01.03.2022Geopolitik

Großmachtwettbewerb: Deutschland zwischen den Stühlen

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Das Verhältnis zwischen China und den USA hat sich innerhalb kürzester Zeit grundlegend verändert. Die Kulisse ist nicht länger die Globalisierung mit ökonomischen Renditen, sondern knallharter politischer Großmachtwettbewerb. Im Fokus des wirtschaftlichen Wettstreits steht nicht mehr der Handel. Vielmehr erhebt China Anspruch auf technologische Führung und untermauert dies mit einer Reihe erfolgreicher strategischer Initiativen. Ein Beispiel: China Standards 2035 verpflichtet das Land zu einer aktiven Rolle bei der internationalen Definition von Industriestandards, vor allem im Technologiesektor. Eine effizientere, langfristig angelegte Industriepolitik gibt es kaum.

Zu solchen industriepolitischen Maßnahmen gesellen sich auf beiden Seiten des Pazifiks Beschränkungen von Technologie- und Datentransfers. Inländische Unternehmen kehren an die heimischen Kapitalmärkte zurück, um den Informationsanforderungen ausländischer Regulierungsbehörden zu entgehen. Umgekehrt werden ausländische Unternehmen im eigenen Land härter reguliert.

Auf Seiten Chinas ist das Großmachtstreben kein demokratisches Projekt. Die Interessen vieler Arbeitnehmer und Konsumenten und zuweilen auch der Internetriesen im Reich der Mitte stehen hinten an. In den USA genießt die Chinapolitik zwar eine breite Zustimmung, liberal und marktwirtschaftlich sind viele der wirtschaftspolitischen Maßnahmen allerdings nicht.

Europa, allen voran Deutschland, muss in diesem Umfeld seine Position neu bestimmen – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Ein global vernetzter Industriestandort zu sein reicht als Wettbewerbsvorteil nicht mehr aus, denn der Konflikt wird tiefgreifende Folgen für die Weltwirtschaft haben. Lieferketten werden sich verändern, zudem wird der Zugang zu strategischen Komponenten wie Halbleitern neu organisiert – um nur zwei Beispiele zu nennen. Als exportierende Industrienation ist Deutschland aber abhängig von funktionierenden Lieferketten, dem Zugang zu Absatzmärkten und wichtigen Rohstoffen. Die Folge: Wir sitzen zunehmend zwischen den Stühlen, denn die USA und China sind außerhalb der Europäischen Union unsere beiden wichtigsten Handelspartner.

Der Großmachtwettbewerb wird die Wirtschaftspolitik des nächsten Jahrzehnts auch auf eine andere Art prägen. Insbesondere die USA schicken sich an, ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Digitalisierung und Infrastruktur auf ein deutlich höheres Niveau zu heben. Europa und Deutschland dürfen nicht den Anschluss verlieren, denn sonst entstehen die Wachstumspotenziale erneut vor allem außerhalb Europas.

Lange bestand die wirtschaftspolitische Strategie Deutschlands im Kern aus zwei Elementen: Finanzpolitische Stabilität auf der einen Seite und Sicherung offener Märkte für deutsche Produkte auf der anderen. Die sich verändernden globalen Rahmenbedingungen lassen Zweifel wachsen, ob diese Strategie zukunftsfähig ist. Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung muss Deutschland an seiner Innovationskraft arbeiten, um die in vielen Bereichen gute internationale Wettbewerbsposition nicht aufs Spiel zu setzen. Deshalb sind höhere Investitionen als in der jüngeren Vergangenheit notwendig, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.

Eine Chance für Europa liegt darin, dass Chinas Jahre des zweistelligen Wachstums vorbei sind. Der eher mengenorientierte Export- und Investitionsboom der vergangenen zwanzig Jahre fordert seinen Tribut. Die Wirtschaft soll innovativer werden, muss aber gleichzeitig umgebaut werden. Unter anderem muss der Staat Wohlstand stärker umverteilen, um die wirtschaftlichen Verhältnisse in China besser in Einklang mit der kommunistischen Ideologie zu bringen. Das kostet Ressourcen. Anders ausgedrückt: Chinas Potenzial, hohe Wachstumserträge dafür zu nutzen, europäische Unternehmen zu überrollen, sinkt. Erhalten wir unsere Innovationskraft – wie das jüngste Beispiel Corona-Impfstoffe zeigt, bleiben uns frustrierende Erfahrungen der Vergangenheit erspart – wie etwa in der Solarenergie.

