Interview von Matthias Machnig mit Roman Zitzelsberger vom 18.08.2021
Matthias Machnig:
In diesem Jahr sind zwei zentrale Entscheidungen auf den Weg gebracht worden, die klimapolitisch diskutiert werden und auch hohe ökonomische und industriepolitische Konsequenzen haben: das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung und das Programm der Kommission „FitFor55“ mit der Zielperspektive, den CO2-Ausstoss in der EU bis 2030 um 55% zu senken. Mich würde zunächst einmal eine Einschätzung der beiden Programme aus der Sicht von jemandem interessieren, der Arbeitnehmer vertritt und eine Branche, die nicht unerheblich von diesen Maßnahmen betroffen ist.
Roman Zitzelsberger:
Es gibt keine Teilbranche der IG-Metall, die von diesen Maßnahmen nicht betroffen ist. Ganz egal, ob es unsere Grundstoffe wie die Stahl- und Aluminiumproduktion, ob es die Fahrzeugindustrie ist, ob es die Werften, den Maschinenbau und so weiter betrifft. Das zeigt, wie groß die Herausforderung ist. Diese besteht in zwei Dingen: Erstens: wie gelingt es, die ambitionierten Ziele, die wir grundsätzlich auch für richtig halten, zu erreichen? Wir müssen es, zweitens, aber so hinbekommen, dass es einen Fortbestand der industriellen Wertschöpfungsketten gibt und damit logischerweise auch der dahinter hängenden Arbeitsplätze. Die Politik muss jetzt nachlegen: Wie soll das funktionieren? Wie soll der Umbau der Industriegesellschaft tatsächlich funktionieren ohne Wohlstandsverlust, ohne große soziale Brüche und unter Aufrechterhaltung guter und sicherer Arbeitsplätze?
Matthias Machnig:
Heißt das nicht auch, dass wir viel stärker über Wirtschafts-, Innovations- und Industriepolitik reden müssen? Bislang ist die Debatte ja wesentlich durch Ziele bestimmt, aber eben nicht durch wirtschafts-, industrie- und strukturpolitische Themen.
Roman Zitzelsberger:
Ganz eindeutig. Die Frage wird sich im Konkreten tatsächlich in den Regionen entscheiden. Wenn man sich beispielsweise anschaut, welche großen Strukturbrüche das Saarland rund um die Automobil- und Zuliefererindustrie vor sich hat, dann wird die Dimension deutlich. Dort, wo diese Probleme entstehen, müssen sie auch dahingehend gelöst werden, dass über industrie- und strukturpolitische Initiativen Alternativen aufgezeigt werden. Genau das ist auch die Anforderung an die Politik, dafür nicht nur Geld zur Verfügung zu stellen, sondern auch Hilfestellungen zu geben, wie das tatsächlich funktionieren kann.
Die große Sorge, die ich zumindest mit Blick auf die EU-Kommission habe, ist, dass es mit der Zielsetzung und vielleicht mit ein bisschen Mittelverteilung nicht getan ist. Das reicht bei Weitem nicht aus. Wir benötigen eine Umsetzungsinitiative, die für die Regionen industriepolitische Alternativen aufzeigt. Auch was die CDU in ihrer Bundestagswahlkampagne macht, reicht nicht aus. Nämlich zu sagen, Industriepolitik sei Innovationsförderung. Industriepolitik ist am Ende des Tages immer konkret und setzt sich mit den Fragen auseinander, wo welche Betriebe und welche Cluster angesiedelt werden können und mit welcher Unterstützung die Arbeitsmarktpolitik flankiert wird und, last but not least, dürfen wir nicht vergessen, dass es auch unter fairen wettbewerblichen Bedingungen passieren muss. Die EU muss dringend ihre Vergaberechte überprüfen, denn es kann nicht sein, dass weiterhin ungehindert Geld nach Osteuropa fließt mit der Begründung, dort seien die Wirtschaftsdaten noch nicht so gut und gleichzeitig bluten prosperierende heutige Industrieregionen aus, die eben unter heutigen vergaberechtlichen Gesichtspunkten keine Chance haben, an Mittel zu kommen. Insofern ist es vollkommen richtig, dass wir eine breite industriepolitische Initiative brauchen, die sicherstellt, dass dieser Wandel erfolgreich gelingen kann.
