Die Einführung der „Doppik“ auf Bundesebene macht es möglich, zwei bisher unversöhnliche politische Schwerpunkte miteinander harmonisch zu verbinden.
Die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben einen neuen Bundestag gewählt. Auf dieser Grundlage hat sich nun eine neue Bundesregierung zu bilden. Dieses Regierungsbündnis steht vor der großen Herausforderung, nicht nur z. T. sehr unterschiedliche politische Positionen zu einer tragfähigen, kohärenten Regierungsidee zusammenzuführen. Es hat auch für die zentralen politischen Fragen belastbare Antworten zu finden.
Eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die neue Regierung zu stellen hat, ist es, die massiven Defizite in der systemrelevanten Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland zu beheben. Dies gilt in besonderer Weise für die bedeutsamen Investitionsherausforderungen in den Sektoren Verkehr, Bildung und Umwelt sowie im Bereich der Digitalisierung. Es ist leicht erkennbar, dass es zur Bewältigung dieser gewaltigen Investitionserfordernisse erheblicher finanzieller Anstrengungen bedarf. Letzteren gerecht zu werden kann mit Blick auf die wahrscheinliche politische Zusammensetzung der Regierungskoalition und die hierdurch zu berücksichtigenden finanzpolitischen Forderungen nur realisiert werden, indem gleichzeitig die Bedingung einer soliden und ökonomisch seriösen Haushaltspolitik erfüllt wird. Wie kann dieser Spagat gelingen?
Gelöst werden kann das Problem nur, wenn der allenthalben zu spürende Wunsch nach umfassender gesellschaftlicher Erneuerung und die durchgreifende Aufbruchstimmung genutzt werden, jahrzehntelang beschrittene Trampelpfade des ökonomischen und finanzpolitischen Denkens zu verlassen. Eine in diesem Sinne besonders große Belastung stellt das aus dem 18. Jahrhundert stammende Rechnungswesen dar, mit dem wir auch im 21. Jahrhundert noch versuchen, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zu steuern: die Kameralistik. Der größte Nachteil dieses dem Bundeshaushalt zugrunde liegenden Finanzsystems ist, dass es nur Einnahmen und Ausgaben kennt und bei den Ausgaben nicht danach unterscheidet, ob sie investiver oder konsumtiver Natur sind. Mit dieser fiskalischen Gleichsetzung werden nicht nur Zukunftsinvestitionen strukturell benachteiligt. Die Kameralistik verletzt in Verbindung mit der „Schwarzen Null“ auch die Forderung nach Generationengerechtigkeit, obwohl politisch genau das Gegenteil behauptet wird. Denn ökonomisch bedeutet die vorstehend beschriebene finanzpolitische Situation, dass die aktuellen Steuerzahlerinnen eine Investition vollständig aus den laufenden Steuereinnahmen finanzieren, obwohl das Investitionsobjekt über einen ggf. mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum genutzt werden kann. Die gegenwärtige Generation wird in diesem Finanzregime somit gegenüber der kommenden Generation benachteiligt.
Um diese in einer modernen Volkswirtschaft nicht länger hinnehmbaren Defizite auszuräumen, ist der Bundeshaushalt auf das Rechnungswesen der sog. „Doppik“ umzustellen, wie dies beispielsweise die Kommunen in NRW aufgrund einer entsprechenden gesetzlichen Vorgabe schon vor über 10 Jahren realisieren mussten. Dies bedeutet, dass der Bundeshaushalt in Zukunft aus einer Bilanz und einer Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) besteht. Investitionen werden in diesem Rechnungswesen als Vermögenszuwachs in der Bilanz aktiviert und durch einen Kredit auf der Passivseite der Bilanz finanziert. Der entscheidende Vorteil ist, dass die Investition im laufenden Haushalt durch die Steuerzahlungen der Bürgerinnen nicht mehr in Höhe des gesamten Investitionsvolumens, sondern nur noch in Höhe der durch die Investition verursachten Kosten zu bezahlen ist. Zu letzteren zählen die Kreditzinsen sowie die auf die Investition vorzunehmenden Abschreibungen. Da die Kreditzinsen zurzeit bei null liegen und die Abschreibungen sich abhängig von der Nutzungsdauer der Investition über einen sehr langen Zeitraum bis zu mehreren Jahrzehnten erstrecken können, ergibt sich ein gewaltiger Investitionshebel auch für den Fall, dass auf der Ebene des laufenden Haushalts (GuV) die (konsumtive!) „Schwarze Null“ (Ausgaben sind nicht größer als die Einnahmen) eingehalten wird.
