Die Aussetzung der Impfstoffpatente bringt den ärmeren Ländern keine Vorteile und schadet nachhaltig der Innovationskraft zur Erforschung lebensrettender Arzneimittel – nicht nur in Deutschland.

Die Diskussion über die Aussetzung von Patenten in Pandemiezeiten geht derzeit durch alle Parteien, Gesellschaftsschichten, Berufsgruppen und Verbände, zum Teil auch mit sehr provokativen Aussagen gegenüber den Verteidigern des Patentschutzes. Nicht zuletzt deswegen fiel die Wahl der Überschrift dieses Beitrages ähnlich drastisch aus, denn der Patentschutz ist eine Lebensversicherung für künftige Generationen – nicht nur in den industrialisierten, vielmehr in allen Ländern dieser Welt.

Warum ist das so? Man muss hier zum einen auf die spezifische Situation der aktuellen Pandemie eingehen, zum anderen aber auch auf die Rolle des Patentschutzes per se. Der Wunsch vieler Länder nach raschem Zugang zu den Impfstoffen ist völlig berechtigt und nachvollziehbar, aber es gibt weit bessere und nachhaltigere Möglichkeiten dieses wichtige Ziel zu erreichen als die Aussetzung des Patentschutzes.

Zunächst ein paar Details zur aktuellen Pandemie:

Ein Aussetzen der Patente zum jetzigen Zeitpunkt bringt keine einzige Dosis Vakzine schneller zu den Menschen der südlichen Hemisphäre. Das liegt zum einen an der dort (noch) nicht vorhandenen pharmazeutischen Infrastruktur (hier gibt es allerdings Ausnahmen), v.a. aber an den nicht verfügbaren Fachkräften bzw. an deren mangelnder Expertise. Die in diesen Ländern durchgeführte Herstellung von Generika oder von Grundstoffen der pharmazeutischen Industrie erfordert einfachere Prozesse als die weit kompliziertere Herstellung von Impfstoffen. So hat selbst die Umstellung einer bereits existierenden (!) Impfstoffproduktionsanlage im hessischen Marburg auf den neuen mRNA-Impfstoff von BioNTech mehrere Monate gedauert. Mehrere der Impfstoffhersteller bieten bereits kostenlose Lizenzen an, die allerdings noch nicht genutzt werden – nicht zuletzt weil die entsprechende lokale Infrastruktur und Expertise fehlen. Die Etablierung entsprechender Lieferketten auch in klimatisch schwierigen Länder ist kaum realisierbar: Neben dem ungelösten Problem einer gesicherten Kühlkette benötigt der angesprochene BioNTech-Impfstoff 280 Ingredienzien von 86 Zulieferern aus 19 Ländern…

Freiwilligkeit, kein Zwang: Die Pandemie hat zweifelsfrei gezeigt, daß sich die Impfstoffhersteller ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bewusst sind: Bereits in den ersten Wellen der Pandemie gab es freiwillige Kooperationen mit dem eindeutigen Ziel, Impfstoffe so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen, völlig losgelöst von dem alten Konkurrenzdenken zwischen den Firmen: Sanofi füllt ab für BioNTech, für Johnson und Johnson und für Moderna, Bayer kooperiert mit CureVac, Novartis mit BioNTech/Pfizer – alles Kooperationen, die vor einigen Jahren undenkbar gewesen wären. Es gilt jetzt, in kürzester Zeit die Produktion so hochzufahren, daß Milliarden weiterer Dosen verfügbar werden – aber unter Einhaltung unverzichtbarer Qualitäts- und Sicherheitsstandards.

Gerade neue Wirkprinzipien wie die der mRNA-Impfstoffe sind eine besondere Herausforderung für die Ausweitung der Produktion im großen Maßstab. Die Forderung nach Zwangslizenzen suggeriert zum einen, dass durch die Freigabe von Patenten an vermeintlich in den Startlöchern stehende Lizenznehmer eine rasche globale Versorgung mit COVID-Impfstoffen möglich sei. Zum anderen seien Originalhersteller zur Kooperation nicht bereit, müssten dazu gezwungen werden. Beides ist falsch! Die Originalhersteller haben selbst größtes Interesse daran, so viel wie möglich von ihren Covid-19-Impfstoffen liefern zu können. Sie haben seit Monaten nicht nur ihre eigenen Produktionskapazitäten qualiätsgesichert ausgeweitet, sondern wie beschrieben auch immer mehr Kooperationen mit anderen Firmen etabliert.