Matthias Machnig:
Wieso spielt das in diesem Bundestagswahlkampf eine, wie ich finde, untergeordnete, geradezu nebensächliche Rolle? Es wird viel über das Thema Klima auf einem sehr generellen Niveau diskutiert. Wenn es dann um die Frage geht, wie wir die Transformation möglich machen, gibt es eigentlich keine wirklich tiefe oder auch kontroverse Diskussion.
Roman Zitzelsberger:
Die Frage nach dem Klima ist moralisch extrem aufgeladen. Die Dinge, die aktuell in Deutschland und der Welt passieren, führen jedem vor Augen, wie ernst und dramatisch die Lage ist. Hochwasser von unglaublichem Ausmaß im Ahrtal, Waldbrände in der Türkei und Griechenland. Diese Wetterextreme, die natürlich als Anzeichen von Klimaveränderungen kommen, laden das Thema politisch hoch auf. Ich möchte das gar nicht abqualifizieren, denn wir brauchen einen Kampf gegen den Klimawandel. Aber es ist jetzt so aufgeladen, dass jeder glaubt, sich politisch damit die Meriten verdienen zu müssen.
Wir müssen ganz dingend in der nächsten Stufe des Wahlkampfs über die Frage diskutieren, was dieser klimapolitische Ansatz für eine Industriegesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland bedeutet. Welche Bedeutung hat unser wirtschaftlicher Wohlstand aufgrund dieser hohen Industrialisierung bisher als Gesellschaft hervorgebracht und wie kann man das in die Zukunft retten. Es wird eine große Herausforderung sein, den Blick darauf hin zu schärfen. Dass der ganze Wahlkampf aufgrund verschiedener Dinge immer wieder über den Haufen geworfen wurde – erst ging es nur um Corona, dann hat man sich darüber aufgeregt, dass Annalena Baerbock und Armin Laschet in irgendeinem Buch irgendeinen Unfug geschrieben haben. Kaum ist das über die Bühne, kommen die großen Waldbrände und die Flutkatastrophe im Ahrtal und jetzt bestimmt die ganze Situation in Afghanistan die Schlagzeilen. Alles, was Kern des Bundestagswahlkampfs sein müsste – nämlich wie es die kommende Bundesregierung schafft, diese große und langfristige Herausforderung der Transformation gut zu bewältigen, fliegt in den Schlagzeilen und auch in den Verlautbarungen der Politiker immer wieder raus, und das ist in der Tat ein Problem.
Matthias Machnig:
Die Entscheidungen, die jetzt sowohl in Berlin als auch in Brüssel getroffen worden sind, haben ja auf die Wirtschafts- und die Beschäftigungsstruktur, auf Investitionsanforderungen und -notwendigkeiten extrem hohe Auswirkungen. Hätte es nicht ein umfassendes Impact Assessment von Seiten der Kommission geben müssen? Wie sie ja selber festgestellt hat, hat das nicht umfassend stattgefunden. Wäre ein Impact Assessment nicht eine wesentliche Voraussetzung dafür, um dann gezieltere Maßnahmen für die Unterstützung der Transformation auf den Weg zu bringen?
Roman Zitzelsberger:
Mit Sicherheit ist man gut beraten, wenn man zunächst mal die Ausgangslage vernünftig analysiert und sich dann über die Frage der Folgewirkungen Gedanken macht. Es ist ja relativ banal. Der Schlüssel, damit diese Transformation gelingt, ist doch der: Gelingt die Energiewende? Wenn die Energiewende weiterhin so vor sich hindümpelt wie bisher, kann die Zielsetzung immer weiter verschärft werden, sie nützt nur nichts, denn solange uns nicht genügend regenerative Energie zur Verfügung steht, werden wir immer wieder in die gleiche Falle laufen.
