In der Pandemie hat die Europäische Union in einem Kraftakt finanzielle Mittel in enormem Ausmaß zur Verfügung gestellt, um die wirtschaftlichen Verwerfungen abzumildern. Erstmals wurden dafür der Stabilitäts- und Wirtschaftspakt ausgesetzt und gemeinsame Schulden aufgenommen. Ist dieses Vorgehen die Blaupause für eine künftige Fiskalunion oder eher ein einmaliges Vorgehen mit Rückkehr zu den Maastricht-Kriterien? In der Bundestagswahl positionieren sich die Parteien zu einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik sehr unterschiedlich. Klar ist aber, dass Deutschland in der künftigen Debatte das Zünglein an der Waage sein könnte und der Ausgang der Bundestagswahl daher auch für die Zukunft Europas die entscheidenden Weichen stellt. Die vorliegenden aktuellen Berechnungen zeigen, dass eine Rückkehr zu den Maastricht-Kriterien schädlich wäre und zwar nicht nur für die stark verschuldeten Länder, sondern auch für die wirtschaftlich starken Länder. Eine Fiskalpolitik hingegen, die auf Investitionen setzt, käme der Gemeinschaft als Ganzer zugute – vor allem dann, wenn das Zusammenspiel zwischen Geld- und Fiskalpolitik koordiniert ist. Die künftige Bundesregierung sollte sich daher für eine gemeinsame EU-Fiskalpolitik stark machen.

Angesichts der tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg beschreitet die Europäische Union (EU) aktuell neue fiskalpolitische Wege: Im März 2020 wurde das erste Mal überhaupt in der Geschichte des Staatenbunds der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) ausgesetzt und im Dezember 2020 ein Stimuluspaket mit historischem Ausmaß in Höhe von 1,8 Billionen Euro beschlossen. Neben einem langfristigen (2021 – 2027) EU-Haushalt in Höhe von 1,074 Billionen Euro bildet der neu erschaffene Wiederaufbaufonds NextGenerationEU (NextGenEU) mit einem Umfang von 750 Milliarden Euro das Kernstück des Konjunkturpakets.[1] Finanziert werden die Mittel für den Wiederaufbaufonds über von der EU-Kommission im Namen der EU begebene Kapitalmarktanleihen. In ihrem Umfang und ihrer Komplexität ist diese gemeinsame Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten ebenfalls ein Novum in der Geschichte der EU. Das entschlossene fiskalpolitische Eingreifen der europäischen Staatengemeinschaft ist sicherlich auch der Einsicht geschuldet, dass die geldpolitischen Impulse der Europäischen Zentralbank (EZB) allein nicht ausreichen können, um die in die Krise geratene europäische Wirtschaft wiederzubeleben.

Außerdem gibt der wirtschaftliche Ausblick keinesfalls Grund zur Entwarnung: Auch im nächsten Jahr wird die Wirtschaftsleistung des Euroraums noch immer unter Vor-Corona-Niveau liegen.[2]

Trotz dieser Tatsachen gestaltete sich der politische Einigungsprozess zum europäischen Konjunkturprogramm holprig. Einige Länder befürchten, dass eine unbegrenzte Schuldenaufnahme in eine erneute EU-weite Schuldenkrise mündet und wollen nicht für die Schulden anderer Länder haften. In Deutschland beispielsweise wies das Bundesverfassungsgericht im April 2021 einen Eilantrag gegen die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU zurück und ebnete damit erst den Weg für das bereits beschlossene Gesetz zum europäischen Wiederaufbaufonds.

Wie kann das Ringen um eine koordinierte europäische Fiskalpolitik eingeordnet werden? Einerseits könnte sich das konzertierte Vorgehen der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie als Blaupause für eine vertiefte fiskalpolitische Integration erweisen. Andererseits könnte es sich dabei auch um eine einmalige Krisenbewältigungsstrategie handeln mit einer baldigen Rückkehr zu einer Politik wie vor der Pandemie – mit 27 voneinander unabhängigen Fiskalpolitiken. Ein demokratischer Diskurs über diese für die Zukunft der EU weichenstellenden Fragen ist dringlich geboten und spaltet die EU-Länder entlang altbekannter Trennlinien. Nicht zuletzt der Ausgang der deutschen Bundestagswahl am 26. September könnte den entscheidenden Ausschlag darüber geben, welche Richtung die EU in dieser Frage einschlagen wird.

