem aus dem Blickwinkel des Bevölkerungsschutzes den Leitsatz voraus: Freiheit braucht als Fundament Sicherheit, die der starke Staat gewährt.
-Ein strukturiertes Monitoring der Verbreitung von Fake News ist wichtig, um Fehlinformationen aufgreifen und gegensteuern zu können. Falschmeldungen, Ängste und Sorgen in der Bevölkerung müssen in der Kommunikation mit der Bevölkerung aufgegriffen werden. Staatliche Ebenen brauchen Kriseninterventionsteams, die Fake News und Desinformationskampagnen gezielt begegnen und offensiv Gegenmaßnahmen einleiten. Da das Monitoring von Fake News und Desinformationskampagnen auch Teil des zentralen Lagebilds sein sollte, ist das BBK am besten geeignet hier eine Zentralstellenfunktion zu übernehmen. Gleichzeitig sollte das BBK eine Strategie zur Bekämpfung von Fake News und Desinformation erarbeiten, die gemeinsam mit den Ländern und Bundesressorts umgesetzt wird. Das BBK sollte hierbei im Zusammenspiel mit dem BSI und anderen Bundesbehörden agieren.
-Zudem spielt der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Fake News. Um seinem gesetzlichen Bildungsauftrag in angemessener Weise nachkommen zu können und auf Herausforderungen der Kommunikation in sozialen Netzwerken zu reagieren, muss der öffentliche Rundfunk mit entsprechenden Mittel ausgestattet werden. Somit spielt der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine zentrale Rolle bei der Bildung von Resilienz in der Zivilgesellschaft. Ziel der ergänzenden Mittelausstattung ist die Produktion und Verbreitung von Krisenpräventionshinweisen an die Bevölkerung in Krisen- und Katastrophenlagen. Diese könnte bspw. in 5 Minuten Einheiten im Anschluss an die Hauptnachrichten verbreitet werden. Es ist festzustellen, dass sehr viele Dokumente vorhanden sind, doch die Nutzung von Hilfestellungen bis zu Ratgebern ist vielen Bürgerinnen und Bürgern unbekannt. Skurrile Bevorratungen (etwa Toilettenpapier statt Wasser) zeigten dies zu Beginn der COVID-19-Pandemie auf und waren gar schädlich (Hamsterkäufe, Massenansammlungen).
-Das BBK kann zudem durch die Organisation bundesweiter Warntage und den Ausbau der Bevölkerungsschutz App Nina die Länder und Kommunen unterstützen. Es kann außerdem dazu beitragen, Transparenz über tatsächliche Kapazitäten herzustellen und somit Panik in der Bevölkerung entgegenwirken.
Sonderfall Pandemieschutz: Lehren und Einschätzungen aus der COVID-19-Krise
Die bisherige Entwicklung der COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass wir im Bevölkerungsschutz prinzipiell gut aufgestellt sind. Dies wird vor allem im internationalen Vergleich deutlich. Dennoch haben auch hier Sparmaßnahmen und unterschiedliche Prioritätensetzungen auf Ebene von Bund und Ländern dafür gesorgt, dass kurzfristige Beschaffungsmaßnahmen von Schutzmaterialien notwendig wurden, da die Bevorratung nicht in umfangreichem Maße angelegt wurde. Statt neue ad hoc Strukturen zu schaffen, sollten wir auf strategische Vorbereitung und Planung setzen und bestehende Arbeitsstrukturen nutzen. Der gemeinsame Krisenstab BMG und BMI ist ein bewährtes Koordinierungsgremium. In diesem Zusammenhang muss das BBK auch im Pandemiefall gestärkt werden.
-Bei der Anzahl der durchgeführten Tests pro Einwohner war Deutschland zum Höhepunkt der Krise im Frühjahr 2020 weltweit führend. Bis Mitte April 2020 wurden in Deutschland mehr als doppelt so viele Tests pro 1.000 Einwohner durchgeführt wie in den USA. Ende Juni 2020 sank die Anzahl der in Deutschland durchgeführten Tests pro 1.000 Einwohner jedoch im weltweiten Vergleich. Deutschland befindet sich hier im europäischen und weltweiten Vergleich auf einem mittleren Platz.[5]
-Die Kommunikation der Maßnahmen im Rahmen des Infektionsschutzes erfolgte zeitnah und transparent. Dies bildet die Grundlage für eine breite Akzeptanz und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.[6]
-Die Bundesregierung und der Bundestag haben in Rekordzeit ein umfangreiches Hilfspaket beschlossen, das dazu beitragen wird, die gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie abzufangen.
-Das Technische Hilfswerk mit seinen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern hat schnell flexible Logistikaufgaben wahrgenommen. Es spielt somit eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung von personellen und logistischen Ressourcen.
Dennoch haben sich einige Defizite aufgetan, die es in Zukunft anzugehen gilt:
-Die Vorhaltung von spezifischen materiellen und personellen Ressourcen, wie medizinisches Personal, Schutzausrüstung und Medizinprodukten muss verbessert werden.