Wir diskutieren momentan beispielsweise darüber, über synthetische Kraftstoffe die Bestandsflotte CO2-neutral betreiben zu können. Viele sind für Technologieoffenheit und dafür, ganz dringend daran zu arbeiten, auch mit synthetischen Kraftstoffen den Autoverkehr betreiben zu können. Gleichzeitig wollen andere den Verbrenner verbieten. Tatsache ist, würde man die Sache mal von der Energieseite vernünftig beleuchten, würde man feststellen, dass wir mit Blick auf Deutschland ungefähr die zweieinhalbfache Menge des heute benötigten Stroms benötigen werden, um die ganze Wirtschaft, die Industrie, den Verkehr und die Gesellschaft CO2-neutral zu betreiben. Dazu kommt die Voraussetzung, dass wir diesen Strom tatsächlich als regenerativen Strom bräuchten. Heute haben wir an guten Tagen etwa 50% regenerativen Strom. Das zeigt, wie wichtig eine vernünftige Beurteilung der Ausgangslange und eine klare, strategische Ausrichtung sind. Also: was heißt eine Transformation denn im Konkreten? Womit hat man am meisten Erfolg? Womit kriegt man am meisten bewegt? Wenn man all das von vornherein vernünftig durchkalkuliert hätte, wären wir vermutlich zu anderen Schlussfolgerungen gekommen, wo die größten Stellhebel sind. Die EU-Kommission muss sich kritisch vorwerfen lassen, dass keine vernünftige Vorbereitung erfolgt ist.
Matthias Machnig:
Das Ganze ist nicht nur eine quantitative Frage, sondern auch eine Preisfrage. Wir haben die höchsten Strompreise in Europa. Angesichts der Transformation ist das eine zentrale Herausforderung. Einige fordern nun einen Industriestrompreis von 4 Cent – in jedem Fall eine Absenkung des Strompreisniveaus. Wie stehst Du dazu?
Roman Zitzelsberger:
Ich glaube, wir werden nicht umhinkommen, die Frage des CO2-Fußabdrucks auch über den Strompreis abzubilden. Da würde ich schon die Anforderung stellen, dass wir jetzt nicht einfach einen günstigen Industriestrompreis festlegen können, weil es für die Firmen dann vielleicht uninteressanter wird, bei dem Thema der Energieeffizienz schneller voranzugehen. Ein wesentlicher Teil der Energiewende muss über Energieeffizienz laufen und wenn man das noch alles billiger macht, ist die Frage, ob an der Stelle überhaupt etwas passiert. Insofern sehe ich es kritisch. Gleichwohl ist eines richtig: im internationalen Maßstab sind die Strompreise für den industriellen Sektor wie auch für Privatpersonen zu hoch. Da muss man dringend nachdenken, wie man zwischen regenerativem und nicht-regenativem Strom einen Steuerungsmechanismus einführen kann und gleichzeitig alles bezahlbar hält.
Matthias Machnig:
Besteht das Grundproblem nicht eigentlich darin, dass wir eine Entkopplung von Zieldiskussion, Transformationsschritten und Transformationsrahmenbedingungen haben? Gibt es so etwas wie einen Policy Gap, der dringend gefüllt werden muss, weil die Bereitschaft, etwas zu tun, hoch ist, allerdings die Rahmenbedingungen unklar sind?
Roman Zitzelsberger:
Ich würde noch einen Schritt vorher gehen. Zunächst einmal müssen wir uns die Frage stellen: in welcher Welt wollen wir zukünftig leben? Diese Frage muss zuerst beantwortet werden. Und wenn das Thema des Klimawandels und der Klimagesetzgebung vor der Klammer steht und alles Weitere kommt nach der Klammer, dann wird sich dieser Policy Gap nicht schließen lassen. Das beginnt damit: wollen wir weiterhin in Deutschland und in Kerneuropa ein klares Bekenntnis, dass wir Industrieland sein wollen und wollen wir damit sicherstellen, dass viele gut bezahlte Arbeitsplätze ein wesentlicher Eckfeiler unseres Wohlstands sind? Diese Frage lässt sich jedoch nicht dadurch beantworten, dass wir uns alle gegenseitig sagen, es wäre besser ein Schnitzel weniger zu essen und eine Flugreise weniger anzutreten. Das ist alles richtig, aber im Kern muss es ein klares Bekenntnis zum Thema Industrieland Deutschland und Industrieregion Europa geben.
