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Interview mit Prof. Dr. phil. Joseph Vogl, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft in Verbindung mit Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University

Die Fragen stellte Matthias Machnig, Vizepräsident des Wirtschaftsforums der SPD e.V.

 

Matthias Machnig: Sehr geehrter Herr Prof. Vogl, herzlichen Dank für Ihre Zeit und die Chance, mit Ihnen ein Interview zu führen. Sie haben sich in den letzten Jahren immer intensiver mit Strukturveränderungen des Kapitalismus auseinandergesetzt.

Sie sind von Haus aus Literaturwissenschaftler. Was ist Ihr besonderer Zugang, Ihr besonderes Interesse, was ist Ihr methodischer Ansatz?

Joseph Vogl: Eine wesentliche Voraussetzung meines Zugangs ist die Überlegung, dass ökonomisches Wissen, auch so etwas wie Nationalökonomie, politische Ökonomie, eine junge und ganz spezifische Interpretation von Welt darstellt. Das heißt also, man legt sich Welt zurecht, man legt sich Weltzusammenhänge zurecht. Und dieser ökonomische Weltzusammenhang beginnt sich erst im 17. und 18. Jahrhundert zu formieren.

In dieser Zeit entsteht so etwas wie ein kohärentes ökonomisches Wissen mit kohärenten ökonomischen Gegenständen. Der ökonomische Zugriff auf die Welt ist also nicht selbstverständlich. Da sich nun Literaturwissenschaftler zwangsläufig mit Interpretationen und Interpretationen von Interpretationen auseinandersetzen, lag es nahe, sich mit der – wenn man so will – dominanten, hegemonialen, herrschenden Interpretationsvariante unserer Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Und zugespitzt formuliert: Die moderne Ökonomik interpretiert Weltlagen, um diese dann nach ihren Modellen programmierbar zu machen. Das interessiert mich.

Matthias Machnig: Sie haben in den letzten Jahren viel beachtete Bücher geschrieben. 2010 „Das Gespenst des Kapitals“, dann der „Souveränitätseffekt“, jetzt zuletzt „Kapital und Ressentiment“. Was sind die Verbindungslinien zwischen diesen drei, wie ich finde, herausragenden Büchern? Ich habe sie alle mit großem Interesse und großer Aufmerksamkeit gelesen. Ist das eine Trilogie? Und wenn es eine Trilogie ist, wie bauen sie aufeinander auf?

Joseph Vogl: Die Serie war nicht geplant. Sie hat sich vielmehr aus jeweils offenen Enden, offenen Fragen ergeben. Im ersten Buch, „Das Gespenst des Kapitals“, ging es mir vor allem darum, eine Geschichte ökonomischer, insbesondere finanzökonomischer Theorien in den Blick zu nehmen, die, wenn man so will, ein Überleben der älteren Theodizee in der Ökonomie vorführten. Ich nannte das „Oikodizee“. Das meint im Grunde einen Ordnungsgedanken, der aus der frühen Aufklärung hervorkommt und in letzter Konsequenz behauptet, dass die Marktwelt – das Marktgleichgewicht – die beste aller möglichen Wirtschaftswelten darstellt. Gegen solche theologischen Erbschaften in klassischen und neoklassischen Markttheorien war das Buch angeschrieben und hat demgegenüber eine grundlegende strukturelle Instabilität insbesondere auf den Finanzmärkten behauptet.

Dabei blieb eine wesentliche Frage übrig, die dann das nächste Buch, „Der Souveränitätseffekt“, aufgegriffen hat. Und das war die Frage: Kann man das, was man im weitesten Sinne Finanzökonomie nennt, auch als bestimmte Machtform begreifen? Und wie ist diese Machtform entstanden? Wie funktioniert sie?

Daraus haben sich zwei Thesen ergeben, die sowohl historischen wie systematischen Charakter besitzen. Erstens, dass das Finanzwesen aus einer engen Symbiose von entstehenden Staatsapparaten und privaten Financiers hervorgegangen ist. Eine orthodoxe Gegenüberstellung von Markt einerseits und Staat andererseits, von Ökonomie einerseits und Politik andererseits reicht also nicht hin, diese Formation, dieses Finanzregime zu erfassen.

