Handelspolitik darf digitale Industriepolitik nicht gefährden

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Ende November beginnt am Sitz der Welthandelsorganisation in Genf die 12. WTO Ministerkonferenz. Die Erwartungen sind hoch. Das letzte Zusammentreffen der 164 Mitgliedstaaten liegt bereits vier Jahre zurück. Donald Trumps Desinteresse am multilateralen Handelsregime sowie die COVID19-Pandemie hatten der Organisation eine Zwangspause verpasst. Joe Biden und die neue WTO-Generalsekretärin Ngozi Okonjo-Iweala gelten vielen als Hoffnungsträger für einen Neuanfang in der internationalen Handelspolitik. Geht es nach dem Willen der früheren Finanz­ministerin Nigerias, dann soll ein Wirtschaftszweig den Welthandel beleben, der bislang ein Schattendasein in den handelspolitischen Debatten führte: E-Commerce bzw. digitaler Handel. Seit über zwei Jahren führen, fernab der Öffentlichkeit, gut die Hälfte der WTO-Mitgliedstaaten Gespräche über ein Handelsabkommen zum E-Commerce.

Die Befürworter eines solchen Abkommens sehen die Notwendigkeiten, die WTO-Regeln an neue Gegebenheiten, wie die ständige Weiterentwicklung digitaler Geschäftsfelder, anzupassen. Ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen soll zudem die Handlungsfähigkeit der Welthandelsorganisation unter Beweis zu stellen.

Worum geht es beim digitalen Handel? Wer sind die Protagonisten bei den Verhandlungen? Bietet der elektronische Handel auch den Entwicklungs- und Schwellenländern eine Chance auf Wachstum und nachhaltige Entwicklung? Welche Position nimmt Europa ein?

Der große Unbekannte: der digitale Handel

Als eBay 1995 an den Start ging, ahnte niemand den kometenhaften Aufstieg des elektronischen Handels. 26 Jahre später ist nicht nur der Online-Handel in die letzten Winkel unseres Globus vorgedrungen, auch der digitale Handel hat sich stark gewandelt (und erweitert). Mit jedem technischen Fortschritt kamen immer neue Produkte und neue Vermittlungswege hinzu. Hotelreservierungen übers Internet, Online-Kurse und andere digitale Dienstleistungen sind für uns Alltag geworden. Eine Pandemie ohne virtuelles Arbeiten und Wirtschaften: unvorstellbar!

Bereits vor der COVID19-Krise entfielen 26,7 Billionen US-Dollar auf den Handel mit IT-Gütern, immateriellen Produkten und digitalen Dienstleistungen (UNCTAD 2019). Rund ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung entfällt damit auf den E-Commerce. Der pandemiebedingte Digitalisierungsschub hat die Wachstumsraten weiter nach oben schnellen lassen: von 4 Prozent (2019) auf 8 Prozent (2020). Ein Wachstum, von dem der traditionelle Handel noch nicht mal mehr zu träumen wagt.

Hohe Gewinne, wenige Profiteure

Die Anteile und Gewinne dieses sehr innovativen und dynamischen neuen Geschäftsfeldes verteilen sich jedoch alles andere als gleichmäßig über den Erdball. Die Asymmetrien zwischen den verschiedenen Staaten und Weltregionen sind sogar noch größer als beim Handel mit Nahrungsmitteln oder Industriegütern. Während beim traditionellen Handel auf den afrikanischen Kontinent und Lateinamerika 8% entfallen, repräsentieren sie beim Handel mit Software und anderen immateriellen Produkte lediglich 2%. Den Löwenanteil bekommt der Asiatisch-Pazifische Raum (51%) – gefolgt von Nordamerika (24%) und Europa (23%).

In der Daten-Ökonomie ist das Gefälle noch größer. Fast 70% des Marktwertes digitaler Plattformen entfallen auf lediglich fünf US-amerikanische (Amazon, Apple, Facebook, Google, Microsoft) und zwei chinesische (Alibaba, Tencent) Digitalkonzerne (UNCTAD 2019). Weitere 20% teilen sich mittelgroße Plattformen, die ebenfalls ihren Sitz in den USA oder China haben. 191 Staaten(!) müssen sich demgegenüber mit lediglich 10% begnügen. Davon entfallen 3,5% auf Europa, 1,3% auf Afrika und nur mickrige 0,2% auf Lateinamerika. Und das sind die Zahlen vor der Covid-19-Pandemie.

Digitale Kluft und fehlender regulatorischer Rahmen verschärfen Ungleichheiten

Ursache für diese extremen Ungleichheiten ist, nach Einschätzung multilateraler Organisationen wie der UN Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD), die digitale Kluft, die den Globus in zwei Hälften schneidet. Obwohl Telekommunikationsunternehmen und Digitalkonzerne weltweit Seekabel verlegen und Strommasten aufstellen, haben im südlichen Afrika nach wie vor nur ein Viertel der Menschen Zugang zum Internet. Die UNCTAD versteht unter digitaler Kluft jedoch nicht nur fehlende Internetkonnektivität, sondern auch inadäquate Social Skills, wie Bildung (um bspw. Apps angemessen nutzen zu können) und einen ungenügenden regulatorischen Rahmen. Trotz zahlreicher Fortschritte fehlt es den Ländern des globalen Südens in der Regel noch immer an (wirksamen) Daten- und Verbraucherschutz- sowie Cybersicherheitsgesetzen. Die Folge: Fehlendes Vertrauen ihrer Bürger:innen sowie ausländischer Unternehmen und Investoren.