In Deutschland gibt es zwei Lager

Die deutsche Parteienlandschaft teilt sich dabei vor der Wahl in zwei Lager. Das eine Lager, bestehend aus SPD, Grünen und Linken, befürwortet die weitere europäische Integration über eine gemeinsame Fiskalpolitik und ein Neudenken der bestehenden europäischen Fiskalregeln. Das andere Lager, bestehend aus CDU/CSU und FDP, stellt sich dezidiert gegen eine Verstetigung der in der Corona-Pandemie geschaffenen Politik und fordert ein fiskalpolitisches „Weiter so“ inklusive schnellstmöglicher Rückkehr zur Maastrichter Budgetdisziplin.[3]

Konkret fordern CDU/CSU, dass die Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts möglichst bald wieder eingehalten werden sollen. Die Schuldenaufnahme über gemeinsame Anleihen der EU-Staaten zur Finanzierung von NextGenEU soll einmalig bleiben, eine gemeinsame Haftung für Schulden der Mitgliedsländer wird strikt abgelehnt.[4]

Auch die FDP fordert in ihrem Wahlprogramm, dass der SWP wieder in vollem Umfang in Kraft gesetzt wird. Eine Rückkehr zur Begrenzung von Haushaltsdefiziten und Schuldenständen über die Maastricht-Kriterien wird befürwortet, und es soll strengere Sanktionen für Verstöße gegen diese Prinzipien geben. Eine Schuldenunion und eine weitere Finanzierung von EU-Mitteln über Schulden werden abgelehnt.

Die SPD hingegen möchte sich dafür einsetzen, dass aus dem Wiederaufbaufonds und der gemeinsamen Krisenpolitik der EU ein dauerhafter Integrationsfortschritt wird. Der SWP soll zu einem Nachhaltigkeitspakt weiterentwickelt werden. Statt einer Rückkehr zur Kürzungspolitik soll künftig mehr investiert und die EU als Fiskalunion weiterentwickelt werden.

Auch Bündnis 90/Die Grünen fordern eine gemeinsame Fiskalpolitik und eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um eine Rückkehr zur Austeritätspolitik zu verhindern. Sie wollen den EU-Haushalt deutlich ausweiten und ihn mit eigenen Einnahmen ausstatten. Der europäische Wiederaufbaufonds soll im EU-Haushalt verstetigt und künftig dauerhaft für klimafreundliche Investitionen genutzt werden.

Die Forderung nach einer Ausweitung des EU-Haushalts über gemeinsame europäische Anleihen findet sich konkret nur im Programm der Linken. Zur Überwindung der Corona-Krisenfolgen und zur Bewältigung der Klimakatastrophe soll ein Investitions- und Ausgabenprogramm aufgelegt werden. und eine Anpassung der Defizit- und Schuldenregeln über den SWP erfolgen.

Drei Szenarien, drei konjunkturelle Effekte – nicht alle positiv

Was bedeutet ökonomisch gesehen eine Rückkehr zu Maastricht für die heterogenen Volkswirtschaften in der EU? Welche konjunkturellen Impulse können von einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik ausgehen? Mithilfe eines makroökonomischen Zweiländermodells neukeynesianischer Tradition, das repräsentativ für die ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb des Euroraums ist, wird diesen Fragen im Folgenden nachgegangen. Das Modell ist auf ein exemplarisches Land A mit einer Schuldenquote von 90 Prozent[5] und ein Land B mit einer Schuldenquote von 60 Prozent (im Einklang mit dem Maastricht-Kriterium) kalibriert. Zunächst werden die Folgen eines Entschuldungsszenarios mit Rückkehr zum Maastricht-Kriterium analysiert. Alternativ wird berechnet, wie eine expansive Fiskalpolitik mit Coronabonds wirken würde, je nachdem wie sich Zentralbank und die Fiskalpolitik dazu verhalten.

Szenario Entschuldung: Ein Zurück zu Maastricht ist ökonomisch schmerzhaft – für alle Euro-Länder

Im Entschuldungsszenario reduziert das stark verschuldete Land A innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren die Staatsschuldenquote auf das Maastricht-Niveau von 60 Prozent (Abbildung 1). Die Entschuldung erfolgt über Einsparungen bei den Staatsausgaben. Während die Staatsausgabenquote im Land B über den gesamten Simulationszeitraum bei 20 Prozent des BIP liegt, wird diese im Land A innerhalb von drei Jahren um fünf Prozentpunkte verringert und bleibt in den nächsten Jahren konstant unter dem Ausgangsniveau.