Und dann kommt der Punkt, den Du richtigerweise ansprichst, dass wir ein paar Lücken schließen müssen, indem wir uns fragen, wie wir die beiden Dinge zusammenkriegen – eine funktionierende Klimagesetzgebung, ein klarer Kampf gegen den Klimawandel und gleichzeitig eine Umgestaltung einer Industrie, die mit vielen guten Arbeitsplätzen ein ökologischer Exportschlager werden könnte. Das ist eine große Chance, die dahinter steckt, denn wer soll es denn können, wenn wir das nicht können? Um das hinzubekommen, braucht man dann aber auch eine klare Zielrichtung mit entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen.
Matthias Machnig:
In allen Programmen ist eines zu lesen: Ökonomie und Ökologie müssen versöhnt werden. Diesen Satz kenne ich mindestens 40 Jahre. Muss man nicht angesichts der Aufgaben, die vor uns stehen, auch ordnungspolitisch neu denken? Brauchen wir nicht ein neues Verhältnis von Staat und Markt? Nicht, dass der Staat alles tut, aber dass er zum Beispiel Investitionen fördert und die Transformation unterstützt und dabei hilft- und das ist ja die Krux -, dass zum Teil noch nicht wettbewerbsfähige Technologien in den Markt kommen müssen, wenn man die Ziele zumindest Richtung 2030 erreichen möchte. Brauchen wir nicht ein neues Verhältnis von Staat und Markt, um diese Transformation bewältigen zu können?
Roman Zitzelsberger:
Grundsätzlich ja. Ohne gewisse Steuerungen seitens des Staates wird es nicht funktionieren. Ich mache es mal an einem banalen Beispiel deutlich: mich treibt momentan in der Auto- und Zulieferindustrie weniger die Transformation selber um, als vielmehr eine unglaubliche Verlagerungskarawane dahin, wo es immer billiger wird. Die Politik muss dort eine andere Rolle spielen, als sie es bisher tut. Ich bin da weit weg vom Staatssozialismus, aber in dem Ministerium, in dem du mal beschäftigt warst, gab es einen Wirtschaftsminister, der gesagt hat, „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“. Da sind wir glücklicherweise einen deutlichen Schritt weiter, es hat nämlich mittlerweile nahezu jeder Politiker mit nahezu egal welchem Parteibuch den Anspruch, dass wir eine Industriepolitik brauchen. Das war für manche in der Vergangenheit verpönt.
Nun müssen wir fragen, welchen weiteren ordnungspolitischen Rahmen es braucht. Zum Beispiel gezielte Subventionen für bestimmte Dinge. Teilweise machen wir das auch schon – Stichwort Elektromobilitätsprämie oder die Frage der Förderung von Photovoltaik-Anlagen. Das sind genau diese steuerungspolitischen Mechanismen, die es braucht. Ich kann mir auch vorstellen, dass man mit Zukunftstechnologien da noch deutlich weiterkommt.
Wenn ich jedoch den Industrieprotektionismus in Frankreich und teilweise auch in den USA betrachte und mir dann anschaue, wie in Deutschland damit umgegangen wird, würde ich mir dringend wünschen, dass wir nicht nach dem Motto handeln „wenn jeder nach sich selber schaut, ist nach allen geguckt“. Wir sollten uns stattdessen überlegen, welchen nationalen Blick auf den Erhalt unserer Industrie- und Wohlstandsgesellschaft und welche ordnungspolitischen und fiskalischen Steuerungsmechanismen wir brauchen.
Wir dürfen nicht Dinge päppeln und hätscheln, die am Ende des Tages zum Rohrkrepierer werden. Da muss es schon ein Stück weit das Durchsetzen am Markt der Dinge geben, die auch stabil genug sind. Ein Beispiel, wie es eben nicht passieren darf, ist die Ansiedlung der Batteriezellforschungsfabrik im Wahlkreis von Frau Karliczek. Das muss man bei dieser Debatte abwägen.
