Versorgungssicherheit hat jetzt Priorität – Der Klimawandel darf jedoch nicht vergessen werden

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Seit dem 24. Februar ist die Welt für uns eine andere. Der Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine und der brutale Krieg in dem Land auch gegen die Zivilbevölkerung verändern nicht nur die geopolitische Lage. Sie verändern auch Weltbilder und Prioritäten. Das Regime des größten Flächenstaats der Erde und Hauptlieferant für Energie in Deutschland ist isoliert. Auch wenn wir immer vor Augen haben müssen, dass das russische Volk für diese Akte von Terror und Gewalt nicht verantwortlich ist und damit selbst zum Opfer wird, kann es lange dauern, bis sich Beziehungen normalisieren.

Seit dem 24. Februar stellen sich deshalb unvermittelt dringlich und sehr verschärft Fragen für die Energiepolitik in Deutschland. Was längst hätte ganzheitlich adressiert werden müssen, wird dringlich. Auch deshalb, weil es das Volk unmittelbar trifft: an den Zapfsäulen, unter der Dusche und im Wohnzimmer. Und das Volk ist das Fundament der Demokratie. Auf den Punkt gebracht, geht es um folgendes: Welche Bedeutung sollten die einzelnen Aspekte des „Energiepolitischen Dreiecks“ – Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit – kurz-, mittel- und langfristig haben? Kurzfristig wird die Versorgungssicherheit höchste Priorität haben müssen, wenn wir nicht unsere Lebensgewohnheiten drastisch einschränken oder die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit Arbeitsplätze riskieren wollen.

Dennoch stellt sich zwangsläufig die Frage nach Alternativen und damit einer Diversifizierung: Der schnelle Bau von LNG-Terminals kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Ebenso hohes Tempo beim Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft – internationale „Grüne-Energie-Partnerschaften“ sind essenziell. Genauso Investitionen in Energieeffizienz – auch bei industriellen Prozessen. Ob die Laufzeit von Atomkraftwerken verlängert werden sollte, sollte sorgfältig geprüft werden – zumindest wird dieses schon evaluiert. Dasselbe gilt – wenn wirklich nötig – für Kohlekraftwerke. Es gilt nun, klug und vorausschauend die Situation zu analysieren. Daraus muss ein auf Nachhaltigkeit und Langfristigkeit ausgerichteter Plan resultieren, der unvergleichlich schneller umgesetzt werden muss, als das heute je die Öffentliche Hand bewerkstelligt hat. Aber hier kann die Wirtschaft in konzertierter Aktion helfen. Sie weiß, wie das geht.

„Net-Zero“ sollte trotz der schrecklichen Ereignisse nicht aus dem Blickwinkel geraten. „There is no Planet B“ – das gilt nicht nur für nukleare Bedrohung, sondern auch für den Klimawandel. Wir müssen an drei Stellen im Energiesystem ansetzen: bei der Stromerzeugung mit niedrigen oder Nullemissionen, beim Transport und der Speicherung von Energie. Und, wie wir weniger CO2-Emissionen und einen geringeren Energieverbrauch bei industriellen Prozessen erreichen. Wir brauchen dabei erheblich mehr Geschwindigkeit und Verwaltungsinnovation. Die Industrie trägt Mit-Verantwortung. Es braucht neue, innovative Technologien und die Fähigkeit, diese in Produkte und Anlagen umzusetzen. Und bis erneuerbare Energien im ausreichenden Maß verfügbar sind, werden wir auch Brückentechnologien wie Erdgas für noch mindestens einen Investitionszyklus benötigen.

Energiesysteme werden grün und hybrid

Der Trend in der Energiewelt ist unumkehrbar: Unsere Energiesysteme werden zunehmend grün und hybrid: zentral, man denke an große Offshore-Windparks; und dezentral, die Photovoltaik ist hier das ideale Beispiel. Die fossile Welt wird von der Welt der Erneuerbaren ersetzt. Dabei ist die Transformationsgeschwindigkeit je nach Land und Region unterschiedlich. McKinsey rechnet mit zusätzlichen 275 Billionen US-Dollar für den Zeitraum 2021 bis 2050 für Net-Zero global. Dabei ist die Finanzierung nur ein Faktor.

Andere sind: CO2-Intensität – in allen Bereichen von der Erzeugung über den Transport bis zum Verbrauch. Versorgungssicherheit – also Schutz vor Cyberattacken wie auch die Sicherheit von Energietransport-Routen und die Diversifizierung der Lieferanten. Kosten – Energie muss bezahlbar sein. Gerechtigkeit – sowohl Klimagerechtigkeit als auch Zugang zu Strom für die fast 800 Millionen Menschen, die ihn heute noch nicht haben.