Die Austeritätspolitik von Land A wirkt rezessiv – und das in beiden Ländern. Zwar ist im Land A die Rezession tiefer ausgeprägt als im weniger verschuldeten Land B. Doch auch im Land B sinkt die Wirtschaftsleistung. Nach ca. drei Jahren ist im Land A der maximale Rückgang der Wirtschaftsleistung erreicht: das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist um -3,3 Prozent gesunken. Jedoch klettert die Wirtschaftsleistung über den gesamten Simulationszeitraum von 20 Jahren nicht mehr auf das Niveau vor der Entschuldungsintervention. Im weniger verschuldeten Land B beläuft sich der maximale BIP-Rückgang auf -0,93 Prozent nach ca. drei Jahren. Auch hier bleibt die Wirtschaftsleistung unter dem Niveau vor der Austeritätsmaßnahme. Die gedrosselte Nachfrage im Land A wirkt sich in einem verflochtenen Wirtschaftsraum ebenfalls nachteilig auf die Produktion im Land B aus. Der Rückgang der Inflationsraten in beiden Ländern spiegelt den Verlust der Wirtschaftsleistung wider.

Investitionsszenarien: Über Coronabonds finanzierte Fiskalpolitik setzt positive Konjunkturimpulse für ganz Europa

Die konjunkturellen Effekte einer mit Coronabonds finanzierten Fiskalpolitik, so wie der neu geschaffene Wiederaufbaufonds sie vorsieht, stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils der Analyse. Berechnet werden Multiplikatoreffekte von staatlichen Investitionsausgaben. Es wird also quantifiziert, um wieviel das BIP pro ausgegebenem Euro für Staatsinvestitionen steigt. In der Praxis werden fiskalpolitische Maßnahmen nie isoliert ergriffen, sondern sind von anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten, insbesondere der Geldpolitik, flankiert. Die Analyse trägt dieser Tatsache Rechnung und unterscheidet deshalb zwei realistische Szenarien der Interaktion von Geld- und Fiskalpolitik.

Im ersten Szenario widmet sich die Geldpolitik aktiv der Preisniveaustabilität, während die Fiskalpolitik die passive Rolle übernimmt und über Steuererhöhungen Budgetanpassungen vornimmt, um die neu aufgenommenen Schulden zu begleichen (Abbildung 2).

In der Simulation werden die Staatsinvestitionen im stark verschuldeten Land A um einen Betrag in Höhe von einem Prozent des BIP erhöht. Im weniger verschuldeten Land B erfolgt keine Investitionsmaßnahme. Höhere Staatsinvestitionen, wie beispielsweise Investitionen in Infrastruktur, führen sowohl zu einem sofortigen Nachfragestimulus und erhöhen außerdem im Land A den öffentlichen Kapitalstock und damit die volkswirtschaftliche Produktivität (Bruttoinlandsprodukt).

Im ersten Quartal liegt der Multiplikator im Land A bei 0,78, das heißt pro ausgegebenem Euro steigt das BIP dort um 78 Cent. Für Investitionsausgaben, die sich mittel- bzw. langfristig auf die Produktion auswirken, ist jedoch der diskontierte kumulative Multiplikatoreffekt entscheidend. Hier wird ein Zeitraum von zwölf Quartalen zu Grunde gelegt. Dieser liegt im stark verschuldeten Land A bei 0,82. Auch im weniger verschuldeten Land B führt die Investitionsmaßnahme des Landes A zu positiven Outputeffekten, die mit Erhöhungen im Preisniveau einhergehen. Der kumulative Multiplikator liegt im Land B bei 0,33, sodass sich ein gesamteuropäischer Multiplikator von 1,15 ergibt. Jeder europäisch finanzierte Euro von Investitionsausgaben erhöht damit das BIP im Euroraum.

Im Szenario mit aktiver Geld- und passiver Fiskalpolitik reagiert die Zentralbank auf die steigende Inflation mit der Erhöhung der Leitzinsen und verhindert damit, dass sich die privatwirtschaftlichen Effekte verstärken. Mit dem nominalen Zinssatz der EZB erhöhen sich auch die Realzinsen, was die privatwirtschaftlichen Investitionen und den Konsum verteuert – es kommt zum privaten CrowdingOut, also zur Verdrängung der privaten Nachfrage. Der auf die passive Rolle reduzierten fiskalpolitischen Instanz bleibt nur die aufgenommenen Schulden über langfristig erhöhte Steuereinnahmen wieder abzubauen.

Aktive Fiskalpolitik verstärkt Effekte

Im zweiten Szenario (Abbildung 3) mit passiver Geld- und aktiver Fiskalpolitik wirkt im Unterschied zum ersten die Zentralbank der durch den Staatsausgabenschock ausgelösten Inflation nicht entgegen. Im fiskalpolitischen Kontext bedeutet aktives Verhalten, dass sich die fiskalpolitische Instanz nicht darum bemüht, die neu erhobenen Schulden mit erhöhtem Steueraufkommen zu finanzieren. Das Ausbleiben der restriktiven Zinsreaktion führt zu erheblich größeren BIP-Effekten als im ersten Szenario.