Die zweite These ist damit verbunden und besagt, dass sich im Laufe der letzten Jahrhunderte dieser Bereich der Finanzen zu etwas ausgebildet hat, was ich „vierte Gewalt“ genannt habe. Gerade in repräsentativen Demokratien der Neuzeit und Moderne hat sich neben der Legislative, der Judikative und der Exekutive eine Monetative installiert. Das heißt eine Gewalt, die regierungstechnische Funktionen ausübt, also gouvernementale Wirksamkeit beansprucht, aber – wie heute etwa Zentralbanken – von Regierungen und Parlamenten nicht kontrolliert werden kann.

Nun ist wiederum ein Rätsel übrig geblieben, das dann in dem letzten Buch zum Gegenstand geworden ist. Wie kommt man von der Geschichte der Finanzökonomie, der Finanzmärkte und der Finanzindustrie zum, wenn man so will, jüngsten Modernisierungsschub des Kapitalismus? Damit meine ich den Informations- und Plattformkapitalismus, den Digitalkapitalismus. Damit hat sich ein Horizont von Fragen eröffnet, mit denen ich mich zuletzt beschäftigt habe.

Matthias Machnig: Ja, vielen Dank. Das letzte Buch heißt „Kapital und Ressentiment: Eine kurze Theorie der Gegenwart“. Es befasst sich mit Digitalisierung als wesentlichem Treiber. Allerdings kommt im Titel der Begriff Digitalisierung nicht vor, sondern Sie haben das dann auf zwei Begriffe konzentriert: Kapital, also eine ökonomische Dimension, und Ressentiment, eine gesellschaftspolitische Dimension. Warum dieser Titel? Was verbirgt sich dahinter, das so zu konfigurieren?

Joseph Vogl: Zwei grundlegende Fragen. Die eine betrifft den Zusammenhang von Finanzindustrie und Kommunikationstechnologien, einen Sachverhalt, aus dem sich einerseits eine Informatisierung der Finanzmärkte ergeben hat, andererseits eine Finanzialisierung des Informationswesens, aus der dann seit den 1990er Jahren die Plattformunternehmen hervorgegangen sind – Internetprovider, Suchmaschinen, Zwischenhändler, so genannte soziale Medien. Es ging also um eine Entwicklungslinie, die vom Takeoff globaler Finanzmärkte im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts zu neuen Unternehmensformen hinüberführte, den Digitalkonzernen.

Die zweite Frage ging davon aus, dass der Kapitalismus, wie man ihn seit dem 19. Jahrhundert zu beschreiben versuchte, nicht einfach als Wirtschaftssystem zu begreifen ist, sondern als Konglomerat heterogener Elemente und Kräfte, zu denen neben Geschäftsmodellen, Rechtsordnungen, Eigentumsverhältnissen und Marktdynamiken auch kulturelle Faktoren, Mentalitäten, Einstellungen oder bestimmte Subjektformate gehören. So jedenfalls haben Autoren wie Werner Sombart oder Max Weber den Kapitalismus zu fassen versucht, der eben nicht bloß von den Strategien einer profitorientierten rechnenden Vernunft, sondern auch von Affektökonomien geprägt ist.

Und das heißt: Die gegenwärtigen Meinungsmärkte – und damit die Produktionsweisen unserer Öffentlichkeit – werden nicht nur von neuen Quasi-Monopolisten dominiert. Sie sind auch durch Prozesse sozialer Mobilisierung charakterisiert, in denen kollektive Erregungen und die Zirkulation von Affektpotentialen eine wichtige, auch geschäftliche Rolle übernehmen. So bin ich auf den Sozialaffekt des Ressentiments gestoßen: Seit dem 19. Jahrhunderts wurde er als eine Art Triebkraft liberaler Verkehrsweisen, als Effekt und Motor von Konkurrenz- bzw. Wettbewerbsgesellschaften adressiert. Etwas zugespitzt formuliert könnte man das Ressentiment darum als ökonomisches Moralprinzip des jüngeren Kapitalismus begreifen, das gerade in der Dynamik gegenwärtiger Meinungsmärkte eine neue Aktualität erfahren hat.

Um diesen Brückenbau ging es mir also: von der Finanzökonomie über die Plattformindustrie bis hin zu den Meinungsmärkten und die Organisation sozialer Verkehrsformen.

