30.08.2021Arbeitswelt

Fachhochschulen für die Wirtschaft in Krisenregionen

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Die im Landkreis Harz verbreitete Werbezeitung „Wochenspiegel“ titelte unlängst mit „Der Letzte macht das Licht aus“, darunter eine Abbildung mit Rollatoren vor einem Seniorenheim. Gleichzeitig konstatierte der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, die Ost-West-Angleichung mache gute Fortschritte. Ein Widerspruch? Keinesfalls.

Die Kennzahlen für den Aufholprozess des Ostens sind schließlich Mittelwerte, die durch die wirtschaftlich erfolgreichen Leuchttürme wie Jena, Potsdam, Leipzig, Berlin, Dresden, Rostock, Schwerin, Frankfurt/Oder, Erfurt, Magdeburg oder Chemnitz mit ihren jeweiligen Speckgürteln auf ein akzeptables Niveau angehoben werden. In den strukturschwachen, ländlichen Regionen im Osten sieht es hingegen ebenso düster aus wie in Bremen, Bremerhaven, in Teilen des Ruhrgebietes oder des Saarlands: wenig größere Unternehmen, ein geringes Durchschnittseinkommen, wenig Privatvermögen und ein überwiegend negatives Bevölkerungssaldo. Auf der Basis von 2017 verliert der ländliche Raum im Osten bis 2035 noch einmal zwischen 10 und 20 % seiner Einwohner, während die Stadt Leipzig einen Bevölkerungszuwachs von 16,5 % erwarten kann. Manch kleines Dorf in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt wird gänzlich von der Landkarte verschwinden.

Unter Nutzung von Indikatoren wie BIP/Einwohner und durchschnittliches Haushaltseinkommen unterscheiden Fina, S. u.a. (Ungleiches Deutschland- Sozioökonomischer Disparitätenbericht, Friedrich-Ebert-Stiftung (2019)) mittels einer Clusteranalyse 6 signifikant unterschiedliche Räume (Abbildung 1).

 

In der Fachliteratur wird die Frage unterschiedlich beantwortet, ob erhebliche Disparitäten als natürliche Folge eines Wettbewerbs zwischen Regionen auf Dauer toleriert werden können. Wird der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet und damit die Hinwendung zu extremistischen Ideologien befördert, wenn sich Menschen in strukturschwachen Räumen als abgehängt, als Bürger zweiter Klasse empfinden? Diese These wird durch die Ergebnisse bei den letzten Wahlen gestützt. Zudem ist es doch volkswirtschaftlich sinnvoll, die Schere zwischen strukturschwachen und -starken Regionen durch Wirtschaftsförderung zu verkleinern, egal ob im Westen oder Osten Deutschlands. Eine räumliche Entzerrung ökonomischer Prosperität würde einerseits die kostenintensive soziale Alimentierung von Krisenregionen abbauen, andererseits die Strukturprobleme wie Wohnungsmangel mit der einhergehenden Mietenexplosion und Verkehrschaos in den dynamischen Metropolen vermindern.

Absolut gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland sind unrealistisch und werden ernsthaft von keinem Politiker gefordert. Dennoch sind die bestehenden Disparitäten nicht hinnehmbar. So haben sich die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten und alle Bundesregierungen seit 1990 zum „Aufbau Ost“ bekannt und hierfür die gigantische Summe von ca. 2 Billionen € eingesetzt. Trotz dieser – überwiegend von Westdeutschen finanzierten Solidarleistung – ist es nach 30 Jahren „Aufbau Ost“ ganz offensichtlich nur in Berlin, in den Landeshauptstädten und einigen Oberzentren des Ostens gelungen, einen sich selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung als Grundlage vergleichbarer Lebensverhältnisse zu organisieren.

Die Bundesregierung hat sich der Disparitätenfrage durch die Einsetzung einer Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ gestellt. In verschiedenen Arbeitsgruppen wurde erörtert, wie man durch gute medizinische Versorgung, einen akzeptablen öffentlichen Nahverkehr, Kinderbetreuung und Kulturangebote dazu beitragen kann, strukturschwache Regionen attraktiver zu machen. Dennoch: Menschen im Erwerbsalter werden ihren Wohnsitz nicht wegen dieser weichen Standortfaktoren in eine Krisenregion außerhalb der bekannten Speckgürtel verlegen bzw. nur wegen deren Fehlen ihre Heimat verlassen. Das Kommen, Bleiben oder Verlassen von qualifizierten Arbeitskräften hängt vor allem von den Arbeits- bzw. Verdienstmöglichkeiten ab, an denen es in den strukturschwachen Räumen mangelt. Die bekannten Instrumente der Wirtschaftsförderung wie Fördermittel oder Investitionen in die Infrastruktur (Verkehr, Breitband) sind zwar weiterhin notwendig, aber offensichtlich nicht hinreichend.

Jenseits der genannten Leuchttürme ist die Firmenlandschaft in den strukturschwachen Gebieten Ostdeutschlands kleinteilig, ohne Produktionstiefe und Innovationskraft. Die Hoffnung auf eine nennenswerte Zahl von Ansiedlungen zukunftsfähiger Unternehmen auf den grünen Wiesen der Krisenregionen ist realitätsfern. Solche Firmen finden meist dort ihr Zuhause, wo auch industrienahe Forschung beheimatet ist. So haben Hochschulen, Fachhochschulen, Institute der Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft sowie der Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass sich auch in einst strukturschwachen Gebieten Westdeutschlands innovative Unternehmen gründen und im Wettbewerb behaupten konnten.