Der Multiplikator im stark verschuldeten Land A im ersten Quartal beträgt 1,36, der im weniger verschuldeten Land B liegt bei 0,7. Pro ausgegebenem Euro steigt also das gesamteuropäische BIP um 2,06 Euro. Auch der Wert des gesamteuropäischen diskontierten kumulativen Multiplikators fällt mit 1,94 deutlich höher aus als im Szenario mit aktiver Geldpolitik.

Der stärkere konjunkturelle Effekt ergibt sich allein aus dem wirtschaftspolitischen Zusammenspiel einer passiven Geld- und einer aktiven Fiskalpolitik. Ohne Anpassung des Nominalzinses führen die europäischen Investitionen zu einer stärkeren Inflation als im Szenario mit aktiver Geldpolitik. Dies senkt den Realzins, wodurch privatwirtschaftliche Investitionen und Konsum attraktiver werden. Die höhere Nachfrage führt zu zusätzlichen Produktionsausweitungen.

Die von der Zentralbank tolerierte Inflation wirkt in Hinblick auf die Finanzierung der nominalen Staatsverschuldung wie eine Steuer und verringert den Schuldenstand. Zusätzliche Steuern oder weitere europäische Schulden sind nicht von Nöten. Mit einem Wert von 1,7 Prozent zusätzlicher jährlicher Inflation ist man dennoch von Weimarer Hyperinflationszeiten noch weit entfernt.

Fazit: Investitionspolitik statt Rückkehr zu Maastricht

Eine Rückkehr zu Maastricht über Austerität ist für den Euroraum als Ganzes ökonomisch schädlich, wie die Simulationen zeigen. Da aktuell die Staatsschuldenquote vieler EU-Länder weit über dem in der Simulation zugrunde gelegtem Wert von 90 Prozent liegt, ist eine von starren Kriterien erzwungene Austeritätspolitik umso kritischer einzuordnen. Die zukünftige deutsche Regierung handelt also in ihrem eigenen Interesse, wenn sie sich auf EU-Ebene für eine Überarbeitung des Stabilitäts- und Wirtschaftspakts einsetzt.

Eine über Coronabonds finanzierte Investitionspolitik ist in der Lage, positive konjunkturelle Impulse für ganz Europa zu setzen. Jeder so investierte Euro steigert die volkswirtschaftliche Produktion überproportional und das im gesamten Staatenverbund. Ein aktiveres fiskalpolitisches Agieren auf europäischer Ebene könnte noch einmal zusätzliche Wirtschaftskraft entfalten.

Auch wenn die Einigung zum neugeschaffenen Wiederaufbaufonds und seine finanzielle Ausstattung als ein historischer Wendepunkt in der EU einzuordnen ist, obliegt es der zukünftigen deutschen Regierung, sich konstruktiv in eine Debatte über die Weiterführung der fiskalpolitischen Innovationen einzubringen. Zwar wurden diese in der Corona-Pandemie nur als Präzedenzfall geschaffen, doch ist abzusehen, dass sich die Erholung wegen der weiterhin bestehenden Unsicherheiten langsamer als erwartet entwickelt und weitere Impulse benötigt werden. Gerade jetzt wäre die Zeit reif für eine europäische Fiskalpolitik, und diese sollte die neue Regierung vorantreiben, statt an starren Vor-Corona-Regeln festzuhalten.

Dieser Beitrag ist zuvor als DIW-aktuell 73 erschienen.

 

Prof. Dr. Alexander Kriwoluzky, Fabian Seyrich, Stephanie Ettmeier

 

[1]Die genannten Zahlen sind im Preisniveau von 2018. Vgl. The EU’s 2021-2027 long-term budget & NextGenerationEU. Facts and figures (online verfügbar, abgerufen am 30. August 2021. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht).

[2] Vgl. UniCredit Research output vom 18.07.2021 (online verfügbar).

[3] Da die AfD der EU ablehnend gegenübersteht und ihr Wahlprogramm zu den im Beitrag diskutierten Fragen keine relevanten Positionen enthält, wird ihr Programm nicht näher betrachtet.

[4] Vgl. die Wahlprogramme der Parteien. Union; der FDP, der SPD, der Grünen und der Linken.

[5] Die durchschnittliche Schuldenquote der EU liegt derzeit bei 90,7 Prozent