Matthias Machnig: Und Sie beschreiben in Ihrem Buch ja auch, dass es im Kern zu einer Symbiose von Digitalem und Finanzindustrie gekommen ist, dass das Digitale, dem Finanzsystem, der Finanzindustrie ein neues Geschäftsmodell, neue Zugänge und neue Machtformen entwickelt hat. Wie prägend ist das aus Ihrer Sicht und wie intensiv, wie stark ist diese Symbiose?

Joseph Vogl: Man kann drei Verbindungslinien oder Scharniere beobachten. Das erste wäre die schon genannte Symbiose zwischen Finanzmärkten einerseits und Informations- oder Kommunikationstechnologien auf der anderen Seite. Das lässt sich bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgen. Der Einsatz von Brieftauben, von Postreitern, dann der Telegrafie, der Telefonie etc. bis zu digitalen Netzwerken ist eng mit der Geschäftslogik von Börsen und Finanzmärkten verbunden, weil der zeitliche Vorsprung einen Informationsvorteil und der Informationsvorsprung eben sichere Profitchancen garantiert. Man kann zeigen, wie Börsen-, Bank- und Finanzgeschäfte – neben Kriegen und Militär – regelrechte Modernisierungsmaschinen für Informationstechnologien gewesen sind. Das wäre ein erster Punkt.

Ein zweiter Punkt besteht in der geschäftlichen Attraktivität von Plattformunternehmen für das investierende Finanzpublikum. Da lassen sich ein paar elementare Faktoren nennen. Dazu gehört etwa die Reduktion von Fixkapital – Uber muss keine Autos warten, Airbnb muss keine Wohnungen putzen. Damit verbunden ist die Reduktion von Arbeitskosten, mit den so genannten Kontraktoren konnte man Lohnkosten um bis zu dreißig Prozent senken. Nächster Posten: die Minimierung von Grenz- und Marginalkosten. Um das Geschäft zu erweitern, muss man nicht mehr beispielsweise in Immobilien investieren, sondern nur den Speicherplatz erweitern. Damit sind Netzwerkeffekte verbunden, das heißt, dass auf diesen Plattformen mehr User immer mehr User generieren – sie verzinsen sich sozusagen. Letzter Vorzug: die grandiose Artistik der Steuervermeidung. Wie in der Finanzindustrie können die immateriellen Posten und die lizensierten Datenprodukte der Plattformkonzerne unschwer über die Grenzen geschafft und in Steuerparadiesen geparkt werden.

Das hat eine Situation geschaffen, in der diese Unternehmen astronomische Börsenbewertungen erhalten haben. Airbnb ist teurer auf den Finanzmärkten als Hilton International, Uber ist wertvoller als beispielsweise BMW.

Und der letzte Punkt ist eine Art Ei des Kolumbus im gegenwärtigen Finanzkapitalismus: nämlich in der Lösung der Frage, wie man mit nicht-rivalisierenden Gütern, das heißt mit Gütern, die durch den Gebrauch nicht knapper werden, wie man also etwa mit Informationen Geschäfte machen kann. Und das geschieht durch eine radikale Asymmetrierung im Zugang zu Information. Diejenigen, die durch welche Netzaktivitäten auch immer (Freizeit, Arbeit, Herumspazieren, heimliches Vergnügen etc.) Verbindungen herstellen, Daten und Metadaten generieren, die sogenannten User also, dürfen per definitionem keinen Zugang zu den von ihnen produzierten Rohstoffen haben. Nur unter dieser Bedingung lässt sich das Gut der Information kapitalisieren.

Dadurch hat sich eine letzte und direkte Analogie zwischen Plattformunternehmen und Meinungsmärkten einerseits und Finanzmärkten andererseits hergestellt. Auf beiden Seiten operieren Datenbroker, und die Daten von Nutzern werden durch algorithmische Verarbeitung genauso auf Terminmärkten gehandelt wie Finanzprodukte. Es gibt also, wenn Sie so wollen, sowohl technische wie ökonomische Analogien und Verschränkungen zwischen der jüngsten Form des Digitalkapitalismus und der Finanzökonomie. Und mit den Plattformunternehmen vollzieht sich sozusagen eine Finanzialisierung des Sozialen.

Matthias Machnig: Wir haben bislang eher über die ökonomischen Fragen gesprochen. Das Ganze hat natürlich eine sehr weitreichende gesellschaftspolitische Dimension. Das machen Sie Ihrem Buch ja auch deutlich. Es kommt zu strukturellen Veränderungen der Meinungsmärkte. Das hat auch Konsequenzen für die Demokratie und ähnliche Fragen. Deshalb fahre ich mal wie folgt fort.

