01.09.2021Digitalisierung

Ein mutiges Europa kann digitaler Vorreiter sein!

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Jeder industrielle oder technische Umbruch, jede Neuerung bietet Chancen und stellt uns gleichzeitig vor neue Aufgaben.

Im Falle der Digitalisierung – der sogenannten „vierten industriellen Revolution“ – sind es neben technischen vor allem ethische und gesellschaftliche Fragen, die einer politischen Antwort bedürfen. Allen voran: Wie garantieren und organisieren wir, dass aus dem technologisch-wirtschaftlichen Fortschritt erneut sozialer Fortschritt erwächst?

Eine zentrale Verantwortung und ein nötiger Schlüssel des Erfolges liegt in einem demokratischen und souveränen Europa. Dafür müssen wir uns als Europäerinnen und Europäer unserer gemeinsamen Chancen und Verantwortung bewusst werden. Wer sich mit den politischen Folgen beschäftigt, sollte sich zunächst vergegenwärtigen, was „die Digitalisierung“ eigentlich ist, wie sie unser Arbeiten und Leben beeinflusst und ob sie über uns „hereinbricht“ – oder ob wir sie gestalten können. Letzteres kann ich vorwegnehmen: Ja, wir können, wir müssen sogar!

Die Digitalisierung kann ohne Übertreibung – neben der Dekarbonisierung, also der Abkehr von fossilen Energieträgern, vor allem der Kohle – als der bestimmende Megatrend unserer Zeit bezeichnet werden. Sie ist dabei keine „disruptive Welle“, kein „digitaler Tsunami“, der alles zerstört. Dafür müssen wir die Welle kanalisieren, Flutmauern errichten und die neue Kraft des Digitalen und Vernetzten schöpferisch nutzen.

Welche Kraft die digitale Vernetzung entfalten kann, haben nicht zuletzt die „Sozialen Medien“ im sogenannten „Arabischen Frühling“ im Jahr 2011 gezeigt: Vor allem in Nordafrika protestierten Millionen Menschen gegen die Unterdrückung ihrer Machthaber und die schlechten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Der direkte Austausch über Facebook, Twitter, in Foren und über Blogbeiträge hatte eine neue Informationsstruktur geschaffen, abseits der autoritären Kanäle.

Erst durch diese Vernetzung konnten sich viele Freiheitskämpfer*innen in ihrem Drang nach Demokratie, Mitbestimmung und sozialer Teilhabe bestärken und sich so wirksam mobilisieren. Ohne die Digitalisierung und die damit möglich gewordene Vernetzung wären wohl nie so viele mutige Menschen gemeinsam auf die Straßen gegangen. Langfristig bietet die Digitalisierung eine reelle Chance, autoritäre, repressive Strukturen zu Fall zu bringen. Das Beispiel des Arabischen Frühlings sollte uns ermutigen.

Digitalisierung beeinflusst auch unser Wirtschaften. Als eine weitere Stufe eines Industrialisierungsschrittes wird sie uns dauerhaft prägen. Staaten und Bürger dürfen sich die Form dieser Prägung aber nicht aufzwingen lassen – wie von den neuen Propheten der Digitalisierung und Tech-Giganten gewollt.

Dahinter steht der Wunsch des Monopols und des Marktdesigns, heute Plattformisierung genannt, und zwar nach ihren eigenen Regeln. Das Ziel muss lauten: mehr staatliche Souveränität, nicht mehr Konzernsouveränität.

Die Digitalisierung beschleunigt Informationsketten und Geschäftsprozesse in allen Sektoren. Und sie fordert uns zu stetem Dazulernen, im Privaten und in der Arbeitswelt – eine Grenze, die immer mehr verschwimmt.

Die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsort war ein Grundprinzip der Industrialisierung. Das hebt die Digitalisierung auf. Die analoge Welt ist zunehmend digital vernetzt. Die Corona-Pandemie hat den Trend zum Homeoffice weiter beschleunigt, auch Tätigkeiten in der sogenannten Plattformwirtschaft nehmen weiter zu – von Essenslieferanten wie Gorillas über Mobilitätsvermittler wie Uber bis hin zu Freelancer-Plattformen wie Upwork. Neue Anforderungen ergeben sich bei (öffentlichen) Investitionen in punkto Verbreitung und allgemeiner Verfügbarkeit von Gigabitnetzzugängen.

Digitalisierung und sozialer Fortschritt schließen sich dabei nicht aus. Entscheidend ist: Wir müssen die Digitalisierung als Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und Vereinbarungen begreifen und daraus politische Regulierung ableiten. Alles andere wäre eine rein kapitalistische Transformation, die nur Konzerngewinne steigert, aber nicht den Menschen dient.

Ja, die Digitalisierung wird dazu führen, dass alte Tätigkeiten nicht mehr nachgefragt werden. Aber sie bietet auch Raum für arbeitstechnische Entlastung, für Kreativität und Innovation – und wird so neue Jobs schaffen. Strategisch denken, kreativ sein, sozial handeln, das kann der Mensch besser als eine Maschine.

Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gehen davon aus, dass bis 2035 so viele neue Arbeitsplätze entstehen wie verloren gehen. Optimistische Untersuchungen gehen sogar von einem deutlichen Job-Plus aus.

Entscheidend ist: Wir dürfen die Transformation nicht „geschehen lassen“, wir müssen sie aktiv gestalten. Soziale Sicherheiten müssen wir in die digitale Arbeitswelt übersetzen. Noch zu oft sind prekäre Beschäftigungen, nicht zuletzt im Rahmen der genannten Plattformökonomie, an der Tagesordnung.

Auch das ist eine wichtige Erkenntnis: Die Digitalisierung führt trotz Effizienzsteigerungen und innovativen Entwicklungen eben nicht automatisch zu weniger Arbeit, die sicher und besser bezahlt ist – jedenfalls nicht für alle.

Genau das muss aber unser Ziel sein: eine digitale Transformation, die den Wohlstand und den Fortschritt für alle mehrt, nicht nur für Privilegierte. Den Rahmen dafür zu schaffen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften.

Es gibt gute Beispiele, wo Unternehmen und Arbeitnehmervertreter faire Regelungen etwa zum mobilen Arbeiten finden. Im Zweifel muss ein aktiver (Sozial-)Staat eingreifen.

Arbeitnehmer*innen sollten beispielsweise in Zeiten digitaler Dauervernetzung ein Recht auf Nichterreichbarkeit haben und müssen sozial abgesichert sein. Dies ist Teil neuer Souveränität der Arbeitnehmer*innen. Dazu zählen künftig auch: digitale Wertschöpfungsrechte, der Besitz von Patent- oder Unternehmensanteilen.

Mittelfristig werden sich, davon bin ich überzeugt, eine Vier-Tage-Woche und mehr Zeitsouveränität durchsetzen – verknüpft mit verstärkten Angeboten zur Fortbildung. Auch Errungenschaften wie der arbeitsfreie Samstag und ein Anspruch auf Erholungsurlaub sind nicht vom Himmel gefallen.

Eine große Bedeutung hat auch die Frage, wie wir mit unseren Daten umgehen. Durch die zunehmende, informationstechnische Vernetzung findet ein ständiger Datenaustausch in fast allen Lebensbereichen statt: Die (mittlerweile schon alltägliche) private Kommunikation via Videotelefonie mit der Familie in Frankreich oder den USA, das Überweisen per App, mit Algorithmen „gefütterte“ Maschinen, die selbstständig Häuser fertigen, selbstfahrende und vernetzte Autos oder miteinander kommunizierende Roboter, die Pflege(hilfs)tätigkeiten übernehmen.

Daten gelten als der „Treibstoff“ der „vierten Industrialisierung“. Der Datenaustausch in Echtzeit über verschiedene Zeitzonen hinweg ermöglicht Effizienzsteigerungen und Innovationen – egal ob in Planungsbüros, Versicherungen oder Industriebetrieben.

Die Menge an Daten, die bei diesen und ähnlichen digitalen Prozessen erzeugt und verarbeitet wird, ist unfassbar groß und sie wird weiter wachsen. Von daher werden auch Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) eine noch größere Rolle einnehmen.

Der Bedarf nach Auswertung dieser wertvollen Daten und der damit einhergehenden Entwicklung neuer Innovationen ist enorm. KI kann zum Beispiel dabei helfen, Maschinen schneller und effektiver zu warten oder Muster in medizinischen Bildern oder Gewebeproben zu entschlüsseln und Krebs zu erkennen – zügiger und präziser als ein Mensch dies könnte.

Doch auch hier stellen sich Fragen: Wie lässt sich Datenschutz garantieren? Wie behält der Mensch die Kontrolle über die Technik?

Unser Ziel muss eine innovative europäische Gesellschaft mündiger Bürger sein, die ihre (digitalen) Chancen in die eigene Hand nehmen können – und die nicht durch die digitale Transformation oder Algorithmen fremdbestimmt sind; eine Gesellschaft, die sich weltweit den höchsten ethischen, sozialen und datenschutzrechtlichen Standards verschreibt und ein innovatives Umfeld fördert. Nur so gelingen uns die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz und wirtschaftlicher Fortschritt.

Es ist deshalb eine gute Nachricht, dass die EU-Kommission zuletzt eine erste Verordnung für Künstliche Intelligenz vorgelegt hat – ein wichtiger Schritt in Richtung eines weltweiten Rechtsrahmens für eine ethische und demokratische KI.

Die EU muss weiter so entschlossen bleiben. Sie darf sich den digitalen Takt nicht von den USA oder China vorgeben lassen, sondern muss ihn mitbestimmen. Wir haben allen Grund, diese Aufgabe optimistisch anzugehen.

Es gibt keine Region auf der Welt, die geeigneter wäre als die Europäische Union, technischer und sozialer Vorreiter zugleich zu sein. Die 450 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger leben in einer der demokratischsten und sichersten Regionen der Welt, unveräußerliche Grundrechte sind Wesenskern des „neuen Europas“. Entwickler können auf den Schutz ihrer Patente vertrauen.