Die Umsetzung des vorstehenden Reformvorschlags würde eine säkulare Zäsur im deutschen Finanzwesen darstellen, aber endlich Schluss machen mit der ökonomisch dilettantischen Steuerung des bundesrepublikanischen Haushaltssystems. Mit Blick auf seine inhaltliche Reichweite und das schon sprichwörtliche Beharrungsvermögen des öffentlichen Sektors wird sich dieser Vorschlag einer intensiven Kritik ausgesetzt sehen. Einige der kritischen Anmerkungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorgetragen werden, sollen hier antizipiert und schlaglichtartig beleuchtet werden.
Ein erster Einwand könnte darauf hinweisen, dass der investive Hebel deutlich geringer ausfällt, da Abschreibungen nicht nur für Neuinvestitionen, sondern auch für die bestehenden Vermögenswerte gebildet werden müssten. Dieser Hinweis ist bilanzpolitisch grundsätzlich richtig. Er fällt aber mit Blick auf die fehlende bzw. marode Infrastruktur nicht sonderlich ins Gewicht, da viele Anlagengüter wie z. B. Autobahnbrücken schon jenseits ihrer Nutzungsdauer sind, obwohl sie noch genutzt werden. Diese befinden sich, betriebswirtschaftlich gesprochen, am „Goldenen Ende“: Sie entfalten noch einen Nutzen, verursachen aber keinen bilanziellen Abschreibungsaufwand mehr.
Als zweites Gegenargument könnte angeführt werden, dass die Einführung der „Doppik“ administrativ nicht leistbar ist, da zur Erstellung der Eröffnungsbilanz sämtliche Vermögensgegenstände im Besitz der Bundesrepublik Deutschland erfasst und bewertet werden müssten. Auch dieser Hinweis dürfte von eher geringer argumentativer Durchschlagskraft sein, da beispielsweise die Kommunen in NRW durchweg alle in der Lage waren, diese Aufgabe zu meistern. Damit sollte dies auch für den Bund insbesondere vor dem Hintergrund zu leisten sein, dass hierfür selbst unter Berücksichtigung der Größenrelation deutlich mehr personelle Kapazitäten zur Verfügung stehen.
Ein dritter Einwand könnte dem Reformvorschlag zwar grundsätzlich die angestrebte Wirksamkeit attestieren, aber darauf hinweisen, dass der intendierte Zweck zur Vermeidung des Totalumbaus des Bundeshaushaltssystems auch durch die Auslagerung der notwendigen Investitionen in einen Investitionsfonds erreicht werden könnte. Diesem Vorschlag muss aus zwei Gründen energisch widersprochen werden. Zum einen reicht es nicht aus, lediglich einige investive Projekte auszulagern. Das „doppische“ Haushaltsprinzip hat vielmehr den kompletten Bundeshaushalt zu prägen und damit insbesondere auch den Sicherheits- und Verteidigungsbereich zu umfassen. Zum anderen würde die Auslagerung einen massiven Verstoß gegen die rechtliche Vorgabe der Haushaltsklarheit und -wahrheit bedeuten.
Ein vierter, durchaus ernst zu nehmender Hinweis könnte schließlich die politischen Herausforderungen adressieren, da die Umsetzung des Reformvorschlags einer verfassungsändernden Mehrheit zur Modifizierung der Schuldenbremse bedarf. Diese darf sich nicht mehr länger auf den kameralistischen Gesamthaushalt, sondern nach Umstellung auf die „Doppik“ nur noch auf den konsumtiven Haushalt (GuV) beziehen. Gleichwohl ist aus zwei Gründen nicht ausgeschlossen, dass eine verfassungsändernde Mehrheit erreicht werden kann. Zum einen ist oben nachgewiesen worden, dass die Behauptung, die „Schwarze Null“ sei ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit, im Rahmen eines kameralistischen Haushaltssystems ökonomisch falsch ist. Zum anderen bleibt die disziplinierende Wirkung der Schuldenbremse mit dem Ziel der Realisierung der „Schwarzen Null“ bestehen, indem die Kreditaufnahme zum Ausgleich des konsumtiven Haushalts weiterhin verboten wird und Kredite nur zur Finanzierung von Investitionen entlang ihres Abschreibungspfades zulässig sind.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Einführung der „Doppik“ in den Bundeshaushalt eine politisch attraktive und ökonomisch intelligente Option ist, die Finanzierung der mit Blick auf den defizitären Zustand der Infrastruktur dringend erforderlichen Investitionsoffensive bei Aufrechterhaltung der Haushaltsdisziplin zu ermöglichen. Soll die parteiübergreifend eingeforderte gesellschaftliche und wirtschaftliche Erneuerung gelingen, müssen endlich auch in finanzpolitischer Hinsicht alte Zöpfe abgeschnitten werden. In diesem Sinne ist das Finanzsystem im Rahmen des nun anstehenden Modernisierungsaufbruchs auf ein Konzept umzustellen, das den ökonomischen Anforderungen an eine moderne Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert gerecht wird.
Dr. Michael Heidinger