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Persönliche Leistung ist keine Schande, sondern die Grundlage aller Emanzipation. Ein Essay

Wenn die Zeiten wirr sind, also die Transformation über uns kommt, dann schadet es gar nicht, gelegentlich mal einen Gang runterzuschalten und Inventur zu machen: Was haben wir erreicht, als Gesellschaft, als Kultur, was ist zu tun?

Die Ziele sind, so ist es heute üblich, schnell formuliert: Der Kampf gegen die Klimakrise, klar, die Energiewende, logo, mehr soziale Gerechtigkeit – sicher. Allerdings fehlt die wichtigste Kraft auf dieser Liste fast immer: Die Bereitschaft, sich selbst und persönlich anzustrengen, sich darum zu bemühen, dass diese Welt besser wird, und zwar nicht einfach als Bekenntnis, sondern untermauert durch konkretes Tun. Transformation ist, wie das ganze Leben, eine sehr persönliche Angelegenheit, und wenn das etwas öfter etwas klarer wäre hier, dann wäre mehr Zukunftsoptimismus eigentlich ganz selbstverständlich.

Die Sache ist aber nicht leicht. Denn Leistung, die wir für die Lösung großer offener Fragen brauchen, ist nicht die Leistung, die in unserer Kultur so hochgehalten wird. Sie hat mit Fleiß (lateinisch industria, die Fleiß- und Industriegesellschaft ist also identisch) wenig zu tun, auch wenn es diese Sekundärtugend zur Umsetzung der neuen Leistung gelegentlich braucht. Wo aber der Fleiß allein regiert und Leistung nicht zu besseren Lösungen und Erkenntnissen führt, ist er pure Routine – und eine Sonderform der Bequemlichkeit. Macht man seine Arbeit richtig oder macht man die richtige Arbeit? Das ist die Frage. Sie zielt auf die Lösung von Problemen, nicht auf deren Verwaltung.

Leistung definiert sich dort keineswegs mehr durch harte, schwere Arbeit, sondern zunehmend durch die Fähigkeit, Komplexität zu erschließen und zu gestalten. Das ist etwas völlig anderes als Industriearbeit. Statt einheitlicher Denke braucht es persönliche Fähigkeiten. Routinearbeit ist schon lange auf dem Rückzug. Die Automatisierung durch Digitalisierung wird vollständig sein.

Warum verhält sich aber die Politik so, als ob das alles nicht real wäre?

Weil die Strukturen, vor allem der Volksparteien, auf jener industriell kulturellen Basis stattfinden, die bereits jetzt Vergangenheit ist. Mutig in die neuen Zeiten, das würde heute bedeuten, dass Wissensarbeit und Netzwerkökonomie und die darin normale Arbeitsform der Selbständigkeit (im Sinne selbstbestimmter Arbeit) endlich in den alten Volksparteien ankommen.

Wissensarbeit ist, so hat es der schlaue Peter Drucker gesagt, wenn der Mitarbeiter mehr von seiner Arbeit weiß als sein Chef. Das ist ein emanzipatorischer Satz, der in der Gesellschaft der entwickelten Arbeitsteiligkeit eine unglaubliche Wucht hat. Das wichtigste Produktionsmittel ist der Kopf. Das müssten eigentlich goldene Zeiten sein für all jene, denen die persönliche Freiheit der und des Einzelnen in den Sinn kommt, wenn von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist. Oder liebt man die Strukturen von Gestern, das Vereinheitlichen, mehr als seine Ideale und die Menschen, die dazugehören?

Was hat der Proletarier des 19. Jahrhunderts mit der Wissensarbeiterin des 21. Jahrhunderts noch gemein? Das Entscheidende: Dass sie ihre Würde, ihr Selbstverständnis, ihre Selbstbestimmung durch die Arbeit gewinnen. Respekt fängt beim Selbstrespekt an. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, in der Arbeiterbewegung groß wurde, weiß natürlich, dass die Arbeitskraft, der Stolz auf die eigene Leistung etwas Grandioses ist, eine emanzipatorische und humanistische Kraft entfesseln kann, die gegen Abhängigkeiten – mentale wie materielle – wirkt. Leistung muss sich deshalb lohnen – politisch, materiell und kulturell.

Davon hat sich Politik aber leider zurzeit weit entfernt. Sie schont vermögende Erben und Besitzstandswahrer querbeet. Die aktuellen Generationsdebatten sind letztlich genau das: Junge, mit der Wissensarbeit vertrautere Menschen, die sehen, wie andere sich rüberretten wollen – in Institutionen, in Sicherheiten, die ihnen selbst verwehrt werden.

Die neuen Leistungsträger der Netzwerkökonomie – und das sind eben nicht jene Millionärskinder, die mit dem Geld und der Perspektive anderer Leute zocken – werden weitgehend ignoriert. Selbständige, selbstbestimmte Arbeit ist die Praxis der Emanzipation durch Tätigkeit, die lebendige Vita Activa, die die Transformation braucht. Sozialdemokratie und Christdemokratie müssen sich daran messen lassen, ob sie dieser neuen Arbeits- und Lebensform endlich aufgeklärt und offen gegenüberstehen oder ob sie auch weiterhin Selbständigkeit als Schadensfall ansehen, als Ausnahme von der Regel. Es geht dabei nicht mehr darum, ein paar Intellektuelle zu verlieren, indem man Wissensarbeiterinnen, Netzwerker, Selbständige aus den Diskussionen fernhält.

Emanzipatorische Politik besteht darin, dass Arbeit, nicht Erbe, nicht Privileg, nicht Vorrecht ist. Also Leistung und Bemühung die Grundlage des gemeinsamen Wollens sind – und auch die einzige Möglichkeit, den Schwachen und Benachteiligten ausgleichende Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Teilhabe und Teilnahme sind die Dialektik der demokratischen Zivilgesellschaft. Dafür muss man stolz auf seine Arbeit sein, auf Wissensarbeit, nicht mehr auf Routinen, auf Kopfarbeit, auf Bildung, auf Innovation. Unsere Vorbilder, die für mehr Gerechtigkeit kämpften, wollten, dass wir uns bilden, um uns aus Abhängigkeiten zu befreien. Gerechtigkeit ist eine Frage der Selbstbestimmung. Dazu brauchen wir alle Kraft. Mehr Mut. Strengt Euch an.

Nach der Wahl wünsche ich mir, dass wir zu einer neuen Emanzipation kommen. Und mit der Emanzipation der Arbeit beginnen.

 

Wolf Lotter ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins, für das er seit mehr als zwei Jahrzehnten die Leitessays verfasst und ständiger Kolumnist (Lotters Transformator) bei tazFuturzwei.

In diesem Herbst erscheint sein Essay „Strengt Euch an! Warum Leistung sich wieder lohnen muss“ bei Ecowin.