Diese können nach Umrüstung ihrer Anlagen und Schulung des Personals beispielsweise Komponenten für den Impfstoff zuliefern oder parallel zum Originalhersteller bestimmte Herstellungsschritte übernehmen oder den Impfstoff in Lizenz komplett eigenständig herstellen und vertreiben. Wenn die Originalhersteller weitere Partner für solche Kooperationen identifizieren, werden diese Partnerschaften weiter ausgebaut – auf freiwilliger Basis. Das Teilen von Wissen über die detaillierten Prozesse ist hier absolut notwendig und die Freiwilligkeit garantiert diesen Wissenstransfer. Ausgeübter Zwang ist kontraproduktiv führt hier eher zu einer Verweigerungshaltung – und die hilft niemandem.

Der Schutz des geistigen Eigentums ist kein Hindernis für die globale Versorgung: Es gibt aktuell keine Evidenz, dass der Schutz geistigen Eigentums die globale Versorgung mit COVID-Impfstoffen behindert. Im Gegenteil, nur der Patentschutz ermöglichte und ermöglicht die Erforschung, Entwicklung, klinische Prüfung und Produktion potenzieller COVID-19-Impfstoffe – auch gegen neue Virus-Varianten – sowie die sichere partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Institutionen weltweit.

Um gerade Länder unabhängig von ihrer Kaufkraft zügigen Zugang zu Impfstoffen gegen COVID-19 zu ermöglichen, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die COVAX Facility ins Leben gerufen. Die Facility soll vor allem Impfstoff-Dosen bei Herstellern kaufen und über 2 Milliarden Dosen werden noch in diesem Jahr zur Verfügung stehen, zum Selbstkostenpreis. Hier machen alle Impfstoffproduzenten mit und dieser Weg ist ein deutlich besserer und erfolgsversprechender als jede intendierte Zwangsmaßnahme. Außerdem kann es auch misstrauisch machen, dass ausgerechnet autoritär geführte Länder stark hinter der Initiative zur Freigabe der Patente stehen, was auch geopolitische Interessen incl. einer verstärkten Einflussnahme auf die entsprechenden Länder erkennen lässt.

Der Patentschutz ist ein Treiber der Impfstoffforschung und garantiert weitere erfolgreiche Impfstoffentwicklungen gegen zukünftige Pandemien: Wir werden zukünftig neue Impfstoffe nur dann erhalten, wenn die Investitionsbereitschaft in Forschungsprojekte erhalten bleibt – und die erfordert dringend den Erhalt des Patentschutzes. Ansonsten droht die Gefahr, dass niemand mehr in die Impfstoffentwicklung investiert, was die Verfügbarkeit neuer Impfstoffe entweder gegen Varianten von SARS-COV-2 oder auch gegen andere Viren (es wird auch in Zukunft von Viren hervorgerufene Epidemien und Pandemien geben!) drastisch reduzieren wird.

Ein solches Szenario schadet dann nicht nur den Industrieländern, sondern auch den weniger industrialisierten Ländern, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen und klimatischen Situation erst recht auf innovative Impfstoffe angewiesen sind. Die Forschung und Entwicklung nur akademischen Einrichtungen oder gar staatlichen Einrichtungen komplett zu überlassen wäre geradezu naiv und verantwortungslos. Seit Januar 2020 sind mindestens 248 Impfstoffprojekte gegen COVID-19 angelaufen, einige wurden bereits eingestellt. Global erfolgreich sind bisher zehn Impfstoffe mit einer Zulassung. In der aktuellen Pandemie befördert der Patentschutz sogar die wichtigen und notwendigen Kooperationen im Innovationsprozess. Denn dem Kooperationspartner wird die sichere Nutzung des Patents erlaubt ohne das exklusive Eigentumsrechte des Originalherstellers daran verloren gehen. Und Patente sind entscheidende Informationsquellen für die medizinische Innovation. Denn als Gegenleistung für den Patentschutz und die exklusive kommerzielle Nutzung ist die Innovation der Allgemeinheit offen zu legen. Sie steht damit als Grundlage für Weiterentwicklungen zur Verfügung und dient letztendlich dem Wissenszuwachs. Wer also medizinischen Fortschritt auch in der Zukunft haben will, darf den Patentschutz nicht in Frage stellen.

Und warum graben wir uns durch die Freigabe des Patentschutzes unser eigenes Grab? Hierzu ist es wichtig, folgende Fakten zu kennen:

Patentschutz ist keine Geheimniskrämerei: Das Wissen der Patentinhaber ist offen einsehbar und steht der weiteren Erforschung neuer Therapieoptionen von Beginn an zur Verfügung. Patente unterstützen die frühzeitige Offenlegung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfindungen. Denn erst wenn geistiges Eigentum geschützt ist, besteht ein Anreiz, Informationen mit Dritten zu teilen. Dies ist umso relevanter bei einer zunehmend kooperativ ausgestalteten Forschungslandschaft: Durch die Öffnung des Innovationsprozesses und die Einbeziehung externen Wissens kann das Innovationspotenzial wesentlich gesteigert werden. Diese wachsende Verzahnung ist gerade auch jungen dynamischen Forschungsbereichen wie der Biotechnologie oder der Digitalisierung eigen. Hier sorgen Grundlagenforscher und Start-Ups für einen kontinuierlichen Fluss neuer Erkenntnisse und Ansätze und suchen übergreifend nach etablierten Kooperationspartnern aus Mittelstand, Großindustrie und Akademia. Patente treiben den Fortschritt, sie verhindern ihn nicht.