Sie haben vorhin bei den Finanzmärkten von der vierten Gewalt gesprochen. Ist die Plattformökonomie oder ist die Digitalisierung eine neue fünfte Gewalt, die zu einem, um mal ein altes Buch von Jürgen Habermas zu zitieren, Strukturwandel der Öffentlichkeit führt, mit weitreichenden Konsequenzen für den demokratischen Diskurs? Würden Sie so weit gehen? Ist es eine fünfte Gewalt und erleben wir einen tiefgreifenden Wandel sozusagen der Öffentlichkeit?

Joseph Vogl: Ich denke, der tiefgreifende Wandel der Öffentlichkeit hat sich bereits eingestellt, und die Voraussetzungen dafür, wenn ich das kurz erwähnen darf, bestehen in Gesetzgebungen aus der Mitte der 90er Jahre, deren Konsequenzen damals noch nicht absehbar gewesen sind.

Diese Sache ging von den Vereinigten Staaten aus und betraf im Wesentlichen zwei entscheidende Schritte. Der erste Schritt war die rabiate Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen, der sogenannten Netzwerkarchitektur. Das meint die Öffnung dieser einstmals öffentlichen digitalen Netzwerkstrukturen für private Investoren und die konsequente Benachteiligung öffentlicher Nutzer. Und der zweite Schritt bewirkte ein erstaunliches Haftungsprivilegs für die sogenannten Internetprovider. Das war der berühmte Paragraf 230 des Communications Decency Act von 1996, der diese Situation geschaffen hat, die noch heute wirksam ist, ein Internet-Exzeptionalismus. Seit dieser Gesetzgebung sind Unternehmen für Inhalte, die von Dritten eingestellt werden, selbst nicht verantwortlich. Sie können also nicht haftbar gemacht werden. Sie sind nicht verantwortlich im Sinne des Presserechts. Dadurch hat man Groß-Verleger bzw. Groß-Publisher herangezüchtet, wie beispielsweise Facebook. In Klammern gesagt: 40 Prozent der Amerikaner beziehen Nachrichten nur noch aus diesen sogenannten sozialen Medien.

Man könnte die neue Lage der Öffentlichkeit vielleicht so fassen: Wer veröffentlicht, ist nicht verantwortlich, wer aber Content verantwortet, veröffentlicht nicht. Es hat sich dort also eine zweifache Verantwortungslosigkeit hergestellt. Das ist auch deswegen interessant, weil das Internet zunächst mit eminenten Hoffnungen auf Demokratisierung des öffentlichen Raums verbunden war. Wenn man sich gerade in den Vereinigten Staaten die Situation der 70er Jahre ansieht, dann kann man feststellen, dass es damals so etwas wie eine oligarchische Bewirtschaftung der Öffentlichkeit durch wenige Medien- und Pressekonzerne gab.

Inzwischen haben aber selbst Rechtswissenschaftler in den Vereinigten Staaten festgestellt, dass der Nachteil dieser Meinungsoligarchie in den 70er und 80er Jahren durch einige Vorzüge kompensiert wurde. Diese Unternehmen waren verletzbar durch rechtliche Regelungen und Gerichtsurteile. Sie waren angreifbar durch bestimmte Haftungsbedingungen. Nicht zuletzt waren sie auch verwundbar durch Marktzwänge. Nun hat sich heute wiederum eine Medienoligarchie eingestellt, mit den Plattformen und den entsprechenden Quasi-Monopolisten, Meinungsoligarchien, aber ohne Haftbarkeit. Deren Effekte sind, glaube ich, heute deutlich erkennbar: eine Tribalisierung und Partikularisierung von Öffentlichkeit, also ein Zerfall in einzelne Stammesgemeinschaften, und nicht zuletzt die Herstellung einer Öffentlichkeit, die in letzter Konsequenz plebiszitär funktioniert. Die damit befeuerte Phobie gegen so  genannte Gatekeeper jeglicher Art hat auch eine gewisse Rechtsfeindlichkeit gefördert, nicht zuletzt eine Feindseligkeit gegen die Institutionen einer rechtsstaatlichen Demokratie.

