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SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP haben ihrem Koalitionsvertrag für die Legislaturperiode 2021-2025 den Titel „Mehr Fortschritt wagen“ gegeben. Sie spielen damit an auf den bekannten Ausspruch von Kanzler Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“, den er in seiner ersten Regierungserklärung am 29. Oktober 1969 als Leitmotiv für seine Reformen benannt hat.

Der Fortschritt, den wir meinen

Auch heute stehen wir vor weitreichenden Veränderungen in der Gesellschaft und im Arbeitsleben. Denn der Klimawandel erfordert eine andere Arbeits- und Lebensweise auf dem gesamten Globus. In der kommenden Dekade werden dazu weitreichende Entscheidungen auf allen politischen Ebenen zu treffen sein.

Das Wirtschafts- und Sozialmodell, dass sich in der Mehrheit der europäischen Länder im 20. Jahrhundert etabliert hat, hat der Freiheit des Marktes durch die Ziele Gleichheit und Solidarität ein starkes Gegenwicht gegeben.

Für die anstehende Transformation muss gelten, dass genauso wie Freiheit und Gleichheit einander bedingen, dürfen Klimaschutz und Sozialstaatsprinzip in einer demokratischen Gesellschaft nicht gegeneinandergestellt werden. Die Transformation muss dem Anspruch folgen, demokratisch, sozial und nachhaltig zu sein.

Der Wandel der Arbeitswelt ist bereits für viele Beschäftigte spürbar – sei es durch den Einsatz digitaler Technologien, durch flexibles Arbeiten und wechselnde Arbeitsorte oder auch die Notwendigkeit, sich immer wieder auf veränderte (Qualifikations-)Anforderungen einzustellen.

Jede Veränderung produziert jedoch auch immer Unsicherheit. Unsicherheit wiederum gilt als Triebfeder für antidemokratische Einstellungen. Der demokratische Auftrag ist daher ein doppelter. Erstens muss der Prozess demokratisch, mitbestimmt und fair sein. Zweitens muss das Ergebnis zu einer Stärkung von Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe beitragen. Wer also Fortschritt will, muss sich damit auseinandersetzen, wie der Wandel gestaltet werden kann ohne unnötige Verunsicherung oder Ängste zu schüren.

Warum ist Demokratie wichtig?

Zugespitzt heißt die Frage unserer Zeit, wie kann die Apokalypse abgewendet und das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten gesichert werden. Dies kann nur gelingen, auch dies ist unzweifelhaft geklärt, wenn die Menschheit ihre Art zu leben und zu arbeiten radikal verändert. Der Mensch steht also bereits im Zentrum einer Transformation, die zum Ziel hat, den Klimawandel aufzuhalten. Die Transformation nun aber so auszugestalten, dass sie nicht nur ökologischen, sondern auch sozialen Zielen folgt ist bislang nicht definiert. Die Wirkweise des Kapitalismus ist aus sich heraus beiden Zielen eher abträglich. Die Errichtung stabiler Demokratien in Europa hat im Gegensatz dazu beigetragen, dass Viele am ökonomischen Wachstum und Wohlstand teilhaben konnten. Die Frage also, wie Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft gestaltet sein müssen, damit alle Menschen sich und ihre Bedürfnisse berücksichtigt wissen und aus dieser Gewissheit heraus, daran mitwirken können, ist elementar, um eine Gesellschaft nachhaltig weiter zu entwickeln und Fortschritt zu gestalten. Der Schutz der Menschheit ist folglich nur in einer offenen und inklusiven Gesellschaft möglich.

Warum ist unsere Demokratie gefährdet?

Dort, wo Sicherheit und Perspektiven fehlen, verfangen antidemokratische Einstellungen besonders stark. Kompensation nennen dies die Psychologen. Einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte, klare Zuweisungen von Ursachen und Schuld wirken – vermeintlich – einem Gefühl von Machtlosigkeit entgegen. Es überrascht daher auch nicht, dass die Covid19-Pandemie nicht nur zu einem allgemeinem „Politikfrust“ beigetragen hat, sondern Nährboden für Verschwörungsmythen bietet. Die Soziologie hat sich bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts intensiv mit der Entstehung extremistischer Haltungen, der „Mobilisierung von Feindgefühlen“[1] und der Rolle von Verschwörungsmythen auseinandergesetzt. Der Zusammenhang mit sozialem Status ist evident. Jüngere Analysen der Hans-Böckler-Stiftung zu den sozialen Lebenslagen und antidemokratischen Einstellungen bekräftigen diese Befunde und zeigen eine weite Verbreitung von Skepsis und Verschwörungsmythen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen. [2]