Bei der Ausstattung unserer Universitäten mit den nötigen finanziellen Mitteln haben wir – im Gegensatz etwa zu milliardenschweren Hochschulen in den USA – noch Nachholbedarf: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung steigen nur zaghaft.

Dafür punktet Europa mit einer dichten Forschungslandschaft von rund 4000 Hochschulen, allein mein Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen ist gespickt mit einem Universitätsnetz, von dem andere Länder träumen. Gemeinsam mit Startups und innovativen kleinen und mittelständischen Unternehmen bilden sie ein Netz, das die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen erst möglich macht.

Der Staat sollte seine selbst gewonnenen, anonymisierten und aggregierten sowie nicht-personenbezogenen Daten in maschinenlesbarer Form der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Der Zugang zu muss, wo immer es gesellschaftlich sinnvoll ist, frei sein. So leisten wir einen wertvollen Beitrag für ein entwicklerfreundliches Umfeld. Der Vorteil von Daten: Sie verbrauchen sich nicht, können beliebig vervielfältigt werden und können von vielen Personen gleichzeitig genutzt werden – und sind damit zentraler Bestandteil vieler digitaler Geschäftsmodelle.

Die Sozialdemokratie ist die Partei, die die freie Datennutzung vorantreibt. Unsere Positionen dazu – „Daten teilen für digitalen Fortschritt“ – hatte die SPD auf ihrem Bundesparteitag im Dezember 2019 in Berlin beschlossen. Noch läuft die Umsetzung der Bundes-Datenstrategie im Schneckentempo. Das Zweite Open-Data-Gesetz, das wir im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, ist deshalb ein wichtiger Schritt.

Offene Daten eröffnen neue Wertschöpfungsketten. Beispiel Indien: Dort nutzt man eine Open Source Plattform, um mit frei verfügbaren Softwarekomponenten „Smart Cities“ aufzubauen – z.B. mit einem intelligenten Müllmanagement. Mit offenen Daten können wir außerdem Lizenzgebühren verringern und die Unabhängigkeit von großen Softwareherstellern stärken. Darum gilt: Mehr Mut zu „Open Data“. Ich bin gespannt, ob Europa seine Datenautonomie stärken kann – Stichwort „Gaia X“.

Wo Innovationen entstehen und Daten global ausgetauscht werden, bedarf es zudem eines hohen Maßes an Sicherheit. Unternehmen und Bürger*innen müssen darauf vertrauen können, dass ihre Daten nicht gestohlen und missbraucht werden. Hier sind Staat und Wirtschaft als Innovatoren gefragt.

Ich bin dafür, dass der Staat strikt defensiv auftritt – ihn zum aktiven Hacker hochzurüsten, wie dies Bundesinnenminister Horst Seehofer im Rahmen der neuen Cybersecurity-Strategie des Bundes plant, halte ich für falsch.

Vielmehr sollte der Staat – als Partner der Wirtschaft – beispielsweise die Entwicklung modernster Verschlüsselungstechnologien fördern. Diese Technologien sollten Bürger*innen und Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um ihre Daten zu schützen.

Dass die EU auf dem Gebiet des Datenschutzes und der Datensicherheit Standards setzen kann, zeigen nicht zuletzt die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und der Cybersecurity Act.

Erst im Dezember 2020 hatte die EU-Kommission ihre neue Strategie für Cybersicherheit vorgelegt – u.a. soll die europäische Koordinierung verbessert und KI stärker gegen Angriffe auf kritische Infrastrukturen genutzt werden. Wenn wir unsere europäische Rechtstaatlichkeit weiterentwickeln wollen, sollten wir – wie von Martin Schulz angestoßen – gemeinsam eine digitale Grundrechtecharta entwerfen.

Wer das „digitale Europa“ stärken will, sollte auch über eine „Digital-Union“ nachdenken. Es hilft, sich an die historische Rolle der Montanunion zu erinnern. Der ehemalige französische Außenminister Robert Schumann war Architekt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – ein großartiges Kapitel europäischer Kooperation. Eine Digital-Union würde die digitale Säule der EU und die Kooperation im Bereich der Digitalpolitik vorantreiben. Wir könnten so unseren EU- Binnenmarkt „vollenden“ und unseren Innovationsstandort EU stärken.

Ob die EU in der Lage ist, auf internationaler Bühne den Datenschutz-Takt vorzugeben, werden auch die Verhandlungen mit den USA um ein Nachfolgeabkommen des vom EUGH gekippten „Privacy Shields“ zeigen. Unser Ziel muss ein rechtssicherer, DSGVO-konformer transnationaler Datenverkehr sein. Das Beispiel zeigt: Sowohl Datenschutz als auch Cybersecurity werden nicht von der EU allein, sondern nur in internationaler Kooperation gewährleistet werden können.

Auf dem Erreichen von Etappenzielen dürfen wir uns nicht ausruhen. Die Digitalisierung ist nicht statisch, sondern fordert uns ununterbrochen heraus. Ich bin überzeugt: Ein mutiges Europa wird diese Herausforderungen bestehen.

Sebastian Hartmann