Matthias Machnig: Das rechtliche Argument, das Sie genannt haben, dass es ein Haftungsprivileg gibt, hat natürlich eine Konsequenz: Es gibt nicht mehr die Notwendigkeit der Qualitätssicherung. Andere waren daran gebunden. Deswegen waren sie ja auch potenziell rechtlich belangbar.

Aber ich will eine andere Dimension nochmal einführen. In Ihrem Buch machen Sie eine, wie ich finde, sehr wichtige Unterscheidung, die für den öffentlichen Diskurs von ganz entscheidender Bedeutung ist: die Unterscheidung zwischen Information und Wissen. Und dass Information eben noch kein Wissen ist, aber zum Teil wie Wissen behandelt und gehandhabt wird, was natürlich sehr weitreichende Konsequenzen hat.

Joseph Vogl: Ausgangspunkt ist die Frage, wie sich die Technisierung von Information, also die technologische Implementierung von Kommunikation – und damit ein informationstechnischer Informationsbegriff – einerseits mit einem publizistischen Informationsbegriff auf der anderen Seite kombiniert. Ein steigender Informationswert in technischer Hinsicht – je unwahrscheinlicher eine Symbolkombination, desto mehr Information – verknüpft sich der publizistischen Dimension, wo Information Neuigkeit, Überraschungsdifferenz, eine Irritation von Erwartungsstrukturen bedeutet. In diesem Zusammenhang hat dann etwa die Nachricht, die Erde sei platt wie eine Pizza, mehr Informationswert als die Mitteilung, die Erde sei rund. Zudem hat die Verbindung von Informationstechnologie und Meinungsmärkten nicht nur zur Automatisierung, zur Algorithmierung von Kommunikationsprozessen geführt, sondern zu einer ballistischen Schnellkommunikation, in der es um die beschleunigte Abwicklung von Reiz-Reaktionsverhältnissen, um Selbstverstärkung und Erregungskonjunkturen geht.

Dem stelle ich einen Begriff von Wissen entgegen, der sich nicht etwa mit der Erkenntnis von Tatsachen oder der Herstellung von griffigen Resultaten deckt, sondern sich dadurch auszeichnet, dass Prozesse und Prozeduren in der Erarbeitung von Wissen nicht skalierbar sind. Wissen benötigt Zeit, nimmt Um- und Abwege, übt sich in Hypothesen, die womöglich wieder verworfen werden, schlägt unabsehbare Recherchepfade ein.

Matthias Machnig: Rückkopplungen braucht es auch im Übrigen.

Joseph Vogl: Ja, irgendwie. Aber die Prozesse bleiben stets offen. Wie es einmal in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ hieß: Fachleute werden „niemals fertig“.

Matthias Machnig: Heißt das in der Konsequenz, dass diese Form von Digitalisierung und Meinungsmärkten einen immanent strukturellen Populismus produziert? Ist das die Konsequenz?

Joseph Vogl: Offenbar. Wenn man so will, gibt es eine Art vorinstallierter Wirklichkeit durch diese Informationsmärkte, die durchaus die These rechtfertigen würde, dass die Explosion von Information zu einer Ausweitung von Ignoranzzonen geführt hat.

So etwas wie das Recht auf die eigene Meinung ist damit hegemonial geworden. Mit der Berufung auf die eigene Meinung pocht man zugleich darauf, nichts davon begründen zu müssen. Das begünstigt wohl auch einen strukturellen Populismus: mit der Beförderung von Unmittelbarkeitseffekten, von scheinbar authentischer Direktkommunikation und politischer Mobilisierung durch flagrante ‚community feedback loops‘.

Matthias Machnig: Ihr letztes Kapitel in dem Buch heißt „Die List der ressentimalen Vernunft“. Liegt darin die List der ressentimalen Vernunft, dass es eben eine Entkopplung gibt von Wissen und Information, dass Meinung, von der wir immer glauben, dass sie in einer Demokratie selbstverständlich ist, nicht mehr begründungsnotwendig ist und damit beliebig wird? Ist das die List der ressentimalen Vernunft?

Joseph Vogl: Unter anderem. Es kommen noch weitere Dinge hinzu, die vielleicht auch eine längere Geschichte haben, beispielsweise in der Entstehung bürgerlicher Gesellschaften oder der Marktgesellschaft. Zu denken wäre hier, wie gesagt, an Dinge wie Konkurrenz und Wettbewerb, die Atomisierung der Gesellschaft und damit einhergehend die Erosion von Solidarmilieus.