Fertigungs- und Produktkonzepte, die auf KI, Nanotechnik, Biotechnologie, Robotik, Optik, Mess-, Steuer- und Regeltechnik, Digitalisierung, Batterietechnik, Elektromobilität und anderen Technologien beruhen, sind nicht nur zukunftsfähig, sondern ihre Bruttowertschöpfung ist auch überdurchschnittlich hoch. Mit einer Ansiedlung von MINT – orientierten Fachhochschulen in ausgewählten Mittelzentren der neuen Bundesländer könnten nach einigen Jahren auch im ländlichen Ostdeutschland innovative Firmen entstehen. Diese Unternehmen würden gut bezahlte Arbeitsplätze in und um die Mittelzentren herum anbieten, mit einer weiteren Verzögerung auch das Gewerbesteueraufkommen der Kommunen erhöhen und am Ende den Bevölkerungsschwund beenden (vgl. Brecht, E.: Strukturpolitik und Innovation zusammen denken. Raumplanung 212, Heft 3-4, S. 79-84 (2021)). Dagegen führt die Verstetigung der Programmfamilien „Innovation & Strukturwandel“, „Unternehmen Region“ und das Programm „INNO-KOM“ vor allem zu einer Stärkung bereits bestehender Verbindungen zwischen Forschung und Wirtschaft; der ländliche Raum geht hier eher leer aus. Ob dieser von der „Zukunftscluster-Initiative“ profitieren wird, ist fraglich.

Drei Hindernisse stehen dem vorgeschlagenen Paradigmenwechsel entgegen:

Erstens: Für die Ansiedlung von Forschungseinrichtungen und innovativ ausgerichteter Fachhochschulen müssen nicht nur erhebliche Mittel aufgebracht, sondern damit auch deren Finanzierungssystem insgesamt verändert werden. Bislang lag der Anteil an FuE-Ausgaben am BIP in den neuen Bundesländern einschließlich Berlin mit 2,57 % erheblich unter dem (im internationalen Vergleich ohnehin nicht herausragenden) Niveau des westlichen Deutschlands mit 3.2 %. Warum also sollte man nicht das Potenzial dieser Differenz gezielt für Strukturpolitik aufwenden?

Zweitens: Der ländliche Raum der ehemaligen DDR hat – nicht erst als Folge der Abwanderung bis 1961 und nach 1990 – ein Defizit an Qualifizierungskapital. Weshalb sollten sich Fachkräfte und Akademiker aus Hamburg oder München entscheiden, ihren Lebensmittelpunkt in die mit einem schlechten Image behafteten neuen Bundesländer zu verlegen? Nun, durch attraktive Angebote wie ein Einkommen, das leicht über dem in Metropolregionen liegt, wie die ansonsten in der Wissenschaft selten gewordenen unbefristete Arbeitsverhältnisse, gute Familieninfrastruktur, gute und bezahlbare Wohnmöglichkeiten, eine intakte Natur und geringe Lebenshaltungskosten kann durchaus qualifiziertes Personal für Institute sowie für Forschungsabteilungen der Wirtschaft rekrutiert werden. Dabei müssen auch Fachkräfte weltweit gezielt angeworben werden. Selbst im überwiegend prosperierenden Südwesten Deutschlands kommen inzwischen 12 % der Beschäftigten im MINT-Bereich aus dem Ausland.

Drittens: Schließlich geht es um den politischen Willen, den Problemregionen in Deutschland eine Chance für eine selbsttragende, zukunftsfähige Wirtschaft zu geben. Das Interesse der Menschen, insbesondere der Politiker aus den Metropolregionen an Umverteilungsdebatten ist nachvollziehbar verhalten. Die Bevölkerung der alten Bundesländer wird von ganz anderen Herausforderungen bewegt als von der Verringerung von Disparitäten. Es geht um die Überwindung der Pandemie-Folgen, Umweltprobleme allgemein und die Klimapolitik im Besonderen. Zudem orientiert Politik ihr Handeln überwiegend an Legislaturperioden, um Wählerinnen und Wählern kurzfristig erreichbare Ergebnisse präsentieren zu können. Erfolge der vorgestellten Strategieänderung sind aber erst in ein, zwei Generationen messbar.

Ist ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftsförderpolitik also unrealistisch?

  • Ich denke nein, wenn die Ostdeutschen ihre Strukturprobleme nicht larmoyant singularisieren, sondern mit den Westdeutschen aus den städtisch geprägten Krisenregionen zusammen für ein nennenswertes Forschungspotenzial streiten.
  • Ich denke nein, wenn dem Steuerzahler bewusst wird, dass intelligente Strukturpolitik kostengünstiger als eine dauerhafte Alimentierung von abgehängten Räumen ist.
  • Ich denke nein, wenn uns allen bewusst ist, dass wir bei andauernden weltweiten sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und umweltbedingten Herausforderungen auf einen guten Zusammenhalt der Menschen in unserem eigenen Land angewiesen sind.

 

Dr. Eberhard Brecht