-Die zentrale Erfassung von Infektionszahlen beim Robert-Koch-Institut (RKI) erfolgte mit Verzögerung. Daten über Infizierte und Getestete müssen automatisch von den Gesundheitsämtern an das RKI übermittelt werden. Dies ist Voraussetzung für informierte politische Entscheidungen und deren Legitimität.
-Zudem wurde deutlich, dass nicht alle Kommunen gleichermaßen auf den Ernstfall vorbereitet sind und ausreichend Personal vorhalten. Hier könnten verpflichtende Vorgaben auf Bundes- bzw. Landesebene notwendig werden.
-Probleme in der Information und bei der Akzeptanz der Bevölkerung ergaben sich aus widersprüchlichen Positionierungen und Verfahrensschritten der Länder. Das Vorpreschen einzelner Länder in punkto Lockerungen kann sich im doppelten Sinne rächen. So sinkt Akzeptanz in der Bevölkerung für tiefgreifende Maßnahmen. Darüber hinaus reichen bei einer erneuten Zunahme der Infektionsrate die Kapazitäten der Krankenhäuser und ambulanten Vorsorge nicht mehr aus.
Welche Schlüsse können wir daher aus der aktuellen COVID-19-Pandemie für einen modernen Infektionsschutz ableiten?
-§ 5 des Bundesinfektionsschutzgesetzes sieht vor, dass im Falle der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag das Bundesministerium für Gesundheit die Kompetenz erhält, befristete Maßnahmen im Bereich von (Ein-)Reisebeschränkungen, Arzneimittelversorgung, Lebensmittelsicherheit, Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung usw. mit dem Bundestag zu treffen. Dies ist wichtig, um nationale Lagen angemessen eindämmen zu können. Gleichzeitig zeigt uns die gegenwärtige COVID-19-Pandemie, dass auch die schnelle, antizipierende Entscheidungsfindung zentral ist. Daher muss das Bundesgesundheitsministerium die Möglichkeit erhalten, im Falle einer sich anbahnenden Krise, insofern diese von der Weltgesundheitsorganisation als solche erkannt wird, Maßnahmen bereits vor der offiziellen Einstufung Pandemie zu treffen. Daher muss die Vorstufe einer Pandemie definiert werden, die erste Vorsorgemaßnahmen im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes ermöglichen. Dies könnte beispielsweise in einem Ampelsystem erfolgen.
-Eine Stärkung der Krisenvorsorge durch die zwingende Berücksichtigung der Erkenntnisse aus Risikoanalysen und LÜKEX-Übungen ist zukünftig stärker bei der Katastrophenplanung der Länder vorzunehmen. Das BBK als zentrale Monitoringinstitution könnte dabei eine wichtige Rolle übernehmen.
-Die Influenzapandemieplanung der Länder waren teilweise nicht aktualisiert und zu unspezifisch, um auf die aktuelle Krise reagieren zu können. Das RKI, das federführend für die nationale Pandemieplanung zuständig ist, muss daher befähigt werden, dem Bundesgesundheitsministerium Empfehlungen zur Ausarbeitung von Schutzplänen zu machen, die die Länder dann zwingend umsetzen müssen.
-Zusätzlich muss die Prognosefähigkeit im Bevölkerungsschutz gestärkt werden. Die im zweijährigen Intervall stattfindenden länder- und ressortübergreifenden Krisenmanagementübungen (LÜKEX-Übungen) sowie die Risikoanalysen müssen unter anderem auch die Kombination von Krisenszenarien berücksichtigen. Dies ist in den Szenarien des Bevölkerungsschutzes und der Risikoanalyse zwar erkannt, aber nicht ausreichend gewürdigt worden. Es ist zu hinterfragen, wie sich die COVID-19-Krise auf weitere zeitgleich auftretende Katastrophen auswirken wird, wie etwa eine sich auch in diesem Jahr anbahnende Dürreperiode. Die volkswirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Krise, in Verbindung mit der Verknappung erforderlicher Ressourcen und Kapazitäten im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz, stellt die Leistungsfähigkeit des Staates auf die Probe und kann Verunsicherungen in der Bevölkerung auslösen. Dies sehen wir momentan in Frankreich und Italien.
Verfassungsänderung: Debatte nicht auf Grundrechtseingriffe reduzieren, sondern Organisation verbessern und Kompetenzen zuordnen!
Der demokratische Rechtsstaat als Garant von Freiheit und Sicherheit sowie in seiner Verpflichtung, Menschen- und Bürgerrechte eben als Freiheitsrechte gegen den Staat auch in Notstandslagen zu gewährleisten, ist nicht Preis zu geben. Insbesondere die aktuelle COVID-19-Pandemie zeigt auf, wie tiefe Eingriffe in das gesellschaftliche Leben von Religionsausübung über wirtschaftliche Betätigung bis hin zur persönlichen Freiheit vorgenommen werden.