Was also sollte Deutschland tun? Eine überzeugende Strategie der EU-Staaten einschließlich Deutschlands steht noch aus. In vielen Bereichen wie etwa Künstlicher Intelligenz, Quanten-Computing oder Halbleitertechnik ist Deutschland bereits heute abgeschlagen. Das ist auch eine Frage der Prioritätensetzung: Ein Drittel der deutschen Forschungsausgaben fließt in den Automobilsektor, in den USA sind es nur 5 Prozent. Anders im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie: In den USA beträgt der Anteil 22 Prozent, in Deutschland liegt er bei nur 6 Prozent.

Deutschland sollte den Anfang bei seinen Stärken machen, etwa im Maschinen- und Anlagenbau als Basis für die vernetzte Industrie 4.0. Ein Hindernis ist die vielerorts schlecht ausgebaute digitale Infrastruktur. Dabei ist der sichere Netzwerkausbau die Voraussetzung schlechthin für künftige Innovationen. Deutschland sollte deshalb die Digitalisierung mit aller Kraft vorantreiben. Daneben bietet auch die Umwelttechnologie Chancen. Entscheidend ist die politische Unterstützung, um einen europäischen Markt mit heimischen Liefernetzwerken zu entwickeln. Positive Beispiele dafür sind die European Battery Alliance oder die European Clean Hydrogen Alliance.

China setzt einen Fokus auf heimische Innovation, also Forschung und Entwicklung vor Ort. Dies könnte zum Risiko für den deutschen Mittelstand werden. Denn das Reich der Mitte verknüpft zunehmend den Marktzugang mit der Forderung, auch Entwicklungsabteilungen nach China zu verlagern. Damit gerät eine der großen Stärken der deutschen Industrie ins Visier: das einzigartige Innovationsnetzwerk zwischen Konzernen und Mittelstand. Bewegen deutsche Konzerne Forschungsabteilungen nach China, könnte diese Stärke beschädigt werden. Deutschland sollte daher besonnen mit Technologietransfers und der Verlagerung von Entwicklungsabteilungen umgehen. Besser wäre, die eigene Innovationsfähigkeit zu stärken, zum Beispiel bei der Finanzierung von Start-ups.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass chinesische Unternehmen zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt werden können. Das Land bringt beste Voraussetzungen mit: Der geschützte Heimatmarkt bietet Unternehmen geringen Wettbewerbsdruck, Größenvorteile sowie günstige Finanzierungsbedingungen. Dies ermöglicht überdurchschnittliche Gewinne, die die Unternehmen in Forschung und Entwicklung investieren können, um Produktivität und Qualität der Produkte zu steigern. Außerdem schützt China weiterhin junge Industrien durch Zugangsbeschränkungen vor ausländischer Konkurrenz.

Dies könnte auch deutschen Domänen wie dem Automobil- und dem Maschinenbau langfristig gefährlich werden. Deshalb ist Selbstschutz angebracht. Die EU ist gefordert. Das Ziel muss sein, auf europäischer Ebene den Binnenmarkt deutlich strategischer zu gestalten, also mit politischer Rückendeckung attraktive Märkte mit größeren Skalenvorteilen zu schaffen. Deutschland sollte darauf hinwirken, etwa im Dienstleistungsbereich. Gelingt uns das, müssen sich in Deutschland weniger Unternehmen für eine Seite – China oder USA – entscheiden.

Eine mutmaßliche Folge des Großmachtwettbewerbs werden zwei unabhängige Einfluss- und Technologiesphären mit unterschiedlichen Normen und Standards sein. Im direkten Vergleich hat Deutschland dann eindeutig mehr politische Übereinstimmungen mit den USA als mit China. Eine enge Abstimmung mit den Vereinigten Staaten ist deshalb in vielen Bereichen sinnvoll. In jedem Fall erhöhen zwei getrennte Einflusssphären den operativen Aufwand deutlich. Größere Unternehmen können diese Mehrbelastung vielleicht noch stemmen. Für viele kleinere Unternehmen dürfte das schwierig sein. Sie werden sich entscheiden müssen.

Eine enge Zusammenarbeit mit den USA sollte aber keinesfalls bedingungslos sein. Sich von China einseitig komplett abzuwenden wäre ein Fehler, denn Asien und das Reich der Mitte sind und werden auch auf Sicht attraktive Wachstumschancen für deutsche Unternehmen bieten. Der Platz zwischen den Stühlen wird immer unbequemer – umso wichtiger ist es für Deutschland und Europa, besonnen eigene Interessen zu formulieren und eine klare Vorstellung unserer Zukunft zu entwickeln.

 

Dr. Jörg Zeuner