Sinken der Innovationsbereitschaft bis hin zum Stillstand: Ein Aussetzen des Patentschutzes für Covid-19 Impfstoffe würde einen Dammbruch darstellen. Man kann damit rechnen – und wir erleben diese Forderungen ja bereits heute -, dass innerhalb kürzester Zeit Forderungen aufkommen werden, den Patenschutz auch in anderen Indikationen aufzuheben. Beispiele für die Bereitschaft einzelner Länder, den Patentschutz zu verletzen, gab es in der Vergangenheit bereits. Und das wäre der Anfang vom Ende medizinischer Innovationen. Wie bei den Impfstoffen werden diese niemals von rein akademischer oder staatlicher Forschung und Entwicklung zur Marktreife gebracht werden können, was für Patienten letztendlich bedeuten würde, keine neuen und innovativen Medikamente mehr zu erhalten. Das schadet den Menschen in allen Ländern, denn nicht nur Pandemien, sondern nahezu alle Krankheiten treten global auf.

Vorteile für das Innovations-Ökosystem: Investitionsentscheidungen forschender Pharmaunternehmen jedweder Größe hängen unmittelbar vom Patentschutz ab. Wertschöpfungsketten von 12-15 Jahren mit Kosten von ca. 2 Mrd Euro und Ausfallquoten von 90% und mehr verlangen einen Schutz von zumindest einigen Jahren um wenigstens die Möglichkeit zu haben, die in die Forschung investierten Mittel wieder zurückzugewinnen. Und das natürlich mit einem Gewinn. Von Investitionsentscheidungen forschender Pharmaunternehmen profitiert ein Innovations-Ökosystem, das weit über den eigentlichen Patentinhaber hinausreicht. Hierzu gehört die Wissenschafts- und Universitätslandschaft ebenso wie aufstrebende Start-ups und hoch spezialisierte Zulieferer- und Dienstleistungsbetriebe

Bedeutung für Deutschland: Ein rohstoffarmes Land wie Deutschland ist auf eine starke Innovationskultur angewiesen, um immer neu zukunftsfähige und nachhaltige Wertschöpfung am Standort zu ermöglichen. In der weltweiten Standortkonkurrenz ist es für Deutschland und Europa von entscheidender strategischer Bedeutung, als führender Innovationsstandort bei zukünftiger Wertschöpfung auch im medizinische Bereich immer vorne mit dabei zu sein. Die positiven Effekte eines entsprechenden Regelungsrahmens sind vielfach belegt: Industrien, die intensiven Gebrauch von Rechten des geistigen Eigentums wie beispielsweise von Patenten, Marken, Geschmacksmustern und Urheberrechten machen, erwirtschaften jährlich 45 Prozent des Bruttoinlandprodukts (6,6 Billionen Euro) der EU und stehen für rund 63 Millionen Arbeitsplätze, das entspricht 29 Prozent der Gesamtbeschäftigung in der EU.

Weitere 21 Millionen Menschen sind in Branchen tätig, die diese Industrien mit Gütern und Dienstleistungen versorgen. Dazu gehören auch Vertrauen und langfristige Rahmenbedingungen als wichtige Voraussetzung für Investitionen. Mit Investitionen in Anlagen, Personal und konkreten Projekten zur Forschung, Entwicklung und Produktion werden Entscheidungen getroffen, die ein Unternehmen für die folgenden Jahre bis Jahrzehnte binden. Unsicherheit über die künftigen Rahmenbedingungen ist Gift für solche Investitionsentscheidungen.

Fazit: Wir brauchen den Schutz des geistigen Eigentums, um weiterhin Innovationen zu ermöglichen, die der ganzen Welt zu Gute kommen. Das gilt aktuell für die Impfstoffe, in Zukunft aber auch für alle medizinischen Indikationen. Eine Aufhebung des Patentschutzes hilft niemandem. Die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes steht insbesondere dann unter Glaubwürdigkeitsvorbehalt, wenn er von Ländern erhoben wird, in denen die Solidarität mit der Weltgemeinschaft in den letzten Jahren eine eher untergeordnete Rolle spielte (America first).

 

Prof. Dr. Jochen Maas