Im 19. Jahrhundert, also zur Zeit des expandierenden Industrie- und Finanzkapitalismus, hatte man in diesem Zusammenhang ein zunehmendes Vergleichsbewusstsein und eine geschärfte Urteilssucht festgestellt. Das findet sich bei Max Scheler im Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch im 19. Jahrhundert, bei Nietzsche, Tocqueville oder Kierkegaard. Hier konstatiert man eine negative Form der Vergesellschaftung, die sich – das ist eine sehr triftige Definition von Kierkegaard – durch die „negative Einheit einer negativen Gegenseitigkeit der Individuen“ auszeichnet. Diese neue Form einer ökonomisch, oder genauer: kapitalistisch strukturierten Gesellschaft, drängt den Einzelnen die Vermutung auf, dass ihnen immer schon etwas weggeschnappt worden ist. Immer hat ein anderer mehr. Und dadurch entsteht so etwas wie eine Ressentimentbereitschaft, die natürlich sehr erfolgreich bewirtschaftet werden kann.

Lassen Sie mich einen Punkt hinzufügen, um das klarer zu machen. Gleich zwei Aspekte. Ein gutes Demonstrationsobjekt dafür war die Gründerzeit Ende des 19. Jahrhunderts und die Gründerzeitkrisen. Da konnte man feststellen, dass etwa die von Österreich ausgehende Finanzkrise, die in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts globale Dimensionen angenommen hat, zu einer Kritik an der Finanzindustrie, aber dann vor allem zu einer Kritik am internationalen „Finanzjudentum“ und in der Folge zu antisemitischen Bewegungen und antisemitischen Parteien geführt hat. Und der Clou dieser ganzen Geschichte ist, dass mit dieser Personalisierung eines Sündenbocks der Einblick in die Systemfunktionen gewissermaßen verstellt wurde. Das ist die Logik und die List des Ressentiments. Es gibt im Ressentiment einen kritischen Reflex, der an einer entscheidenden Stelle blockiert wird und durch eine Sucht zur Personalisierung den Einblick in die Apparatur verhindert.

Ein letztes Beispiel, das wohl schlagend ist: Man hat in jüngeren Studien untersucht, wie die Brexit-Kampagne in Großbritannien zu einer eigentümlichen Aufspaltung des Unternehmertums geführt hat. Traditionelle Industrieunternehmen, aber auch traditionelle Banken haben in die Remain-Kampagne investiert. Allerdings hat die Avantgarde der globalen Finanzindustrie, Investmentfonds, Hedgefonds, Derivatehändler, vehement in die Leave-Kampagne investiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass für diese Finanzindustrie die europäischen Regulierungen noch zu streng sind. Was hier angestrebt wird, um es mit dem Schlagwort zu formulieren, ist letztlich eine ‚Singapurisierung‘ des Londoner Finanzschauplatzes. Genau in dieser Bewegung hat sich das internationale Finanzkapital, haben sich global operierender Konzerne, Investmentgesellschaften, Hedgefonds etc. mit nationalistischen oder xenophoben Ressentiments verbündet, als könnte der abgeschottete Nationalstaat eine Art Interessensvertretung für die verbleibende Restbevölkerung sein. An solchen Beispielen lässt sich List des Ressentiments wohl sehr klar und direkt dokumentieren.

Matthias Machnig: Ich würde nochmal gern auf die Ebene gerne des Individuums zurückkommen, das sozusagen mit dieser Strukturveränderung von Öffentlichkeit und so weiter konfrontiert ist.

Andreas Reckwitz hat ein Buch geschrieben, „Die Gesellschaft der Singularitäten“, in dem er das Allgemeine und das Besondere herausarbeitet und beschreibt, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der auch die Einzelnen sich persönlich optimieren und zum Besonderen neigen, in Form von Kleidung, in Form von vielen anderen Ausdrucksformen.

Ist dies aus Ihrer Sicht auch eine Konsequenz dessen, was Sie vorhin als Tribalisierung der Meinungsmärkte beschrieben haben. Man kann auch von einer Segmentierung der Meinungsmacht sprechen. Ist das eine Konsequenz oder sehen Sie dort keinen Zusammenhang?