Matthias Machnig:
Der BDI fordert zum Beispiel – und das meine ich mit einem neuen Verständnis des Zusammenspiels von Staat und Markt – 50 Milliarden Euro pro Jahr für 10 Jahre zur Begleitung der Transformation. Um zum Beispiel Investitionskosten zu unterstützen – etwa in der Stahlindustrie, um Carbon Contracts for Diffence, also Preisdifferenzen, wenn man auf grünen Wasserstoff umsteigt, zu unterstützen. Teilt die Gewerkschaft diese Position und wieso wird eigentlich diese Frage nicht stärker in die Debatte gerückt? Ich glaube, es gibt inzwischen einen relativ breiten Konsens, wenn ich mit Vertretern aus Verbänden spreche, dass ohne einen solchen Transformationsfonds die Transformation nicht gelingen kann oder es zumindest massiv dazu führen wird, dass es zu Strukturveränderungen oder gar Strukturbrüchen kommen kann.
Roman Zitzelsberger:
Ich teile das vom Grundsatz her ausdrücklich, aber man muss einen Gedanken mitdenken. Wir haben es in der öffentlichen Wahrnehmung mehrheitlich mit international agierenden Konzernen zu tun, die ihre Shareholder auf dem globalen Kapitalmarkt sitzen haben.
Also ist die Frage, wenn man solche immensen Fördersummen ausschüttet, was mit dem Geld im Konkreten passiert. Ich kann sowas gut unterstützen, aber dann müssen die Unternehmen auch entsprechende Spielregeln eingehen. Da geht es um die Frage der Lokalisierung dessen, was gefördert wird, und darum, unter welchen Sozialbedingungen das stattfindet. Wer Geld kriegt, hat tarifgebunden und hat mitbestimmt zu sein. Und es ist klar, dass in Fördersituationen nur in sehr bescheidenem Maße – wenn überhaupt – Gewinnausschüttungen an die Shareholder stattfinden können. Da beißt sich dann wahrscheinlich beim BDI die Katze in den Schwanz, weil sie auf der einen Seite laut nach dem Staat rufen, aber auf der anderen Seite diesen Teil der unternehmerischen Freiheit behalten wollen.
Ich bin also sehr dafür zu sagen, dass wir das große Geld brauchen, um die Transformation zu bewerkstelligen, aber dann müssen die Unternehmen bereit sein, sich bestimmten Restriktionen zu unterwerfen, wenn sie dafür die entsprechende Unterstützung bekommen.
Matthias Machnig:
Volle Zustimmung. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen und es muss klar sein, wofür das Geld eingesetzt wird. Aber wie weit die Debatte gediehen ist, kann man ja in einem Gedankenspiel, das selbst Markus Söder gemacht hat, auf den Weg bringen. Er hat zumindest indirekt angedeutet, dass er sich vorstellen kann, die Schuldenbremse für Zukunftsinvestitionen im Bereich der Transformation außer Kraft zu setzen. Ich finde das erstaunlich für einen konservativen Politiker, aber das zeigt, dass man auch dort zumindest in Teilen zu begreifen scheint, dass die Transformation ohne massive staatliche Unterstützung nur schwer gelingen kann.
Roman Zitzelsberger:
In der Tat hat Herr Söder da einen richtigen Punkt gebracht. Ich halte die Schuldenbremse für vollkommen geeignet dafür, dass wir nicht-investive Dinge nicht auf Pump finanzieren können. Aber jede Investition hat auch einen return on investment. Wenn sich der Staat verschuldet, um Investitionen zu tätigen, sollten wir dies unter einer Abschreibe- und Wiederbeschaffungslogik betrachten, statt dies einer rein fiskalischen Betrachtung zu unterziehen, die nur danach schaut, dass nicht mehr ausgegeben als eingenommen werden darf.