Diese physischen, sozialen und regulatorischen Schwächen waren auch der Grund, warum die Mehrheit der Entwicklungs- und Schwellenländer nicht vom Digitalisierungsschub profitierte, den der weltweite Lockdown im vergangenen Jahr auslöste. Nutznießer waren vielmehr die sog. Big 7 der Plattform-Ökonomie, wie eine im Frühjahr 2021 herausgegebene Studie der UN-Wirtschaftskommission für Afrika am Beispiel des afrikanischen Kontinents aufzeigt. In Lateinamerika zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, wie jüngste Analysen darlegen.

Eine Koalition der Willigen will deregulieren

Obwohl die Mehrheit der Entwicklungsländer beim „digitalen Handel lediglich Konsumenten und keine Player sind“ (UNCTAD 2021), verhandelt seit Anfang 2019 eine Koalition der Willigen, deren Zahl inzwischen auf 86 Staaten angewachsen ist, am Rande der WTO über ein plurilaterales Abkommen zum E-Commerce. Neben den großen Vier der Handelspolitik (USA, EU, China und Japan) gehören fast alle westlichen Industriestaaten und einige Entwicklungs- und Schwellenländer zu den Verhandlungspartnern.

Ein Blick in den aktuellen Verhandlungstext zeigt: Neben der Standardisierung und Vereinfachung des Online-Handels stehen auch gesellschaftlich sensible Themen auf der Tagesordnung, wie bspw. die Frage, ob zukünftig der Austausch von Daten (noch) reguliert werden darf. Ein politisch hochbrisantes Thema, das – mit Blick auf den bisherigen Verhandlungsstand – die Gefahr in sich birgt, die politische Regulierung der digitalen Plattformen auf Jahrzehnte in Teilbereichen zu be- bzw. verhindern.

Besonders umstritten ist das von den USA, Japan und der EU geforderte Verbot lokaler Datenspeicherung. Um die Abhängigkeit von den großen digitalen Platt­formen zu verringern und eine eigene Digitalwirtschaft aufzubauen, verfolgen einige Entwicklungs- und Schwellenländern Digitalpolitiken, die u. a. die Forderung enthalten, die in ihrem Land erhobenen Daten als kollektives Gut ihres Landes zu betrachten und auch so zu behandeln. Zur Umsetzung dieser Forderung schreibt bspw. die nigerianische Regierung ausländischen Dienstleistern vor, Daten von Kundinnen und Kunden aus Nigeria auch auf Servern im Land zu speichern. Insbesondere Washington und seine Digitalkonzerne betrachten solche Forderungen als einen schwerwiegenden Eingriff in den sogenannten „freien Datenfluss“ . Die USA aber auch die EU fordern deswegen in den Verhandlungen über ein E-Commerce-Abkommen, ein (ausdrückliches) Verbot lokaler Datenspeicherung. Bislang gibt es ein Datenlokalisierungsverbot nur in einigen wenigen bilateralen und regionalen Handelsabkommen, wie dem transpazifischen CPTPP-Vertrag, an dem elf pazifische Anrainerstaaten beteiligt sind.

Befürworter eines Verbots lokaler Datenspeicherung rechtfertigen ihre Position zum einen damit, dass autoritäre Staaten, denen keine demokratische Zielsetzung zugrunde liegt, allen voran China, die politische Regulierung von Datenflüssen zum Nachteil ausländischer Konzerne nutzen. Zum anderen fragmentieren solche Digitalpolitiken das Internet (geographisch) und zerstören damit dessen globalen Charakter.

Washington und Brüssel übersehen dabei jedoch zweierlei. Erstens: Den europäischen Regierungen ist sehr wohl bewusst, wie wichtig Datenspeicherung auf ihren Hoheitsgebieten sein kann. Die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten verlangt, dass sensible, dem öffentlichen Interesse dienende Daten (wie Finanz-, Gesundheits- oder Meldedaten) auf lokalen Speichern vorliegen. Zweitens: Die neuen Ansätze und Instrumente der EU Kommission zur politischen Gestaltung der Digitalisierung sehen sich ebenfalls dem Vorwurf ausgesetzt, eine Fragmentierung des Internets zu betreiben. Nach Ansicht der USA und des WTO-Sekretariats stellt bspw. die europäische DSGVO einen „exzessiven Eingriff in den freien (Daten-)Markt“ dar.

