Die Reform der europäischen Schuldenregeln wird für die Gewerkschaften im nächsten Jahr eines der zentralen wirtschaftspolitischen Themen sein. Es steht viel auf dem Spiel, denn die Schuldenstände sind aufgrund der Corona-Pandemie in vielen Mitgliedstaaten empfindlich gestiegen. Es geht darum, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, dabei eine rigide Sparpolitik zu vermeiden und trotzdem genügend Spielraum zu schaffen für öffentliche Investitionen.

Schon Mitte Oktober hat die Europäische Kommission den lang erwarteten Startschuss gegeben für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Sie hat ein öffentliches Konsultationsverfahren wiedereröffnet, das bereits 2020 in Gang gebracht, aber wegen der Corona-Pandemie unterbrochen wurde (die Antworten des Deutschen Gewerkschaftsbundes auf die Fragen der EU-Kommission finden sich hier). Die Ergebnisse der Konsultation sollen in die Reformvorschläge einfließen, welche die EU-Kommission Anfang nächsten Jahres präsentieren wird. Die EU-Schuldenregeln sind derzeit ausgesetzt und werden voraussichtlich 2023 wieder in Kraft treten. Bis dahin sollten sie idealerwiese reformiert sein oder es sollten Übergangsregelungen gefunden werden.

Die Position der neuen Bundesregierung ist grundsätzlich zu begrüßen

Die Position der neuen Ampel-Koalition zu diesem Thema ist bislang noch vage, aber vielversprechend. Die neue Bundesregierung scheint eine Mittelposition einzunehmen zwischen den fiskalpolitischen Falken und vielen südeuropäischen Mitgliedstaaten, die seit langem auf eine Flexibilisierung der Regeln drängen. Die Notwendigkeit der Stärkung öffentlicher Investitionen wird anerkannt, wenngleich einer weitreichenden Reform eine Absage erteilt wird. Die Aussage im Koalitionsvertrag, der Stabilitäts- und Wachstumspakt hätte in der Corona-Krise seine Flexibilität bewiesen, verkennt hingegen die grundlegenden Defizite des bestehenden fiskalpolitischen Regelwerks. Träte es unverändert 2023 wieder in Kraft, wären viele Mitgliedstaaten gezwungen eine brutale Sparpolitik zu verfolgen mit Konsequenzen für die gesamte Eurozone. Und auch die Transformation unserer Wirtschaft, die aufgrund des Klimawandels unausweichlich ist, ist mit den bestehenden Regeln schwer zu machen. Denn die EU-Regeln verlangen ein strukturelles Defizit von maximal 0,5% für Mitgliedstaaten mit einem Schuldenstand über 60% des BIPs. Bei der Berechnung des strukturellen Saldos wird der gesamte Sektor Staat einbezogen (also nicht nur der Kernhaushalt, wie es bei der Schuldenbremse der Fall ist). Dem Ziel einer nachhaltigen Stärkung öffentlicher Investitionen werden so unnötig Steine in den Weg gelegt.

Eckpfeiler einer pragmatischen Reformagenda

Wie der Spagat zwischen soliden Finanzen und einer Stärkung öffentlicher Investitionen gelingen kann, zeigt eine neue interdisziplinäre Studie, die im Auftrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) angefertigt wurde. Die Studie skizziert Reformoptionen, die innerhalb der bestehenden EU-Verträge möglich und die Eckpfeiler des bestehenden fiskalpolitischen Regelwerks unangetastes lässt. Das heißt: An den Maastricht-Kriterien, insbesondere an der 3%-Defizitgrenze und der 60%-Schuldenstandsquote muss nicht gerüttelt werden. Auch an der in Art. 126 AEUV festgelegten Maßgabe übermäßige Defizite zu vermeiden, kann festgehalten werden. Und trotzdem ließe sich das fiskalpolitische Regelwerk erheblich verbessern. Die Ergebnisse der Studie sind in eine Stellungnahme des EWSA eingeflossen, die zeigt dass ein pragmatischer Kompromiss zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften auf europäischer Ebene möglich ist: Die organisierte Zivilgesellschaft in der EU setzt auf eine goldene Regel für öffentliche Investitionen, auf flexiblere Schuldenabbaupfade und auf mehr Spielraum für eine antizyklische Wirtschaftspolitik.

Eine pragmatische Reform der EU-Schuldenregeln ist nur der erste Schritt

Die hier skizzierte pragmatische Reformagenda ist aus gewerkschaftlicher Perspektive nur der erste Schritt. Hinter einer solchen Lösung könnten sich idealerweise Akteure aus einem breiten politischen Spektrum versammeln. Jedoch kann eine solche Reformagenda nicht alle Probleme der EU-Fiskalpolitik lösen. Das heißt: Über grundlegende Reformen an der EU Economic Governance – etwa im Kontext der Konferenz zur Zukunft Europas – muss weiterhin dringend diskutiert werden. Insgesamt sollte sich die EU-Wirtschaftspolitik von ihrer Fixierung auf das Ziel der Haushaltskonsolidierung lösen.

Weitere wirtschaftspolitische Zielsetzungen, die ebenfalls in den EU-Verträgen verankert sind, wie etwa Vollbeschäftigung, soziale Konvergenz und ökologische Nachhaltigkeit, sollten stärker in den Fokus treten. Auch eine deutlichere Infragestellung der 60%-Schuldenstandsquote wäre geboten. Die 60%-Grenze gilt im jetzigen Regelwerk als Prüfstein für fiskalpolitische Nachhaltigkeit. Sie lässt sich aber in dem derzeitigen Zinsumfeld makroökonomisch nicht mehr begründen (Priewe 2020, Dullien et al. 2021). Einige Autoren plädieren auch dafür, ganz auf numerische Zielgrößen zum Schuldenstand und zum strukturellen Defizit zu verzichten und anstatt dessen andere Indikatoren für die Nachhaltigkeit von Staatsschulden heranzuziehen (De Grauwe 2021 und Priewe 2021) und den Mitgliedstaaten insgesamt einen größeren Ermessensspielraum in der Fiskalpolitik zu lassen.

Eine weitere zentrale Baustelle ist die politische Steuerung: Bislang haben weder das Europäische Parlament noch die nationalen Parlamente ein Mitspracherecht bei den europäischen fiskalpolitischen Vorgaben. Eine stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments und eine effektive Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft an zentralen Stellen des Europäischen Semesters sind überfällig. Es ist an der Politik hier ein Strategiewechsel einzuleiten und das nach der Finanzkrise neu geschaffene System der EU Economic Governance auf ein solides demokratisches Fundament zu stellen.

 

Dr. Dominika Biegon