Anti-demokratische Einstellungen in der Bevölkerung sind gefährlich, weil sie die Orte, die Personen und den Rahmen demokratischer Willensbildung diskreditieren und ihnen die Legitimation entziehen, für alle bindende Entscheidungen zu treffen. Demokratie lebt aber genau davon, dass in definierten, nachvollziehbaren Verfahren Entscheidungsprozesse erfolgen – anders als in autoritären Regimen. Die fehlende Akzeptanz von Entscheidungen kann aber einen weiteren verheerenden Effekt haben. Wenn sich immer mehr Menschen und insbesondere jene, die von sich aus bereits mit geringeren Machtressourcen wie Status, Einkommen und Bildung ausgestattet sind, von demokratischer Mitwirkung zurückziehen, entsteht ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung, ein exklusiver Kreis von Wenigen, die ihren Einfluss dadurch vergrößern können.

Mitbestimmung dagegen ist das demokratische Gestaltungsprinzip für Viele. Mitbestimmung sichert Arbeitnehmer*innen die demokratische Beteiligung im Betrieb. Wenn Beschäftigte erleben, dass sie Veränderungen und Umstrukturierungen aktiv mitgestalten können, dann stärkt das auch die Widerstandsfähigkeit gegen Verschwörungsmythen und Demokratieskepsis. Auch deshalb hat Mitbestimmung unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft stark gemacht.

Wie Fortschritt demokratisch gelingt

Die Pandemie hat wie in einem Brennglas die Schwächen unserer gesellschaftlichen Ordnung offenbart. Einkommensschwache Beschäftigtengruppen, Frauen, Jugendliche und junge Erwachsene leiden besonders unter den Folgen der Pandemiebekämpfung. Die Abkehr von staatlichen Institutionen und der Glaube an Verschwörungsmythen hat daher nicht selten etwas mit realen Erfahrungen von Existenzbedrohung, Statusverlust und ungleichen Chancen zu tun.

Damit der Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt und nicht weiter geschwächt wird, darf die bevorstehende Transformation nicht wieder zulasten einzelner Gruppen gehen. Die sozialen Folgen von technologischen wie regulatorischen Neuerungen bei den Themen Energiewende, Verkehrswende und Agrarwende, die die neue Bundesregierung ganz oben auf die Agenda gesetzt hat, müssen immer und vor allem von Anfang an berücksichtigt werden. Die Frage, wie und vor allem wo investiert werden wird, wird dabei dauerhaft darüber entscheiden, ob der soziale Zusammenhalt erhalten bleiben und verbessert werden wird. Denn das Gelingen der Verkehrswende ist für die Mehrheit der Menschen nicht nur abhängig von neuen Antriebstechnologien, sondern auch von einer funktionierenden Nahversorgung. Die neue Bundesregierung hat sich hier als Maßstab hierfür die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gesetzt. Daran wird sie sich messen lassen müssen.

Wenn die Interessen der Vielen, die Stimme der Arbeit, in den Betrieben, in den Parlamenten und in der Gesellschaft hör- und sichtbar ist, kann sozialer Ausgleich, die Sicherung guter Arbeit und das Einhalten der Klimaschutzziele gemeinsam realisiert werden. Wenn Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Stärkung der Mitbestimmung in den ersten Tagen seiner Amtszeit auf die Agenda setzt, dann macht das Hoffnung, dass der Fortschritt demokratisch gelingen kann.

 

Dr. Claudia Bogedan ist Sozialwissenschaftlerin. Seit September 2021 ist sie Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung. Zuvor war sie sechs Jahre lang Senatorin für Kinder und Bildung der Freien Hansestadt Bremen.

 

[1] Lipset, S. M. 1962, Soziologie der Demokratie, Luchterhand, S. 120.

[2] Hövermann, A. 2021, Sommer 2021: Inzidenzen sinken, Corona-Zweifel und Verschwörungsmythen bleiben. WSI Policy Brief, Düsseldorf.