Joseph Vogl: Doch, es gibt wohl einen Zusammenhang. Aber wahrscheinlich helfen monokausale Erklärungen nicht weiter. Also verschiedene Faktoren. Da wäre zunächst die Verteilung von Wettbewerb und Konkurrenz über das Fleisch der Gesellschaft hinweg, die Verwandlung von Individuen in Mikrounternehmen, das unternehmerische Selbst, die Inklusion der Leute in die Finanzmärkte mit der Privatisierung von Gesundheits- und Altersvorsorge. Dann der Drang zu Dauerevaluationen ringsherum, Selbst- und Fremdbewertungen, das Netzgebaren, das Gerangel um Sichtbarkeit und Bemerktwerden zusammen mit der Produktion von ‚Idiotien‘, wörtlich: Selbstbefangenheiten – also ökonomische und technische Infrastrukturen, die den Menschen, das „nicht festgestellte Tier“, wie Nietzsche sagte, mit Verhaltensprogrammen überziehen.

Und wahrscheinlich ist damit eine Bewegung verbunden, die man durchaus antidemokratisch nennen könnte, wie Ihre Frage das ja auch nahelegt. Verschiedene demokratietheoretische Überlegungen stimmen zumindest darin überein, dass sie auf eine Dynamik setzen, die vereinzelte Interessen und partikulare Identitäten auf einen Horizont hin öffnet, an dem sich mögliche Gemeinsamkeiten, das Nicht-Selbstische, das Nicht-Idiotische abzeichnen. Unter gegenwärtigen Produktionsbedingungen, und dazu zählen eben auch die Meinungsmärkte, wird aber genau das Gegenteil vollzogen. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Inklusion der Bevölkerungen in digitale Unternehmensstrukturen werden Partikularitäten hergestellt, als Endprodukte sozusagen. Und diese partikularen oder singulären Existenzweisen haben wohl Resistenzen gegen Fragen des Gemeinwohls entwickelt. Aber das muss man nicht unbedingt den Leuten zurechnen, sondern den technischen, ökonomischen und sozialen Apparaturen.

Matthias Machnig: Man kann ihr Buch dann in der Konsequenz auch als eine Verfallsgeschichte der Demokratie lesen.

Man kann es auch lesen als eine Verfallsgeschichte dessen, was die westliche Kultur ausgemacht hat, nämlich die Aufklärung. Würden Sie es also als eine solche Verfallsgeschichte von Demokratie und Aufklärung lesen? Oder sehen Sie auch Gegenbewegungen? Sehen Sie im Rahmen dieser Strukturveränderung auch Entwicklungen, wo Sie sagen: Das hat das Potenzial, auch in den nächsten Jahren Beiträge zur Aufklärung, Beiträge zur Stabilisierung eines wirklich demokratischen Diskurses zu leisten?

Joseph Vogl: Wahrscheinlich lohnt es sich zunächst, auf die Kräfte, Projekte und Visionen zu schauen, mit denen der gegenwärtige Informationskapitalismus seine eigene Zukunft ausgestalten möchte. Und da gibt es einen starken Drang zum Ausbau parastaatlicher Strukturen. Das fürsorgliche Unternehmen soll den vorsorgenden Staat ersetzen. Es geht um die Aneignung älterer Souveränitätsreserven, bis hin etwa zur Privatisierung von Geld- und Währungssystemen, wie das Facebook etwa mit seinem Bezahlsystem Diem plant. Damit werden auch Sozialformen imaginiert, die man unternehmerisch, abseits von staatlichen Institutionen und Rechtsordnungen bewirtschaften möchte. Ideen wie so genannte ‚Charter Cities‘ gehören dazu, private städtische Communities und Konsumentenparadiese mit eigenen, von Konzernen erfunden Regelsystemen – man könnte das eine ‚Dubaisierung‘ des Gesellschaftslebens nennen. Wahrscheinlich zeichnet sich dabei auch eine neue Schlachtlinie ab, nämlich zwischen alten und alternden demokratischen Rechtsstaaten und den sozialen Enklaven neuer privater Unternehmensmacht.