Ich nenne mal ein Industrie-untypisches Beispiel: unsere Verkehrsinfrastruktur, unsere Brücken und die ganze Frage der Binnengewässer, der Binnenschifffahrt und der dort vorhandenen Schleusenwerke. Das sind alles vollkommen veraltete Dinge. Dort zu investieren und sicherzustellen, dass das, was mal investiert wurde, auch permanent auf der Höhe der Zeit bleibt, das ist doch ein echter Wert und eine notwendige Investition und eben keine Logik, die man mit der schwarzen Null oder der Nichtverschuldung beschreiben kann. Auch im industriellen Sektor sollten wir darüber nachdenken, solche Dinge zu tun, bei der Frage von Industrieansiedlung und von guten Arbeitsplätzen, die man über die entsprechende Einnahme durch Unternehmens- und Arbeitnehmersteuern wieder refinanzieren kann. Ich glaube, da muss man mal über ein anderes Finanzierungsmodell der Bundesrepublik Deutschland nachdenken als über die kameralistische Logik, die ja heute immer noch die Grundlage ist.
Matthias Machnig:
Wo siehst du die wichtigsten Handlungsfelder, um die Transformation – auch die digitale Transformation – voranzubringen und den Policy Gap zu schließen? Das Ganze wird ja nur möglich sein über eine massive Steigerung der Investitionen – in grünen Wasserstoff, in die Batteriezelltechnologie usw. Was sind also die wichtigsten Maßnahmen und wie fördern wie vor allem Investitionen – und zwar eine Mischung aus öffentlichen und privaten Investitionen?
Roman Zitzelsberger:
Es braucht zunächst einmal das Grundbekenntnis, dass wir weiterhin den gesellschaftlichen Wohlstand einer Industriegesellschaft genießen wollen. Ich habe den Eindruck, dass es noch nicht allen klar ist, dass man diese Frage auch beantworten muss. Dann kommt der nächste Schritt, nämlich sicherzustellen, dass dafür alles Notwendige getan wird und insbesondere auch aufzudröseln, was es im Konkreten heißt. Die Schlüsselfrage ist: funktioniert die Energiewende? Ich bin sehr für Föderalismus, aber es kann nicht jeder Kirchturmbesitzer sagen, „bei mir darf keine Trasse gebaut werden“. Sondern es braucht ein paar Direktiven, die politisch durchgreifen. Das ist das Allerwichtigste. Wenn diese Energiewende nicht funktioniert, wird das ganze Ding nicht funktionieren. Dann geht es innerhalb dieser Frage der jeweiligen Sektoren darum, wo man die schnellsten und größten Effekte hat. Wenn man beispielsweise im Verkehr gegenüber 1990 den CO2-Ausstoß um weit über 50% senken will, vor einem Jahr waren das noch 40%, dann ist eines klar, das wird nur funktionieren, wenn es dafür die notwendige Ladeinfrastruktur gibt. So gibt es viele andere Ecken, die durchdacht werden müssen hinsichtlich der Frage, wie die Ziele zu erreichen sind und wie man diese Herausforderungen auch in der notwendigen Zeit umgesetzt bekommt.
Ich mache das mal an einem historischen Beispiel fest: Wenn die Generäle von Napoleon die Idee hatten, ihm zu sagen, wo man einmarschieren könnte, dann wollte Napoleon immer wissen, wie viele Pferde brauchen wir dafür und haben wir die Pferde überhaupt? Militärische Beispiele sind immer schlechte Beispiele, ich weiß. Aber genau dieses Grundprinzip muss sich die Politik zu eigen machen, nämlich, die hinter einer Vision liegende Frage erstmal zu beantworten: was brauche ich dafür und ist das unter realistischen Gesichtspunkten zu erreichen? Das ist im Wesentlichen der Policy Gap, der Realitätscheck, den die Politik machen muss. Das gilt nicht nur für die Frage des Klimawandels, sondern auch für die ganze Frage der Digitalisierung. Das beginnt bei der Infrastruktur und geht weiter bei einer Alphabetisierungskampagne im Rahmen der Digitalisierung, die die gesamte Gesellschaft umfasst, und damit wird auch deutlich, wie groß die Aufgabe ist und wie dringend das angegangen werden muss.