Jenseits einer verfassungstheoretischen Diskussion ist zu erkennen, dass umfangreiche und langfristige Grundrechtseingriffe, wie wir sie in Südkorea oder Taiwan sehen, der Akzeptanz der Schutzmaßnahmen in der Bevölkerung entgegenstehen. Hinzutritt, dass Schutzziele (setzen diese z.B. freiwillige Verhaltensänderungen wie Kontaktsperren u.a. voraus) nicht erreicht werden. Denn langfristig führen sie zu Verweigerungshaltungen und Widerstand in der Bevölkerung und sind daher kontraproduktiv. Dem u.U. notwendigen wie befristeten und verfassungsgemäßen Eingriff in die Grundrechte wird nicht pauschal widersprochen. Eingriffe in die Grundrechte können immer nur zeitlich begrenzt und in klar geregeltem Umfang von der Bevölkerung mitgetragen werden. Ein wesentlicher Beitrag bleibt die freiwillige Mitwirkung, da auch entsprechende Kontrollmöglichkeiten de facto nicht in ausreichendem Maße durch Ordnungs- und Polizeibehörden vorhanden sind
Schlussbemerkung
Die aktuelle COVID-19-Pandemie bedeuet einen akuten Handlungsdruck auf allen politischen Ebenen. Die Herausforderungen eines modernen Bevölkerungsschutzes dürfen aber nicht zu Aktionismus verleiten. Vorhandene Strukturen und Expertise müssen konsequent genutzt werden. Im Nachgang zur aktuellen Krise müssen Defizite erfasst, debattiert und angegangenen werden. Die Diskussion um eine Verfassungsänderung muss mit Augenmaß, Sachverstand und Weitsicht geführt werden. Die Verfassungsmütter und -väter haben 1949 ein kluges Regelwerk entworfen und das Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern definiert. Doch starre Trennungen und Abbildungen binärer Strukturen, wie Verteidigungsfall oder Friedenszeit, sind im Falle eines integrierten Bevölkerungsschutzsystems hemmend.
Darüber hinaus darf eine Krisensituation nicht dazu führen, Ausnahmen zum Regelfall zu machen oder gar ad hoc Veränderungen zu erzwingen. Gute Vorsorge im Bevölkerungsschutz muss auf informierten, klar begrenzten und demokratisch legitimierten Entscheidungen beruhen. Im Falle einer befürworteten und zu debattierenden Verfassungsänderung wäre dies für die folgende Wahlperiode des Deutschen Bundestages eine zwingende Linie und ein angemessener Zeithorizont.
Zudem bedarf es der dauerhaften Bereitschaft, den Staat als Ausdruck des organisierten Gemeinwesens nicht nur in Krisenzeiten finanziell zu stärken, sondern entlang des Gedankens des vorsorgenden, starken Staates anders zu finanzieren sowie Personal und Ressourcen langfristig und strategisch aufzubauen.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Berichterstatter für Zivil- und Katastrophenschutz, Sebastian Hartmann, hatte sich schon vor über einem Jahr im April 2020 angesichts der aufkommenden Corona-Pandemie intensiv mit einer Neuaufstellung und Reform des Katastrophenschutzes in Deutschland beschäftigt und entsprechende Forderungen aufgestellt.
Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um eine redaktionell überarbeitete und nur leicht ergänzte Version aus Juni 2020, die auf einer Erstversion Hartmanns aus April 2020 basiert. Diese war um einige Anregungen von SPD-Innenpolitikerinnen leicht ergänzt worden. Die Endfassung des Positionspapiers war schließlich – unter Einbeziehung weiterer Arbeitsgruppen der SPD Bundestagsfraktion und als Ergebnisses eines umfassenden und breiten Diskussionsprozesses – im März 2021 von der SPD-Bundestagfraktion einstimmig beschlossen worden: “Zukunft des Bevölkerungsschutzes – Update statt Systemwechsel”, hier zu finden: https://www.spdfraktion.de/presse/pressemitteilungen/spd-bundestagsfraktion-fordert-update-bevoelkerungsschutz
Anmerkungen:
[1] 121 hauptamtliche Stellen wurden für die zentrale Ehrenamtskoordinierung des THW in den Bundeshaushalten 2019 und 2020 hinterlegt.
[2] vgl. bspw. grundlegend: https://www.bundestag.de/resource/blob/412762/e2918de45dab4107d5b0d5e06012159a/wd-3-423-07-pdf-data.pdf
[3] Im Rahmen der Pandemie wurde offensichtlich, dass die Reserven der Bundeswehr von kritischen Gütern, wie Schutzausrüstung unzureichend waren. Seit 2002 ist die Zahl der Depots der Bundeswehr und spezialisierten Zentren von über 100 auf 34 gesunken. Die Bundeswehr verringerte so ihre kostenintensiven Materialbestände, um sich im zivilen Krisenfall bei der Wirtschaft auszurüsten.
[4] https://www.bmi.bund.de/DE/themen/bevoelkerungsschutz/zivil-und-katastrophenschutz/konzeption-zivile-verteidigung/konzeption-zivile-verteidigung-node.html
[5] https://ourworldindata.org/covid-testing
[6] Eine breite Unterstützung politischer Entscheidungen im Rahmen des Infektionsschutzes bestätigt eine Untersuchung der Freien Universität Berlin. https://www.polsoz.fu-berlin.de/ethnologie/forschung/arbeitsstellen/katastrophenforschung/news/20200403_Working_Paper_SARS.html