Gegenkräfte kommen von überraschender Seite, etwa aus dem erzliberalen Zentrum der EU, von der Europäischen Kommission. Sei Ende 2020 liegen europäische Gesetzesentwürfe vor, etwa der Digital Services Act, der Digital Markets Act und der Data Governance Act, deren Umsetzung noch offen ist, die aber verschiedene Dinge in den Blick nehmen: die Monopolstellung bestimmter Unternehmen, die Datenextraktion zu geschäftlichen Zwecken, das Absaugen von europäischen Daten, auch öffentlichen Daten, in amerikanische Unternehmen, schließlich das damit verbundene Haftungsprivileg. Hier bleibt die Frage bestehen, wie weit sich Europa in Richtung digitale Souveränität bewegt oder wird bewegen können.

Andere Interventionsideen stammen aus der Informations- und Digitalbranche selbst, von IT-Spezialisten und Hackern. Dabei geht es um technische Eingriffe zur Unterbrechung positiver Rückkopplungseffekte, um eine Entzerrung von Reiz-Reaktions-Ketten, um die Einrichtung von Abklingbecken für überhitzte Kommunikationen, um das Dazwischenschalten von Störquellen oder die Erhöhung von Hintergrundrauschen. Die verschiedensten Versuche treffen sich in einem Anliegen: die maschinelle, soziale und ökonomische Triebstruktur der Plattformindustrie blockieren.

Zwischen diesen beiden Optionen, also rechtlichen und technologischen Schranken, bleibt allerdings eine entscheidende Frage offen, nämlich die ökonomische: Wie könnten die toxischen Geschäftsmodelle und Unternehmensstrukturen selbst aufgebrochen werden?

Matthias Machnig: Das würde mich jetzt zu weiteren Fragen führen, denn die Digitalisierung ist ja nicht zu Ende.

Sie wird massiv weitergehen. Wir werden eine weitere Digitalisierung von Geschäftsmodellen, digitalisierte Arbeitsmärkte und ähnliches erleben. Wir brauchen immer mehr digitalisierte Qualifikationen. Das sind riesige Herausforderung für die Politik. Und ich kann aus meiner Praxis im Bundeswirtschaftsministerium sagen: Der kritische Blick war immer da, allerdings fehlten uns auch die Instrumente. Das sind aber Instrumente, die nun, da wir Neuland betreten, sowohl rechtlich als auch technisch definiert werden müssen.

Joseph Vogl: Ich glaube, man sollte sich daran gewöhnen, dass Begriff der Digitalisierung heute zu einem Synonym für die Kapitalisierung, für die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Infrastrukturen geworden ist. Die lautstarke Digitaleuphorie (man kann es kaum mehr hören) zielt ja nicht bloß auf ein ‚schneller‘, ‚vernetzter‘, ‚digitaler‘, ‚zukunftsfähiger‘ ab, sondern auf schleichende Enteignungen. Ein Beispiel wären die Universitäten: Die Produktionsmittel, die an der Verfertigung und Vermittlung von Wissen beteiligt sind, wandern in die Privatwirtschaft ab. Man folgt dabei den Interessen der Digitalkonzerne, nämlich mehr und mehr Lebensbereiche aus der analogen Welt in die digitale hinüberzuschaffen – also den Netzbürger zu perfektionieren.

Und das wäre eine letzte Hypothese. So etwas wie Solidarmilieus, eine Voraussetzung demokratischer Verständigung, kann unter digitalen Bedingungen nicht entstehen. Sie benötigen analoge Umgebungen und Schauplätze. Ein Beispiel: als sich in Berlin die Rider, d.h. eigentlich die Tagelöhner von Lieferdiensten gegen schlechte Bezahlung und miese Arbeitsbedingungen zu wehren versuchten, ist das nur beim Lieferservice Gorillas gelungen. Das Unternehmen unterhält – anders als andere Dienstleister wie etwa Lieferando – feste Standorte und Warenlager, über die Stadt verteilt. Das erleichterte die Versammlung von Leuten und die Gründung eines „Gorillas Workers Collective“, das dann Protest und Streiks organisierte.

Darum die Behauptung: Die Verteidigung der analogen Welt bis hin zu öffentlichen Räumen ist ein wesentliches Element in der Verteidigung demokratischer Politik. Oder anders gesagt: Der Netzbürger verkörpert die Dystopie des demokratischen.

Matthias Machnig: Ein großer Satz zum Schluss! Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Ich kann nur eines sagen: Wer Ihr Buch „Kapital und Ressentiments“ gelesen hat, der guckt auf die Digitalisierung noch mal mit einem anderen Blick, mit einem kritischen Blick.