In ihrer Analyse zu den E-Commerce-Verhandlungen kommt die UNCTAD zu dem Ergebnis, die Forderung nach lokaler Datenspeicherung sei aus der Perspektive des Globalen Südens legitim und sinnvoll – und könnte den Grundstein legen für Daten- und digitale Souveränität. Konzepte, die auch in Deutschland und Europa immer mehr Befürworter in Politik und Wirtschaft finden.

Anstelle eines generellen Verbots, sollte die EU Kommission zukünftig die Frage des Datenaustausches differenzierter betrachten. Ein wichtiges Kriterium bei dieser Bewertung sollte/könnte sein, um welche Art von Daten es sich handelt. Auf dieser Grundlage könnte dann bspw. zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter Lokalisierung von Daten unterschieden werden. Beispielhaft für einen differenzierten, dritten Weg ist Südafrika. Die südafrikanische Regierung hat im April 2021 einen Entwurf für eine neue Daten- und Cloud-Politik vorgelegt. Die dort vorgestellten Ideen decken sich in vielerlei Hinsicht mit den neuen Initiativen der EU Kommission. Südafrikas Ziel ist es, seine Wirtschaft in eine datengesteuerte, digitale Wirtschaft zu transformieren. Die dafür vorgesehenen infrastrukturellen und regulatorischen Rahmenbedingungen beinhalten auch Lokalisierungsauflagen. Zugleich soll der Datenschutz gestärkt werden. Die europäische Datenschutz­grundverordnung dient dabei als Orientierungsrahmen.

Zeit für einen kooperativen Neuanfang

Die Pandemie hat nicht nur in Europa die wachsende Dominanz der Digitalkonzerne offengelegt. Der globale Süden hat ebenfalls enormen digitalen Nachholbedarf gegenüber den USA und China. Sowohl die EU Kommission als auch Regierungen in Delhi, Pretoria und Nairobi wollen eigene digitale Ökosysteme aufbauen, um ihren Unternehmen und Fachkräften Forschung und Produktion zu ermöglichen. Das sind  Voraussetzungen, um langfristig eine leistungsfähige Digitalwirtschaft aufzubauen, die international wettbewerbsfähig ist.

Ein Blick in die Parteiprogramme zur Bundestagswahl zeigt: Die Mehrheit der Parteien traut dem Markt allein die digitale Aufholjagd nicht zu. Zum Aufbau digitaler Souveränität bedarf es vielmehr klarer politischer Rahmenbedingungen. Die Forderung nach einer digitalen Industriepolitik steht auch bei zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländer sowie der UNCTAD ganz oben auf der Agenda. Wie das Beispiel Südafrikas zeigt, soll Entwicklung und Implementierung einer koordinierten Digital- und intelligenten Datenpolitik die Grundlage bilden, um Beschäftigung und Wachstum zu fördern. Nur so können Gewinne im Land verbleiben sowie Arbeitsplätze und Wohlstand geschaffen werden.

Das Konzept digitaler Souveränität, einschließlich Datensouveränität, hat für Brüssel und zahlreiche demokratische Entwicklungs- und Schwellenländer nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine werteorientierte Dimension: Ein starker Daten- und Verbraucherschutz soll die Grundlage für eine demokratische, bürgernahe Digitalisierung bilden.

In Anbetracht ähnlicher konzeptioneller Vorstellungen und Visionen sollte dringender Konsens dahingehend bestehen, dass es keine weitere Deregulierung der Digitalwirtschaft durch das Handelsrecht geben darf. Im 21. Jahrhundert besteht die Aufgabe von Handelspolitik vielmehr darin, einen Beitrag zur notwendigen Neujustierung von Markt, Staat und Unternehmen zu leisten, indem sie die Möglichkeiten für eine digitale Industriepolitik erweitert, anstatt sie zu erschweren. Gemäß dem WTO-Prinzip der Sonder- und Vorzugsbehandlung („Special and differential Treatment“) für Entwicklungsländer sollten die Eingriffsmöglichkeiten in den (freien) Markt – mit Blick auf die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der jeweiligen Länder – abgestuft möglich sein. Mit anderen Worten: Anders als für Schwellen- und Industrieländer sollten für ärmste Entwicklungsländer größere Spielräume geschaffen werden, von WTO-Regeln abweichen zu dürfen, um nationale Entwicklungsstrategien zu verfolgen.

Es ist Zeit für einen Neuanfang. Damit der digitale Handel und Wandel tatsächlich zum ‚Wachstumsmotor für Alle‘ wird, sollte die EU Kommission ihren jetzigen Verhandlungspfad verlassen und in Kooperation mit dem Globalen Süden für eine demokratisch legitimierte Regulation des digitalen Wandels und des E-Commerce eintreten. Wir brauchen dringend einen „Digital Fair Trade“, der die Länder des Globalen Südens nicht zu Daten-Rohstofflieferanten degradiert. Solange die EU noch Nachholbedarf bei der Verwirklichung eines wettbewerbsfähigen, digitalen Binnenmarktes hat, ist eine solche Neuausrichtung auch im Interesse Europas.

 

Sven Hilbig