Zu deiner letzten Frage, wie wir die öffentlichen und privaten Investitionen zusammenkriegen. Bei den privaten Investitionen muss es die entsprechende Anreizlogik geben, damit eine Investition tatsächlich den dahinterliegenden return on investment hat. Bei der Frage der staatlichen Investitionen geht es darum zu sagen, was erforderlich ist, um auch zukünftig in dem Land zu leben, in dem wir auch leben wollen mit gesellschaftlichem Wohlstand und all den Dingen, die uns lieb und teuer geworden sind.
Matthias Machnig:
Wenn man über Rahmenbedingungen diskutiert, gibt es einige, die Steuersenkungen fordern. Das halte ich für den völlig falschen Weg. Aber muss man nicht beispielsweise über Investitionszulagen und bessere Abschreibungsbedingungen für Transformationsinvestitionen nachdenken? Oder auch – wenn ich etwa an die Stahlindustrie denke – über so etwas wie Supercredits, die wir heute schon in der Automobilindustrie haben. Also die mehrfache Berücksichtigung bei der Freizuteilung von Zertifikaten von Investitionen, die zu einer wirklichen Reduzierung der CO2-Emissionen führen. Brauchen wir nicht solche Rahmenbedingungen, damit sich Investitionen am Ende des Tages wirklich lohnen? Muss da nicht ein Rahmenwerk geschaffen werden, das Transformationsinvestitionen massiv unterstützt und privilegiert?
Roman Zitzelsberger:
Ja, das sind genau die Anreize, die ich eben gemeint habe: Steuerliche Sonderabschreibungen auf bestimmte Investitionen und auf Forschungs- und Entwicklungskosten usw..
Wenn man sich anschaut, wo es die größten Effekte beim Thema CO2-Reduktion in kurzer Zeit gibt, sieht man, dass es beispielsweise bei der Stahlindustrie gigantische Effekte gibt. Noch größere Effekte gibt es in der Beton- und Zementwirtschaft. Das sind 15% der CO2-Emissionen, da gibt es bloß noch keine Antwort darauf, wie man das technisch lösen kann. Aber dort würde es sich lohnen, mit solchen Sondermaßnahmen wie Supercredits die Beschleunigung der CO2-Reduktion zu forcieren.
Das heißt nicht, dass man dann an anderer Stelle langsamer machen darf, sondern dort, wo man die größten Effekte am schnellsten hinkriegt, da muss man am meisten reininvestieren, um auch den Beweis zu erbringen, dass CO2-neutrale Stahlproduktion durch grünen Wasserstoff funktioniert, und das ist nicht nur was, was man im Labor mal ausgetestet hat, sondern man kann das beweisen und damit sicherstellen, dass die Stahlindustrie auch weiterhin in Deutschland eine Zukunft hat.
Matthias Machnig:
Deutschland hat an zwei Stellen gezeigt, wie der Ausstieg funktioniert – nämlich beim Thema Kernenergie und beim Thema Kohle. Im Übrigen immer in einem Konsens. Brauchen wir nicht auch einen Konsens über den Einstieg und eine Transformationsallianz, in der nicht am grünen Kabinettstisch entschieden wird, sondern wo es gelingt – etwa wie in der Kohlekommission – Bundesregierung, Unternehmen und Gewerkschaften an einen Tisch zu holen und mit ihnen gemeinsam ein Maßnahmenpaket auf den Weg zu bringen, das die Rahmenbedingungen für die nächsten Jahre sichert, damit Klarheit herrscht, unter welchen Investitions- und sonstigen Rahmenbedingungen die Transformation gelingen kann. Die bisherige Erfahrung war, dass die Ministerien für sich alleine vor sich hin gewerkelt haben. Ein wirkliches, umfassendes Transformationsprogramm ist daraus jedoch nicht entstanden. Also brauchen wir so etwas wie eine Transformationsallianz, wo die wichtigsten Stakeholder und Interessensvertreter an einem Tisch sitzen und die Eckdaten definieren?
Roman Zitzelsberger:
Der Gedanke ist vollkommen richtig: Nicht nur die Abwicklungsthemen konsensual umzusetzen, sondern auch die Zukunftsthemen. In 2-3 Stunden geht die in der Form letzte KAM-Runde (Konzertierte Aktion Mobilität, Anm. d. Redaktion) zur Zukunft der Automobilindustrie los, wo es vor allem um das Thema der Ladeinfrastruktur geht. Dort findet sowas ja im Kleinen statt. Ich glaube, wir müssen es größer denken, wie die Stakeholder der Kernbereiche zusammenkommen. Ich glaube, es braucht schon ein klares gesellschaftliches Commitment. Es geht eben über die Frage des Klein-Klein der Kirchturmpolitik hinaus. Wenn wir den Erhalt der Industrie und die Energiewende tatsächlich wollen, dann dürfen wir uns nicht im Klein-Klein der Distanz von Wohnort und dem nächsten Windrad verlieren, sondern da braucht es bezogen auf die Frage, wie es konkret geht, eben auch den gesellschaftlichen Konsens. Insofern ist der Gedanke vollkommen richtig, aber wir müssen es größer denken als nur über Verbändevertreter…
Matthias Machnig:
Das war nicht meine Meinung. Meine Meinung ist, dass Unternehmensvertreter und Gewerkschaften an einem Tisch sitzen und darüber reden müssen. Meine Sorge ist: Wir werden eine neue Bundesregierung welcher Farbenlehre auch immer erleben und ich habe mehrfach miterlebt, dass, wenn eine neue Regierung kam, alle erstmal zu wurschteln anfangen, aber es eben kein klares Programm gibt. Eine gut vorbereitete Transformationsallianz direkt zu Beginn der Legislaturperiode, die Eckdaten für die nächsten Jahre gut definiert – auch was die finanziellen und sonstigen Rahmenbedingungen angeht – könnte helfen, diesen Prozess zu unterstützen.
Roman Zitzelsberger:
Ich würde sie nur Zukunftsallianz nennen. Der Transformationsbegriff ist mittlerweile totgeritten. Aber wir brauchen so etwas wie ein Zukunftsleitbild für die Frage, wie wir leben wollen und was jetzt getan werden muss, um in die richtige Richtung zu gehen. Also im Sinne eines politisch-strategischen Prozesses, der über eine Legislaturperiode hinausgeht. Das ist ja auch das Problem, dass wir über Dinge reden, die sich in 10-15 Jahren realisiert werden haben müssen, aber die Leute, die heute darüber entscheiden, dann nicht mehr in der Verantwortung sein werden. Jenseits der unmittelbaren Regierungsarbeit brauchen wir sowas wie ein Leitbild, an dem sich alle zu orientieren haben, und an dem die Parteien ihre Vorschläge im Rahmen einer Wahl einzubringen haben, wie sie versuchen wollen, dieses gesellschaftliche Leitbild auch umzusetzen. Das muss aus meiner Perspektive ganz klar ein industriepolitisches Zukunftsleitbild sein, das aussagt, dass wir den Anspruch haben, auch zukünftig noch eine Industrienation zu sein. Allerdings eine, die nicht nur ökonomisch, sondern auch klimagerecht, sozial und mitbestimmt ist.
Matthias Machnig:
Ich tue mich mit Leitbildern immer sehr schwer, da sie häufig im Allgemeinen verbleiben und ich glaube, wir müssen weg vom Allgemeinen.
Von einem bin ich zutiefst überzeugt: ohne eine starke Beteiligung der Gewerkschaften wird dieser Prozess nicht funktionieren. Wir benötigen ganz konkrete Policy-Maßnahmen – nennen wir es Zukunftsallianz – und zwar möglichst schnell, denn sonst werden wir das 2030-Ziel nicht erreichen können und das Risiko eingehen, dass Strukturbrüche passieren und dass Deutschland, das ja immer behauptet, Vorreiter sein zu wollen und Leitorientierung geben zu wollen, das nicht schafft.