Klimapolitik ist Weltpolitik – Umwelttechnologien made in Germany müssen ein Schlüssel zum Gelingen sein

Der Energiesektor (Elektrizität und Wärme) ist für 30 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Wir müssen Emissionen aus dem System nehmen. Und das geht, indem wir hierzulande Umwelttechnologien entwickeln und herstellen, die weltweit zum Einsatz kommen. So können wir auch hochqualifizierte Arbeitsplätze im Land halten und neue aufbauen. Eines ist klar: Mit einem weltweiten Anteil von nicht einmal zwei Prozent an den globalen Treibhausgas-Emissionen reicht es nicht, wenn wir Klassenprimus in Deutschland sind. Natürlich müssen wir die Klimaziele erreichen, dennoch ist Klimapolitik Weltpolitik. Erst der globale Einsatz von emissionsarmen und emissionsfreien Technologien führt uns – hoffentlich noch – auf den 1,5 Grad-Pfad.

Vier Aspekte für einen Kurswechsel

Aus meiner Sicht sollten wir vier Aspekte für einen Kurswechsel in der Energiewirtschaft berücksichtigen. Alle haben mit Innovation zu tun.

Erstens, das Umsetzen von bekannten und bewährten Lösungen – und das Weglassen von nicht mehr zukunftsfähigen Lösungen. Der Kohle-Ausstieg 2038 hierzulande ist richtig und sollte idealerweise früher kommen. Bei Siemens Energy haben wir uns bereits 2020 auf ein Nein zu Kohle-Neuprojekten festgelegt. Atomkraft in der heutigen Form halte ich nicht für eine nachhaltige Lösung: Wir übergeben nachfolgenden Generationen für viele Hundert Jahre radioaktive Abfälle. Und wenn man dies in die Rechnung miteinbezieht, wird man weltweit kaum ein Atomkraftwerk finden, das sich wirtschaftlich rechnen würde.

Es gibt bewährte Technologien, mit denen wir Schritt für Schritt in Richtung Net-Zero kommen können: etwa hocheffiziente Gaskraftwerke, die Kohle ersetzen („Coal-to-Gas-Shift“) und die Emissionen um etwa 50 Prozent bis zwei Drittel senken. Nicht die Gasturbine ist klimaschädlich, sondern der Brennstoff „Erdgas“. Wenn wir Gasturbinen wasserstofffähig machen, man sie also zunehmend mit grünem Wasserstoff antreiben kann, dann sorgt man auch dafür, dass diese Technologie zukunftsfähig ist. Die Industrie jedenfalls wird technologisch bereit sein, wenn 100-Prozent-Wasserstofffähigkeit notwendig ist. Die Politik muss dafür sorgen, dass der Hochlauf der Wasserstoffproduktion entsprechend wirtschaftlich stattfinden kann.

Bewährte Lösungen ergeben sich auch aus der Energiegewinnung aus Wind und Sonne. Gerade bei der Windkraft haben wir Nachholbedarf. Es sollte in unser aller Interesse sein, dass wir die Flaute beim Bau neuer Anlagen hinter uns lassen. Heute baut Siemens Gamesa Offshore-Turbinen mit einem Durchmesser von 222 Metern und einer Kapazität von bis zu 15 MW. Windkraft auf See wird durch diese leistungsfähigen Anlagen ein Schlüsselelement der Energiewende sein. Was vielfach noch unterschätzt wird, ist die Bedeutung des Transports der großen Strommengen beispielsweise von den deutschen Küstenstandorten in die Lastschwerpunkte. Hier setzen wir zunehmend auch auf die Gleichstromübertragung – insbesondere, da diese auch längere Distanzen mit Hochspannungskabeln überbrücken lässt.

Zweitens, das Hochskalieren von neuen Lösungen, Stichwort Wasserstoffwirtschaft. Ohne eine ausgeprägte Wasserstoffwirtschaft wird die zweite Stufe der Energiewende, die Dekarbonisierung, nicht zünden! Und zwar allein schon deshalb nicht, weil etwa die Hälfte des globalen Endenergiebedarfs gar nicht oder nur schwer direkt zu elektrifizieren ist. Daher muss der Zugang zu Wasserstoff für Unternehmen so selbstverständlich werden wie ein Stromanschluss, Wasser aus der Leitung und schnelles Internet. Entscheidend ist, dass wir mit hohem Tempo industriell skalieren und damit die Herstellungskosten für Wasserstoffprodukte erheblich senken. Grüner Wasserstoff und seine Derivate müssen vom Luxus- zum „Commodity“-Produkt werden. Eines ist allerdings auch klar: Wir müssen uns auf höhere Energiepreise einstellen und die Besteuerung anpassen.

Für einen erfolgreichen Markthochlauf und eine effektive Sektorenkopplung sollte es in der Startphase nicht maßgeblich sein, ob der Wasserstoff grün oder blau ist; selbst grün hat ja farbliche Nuancen. Die CO2-Intensität sollte entscheidend sein. Die EU und insbesondere auch Deutschland werden große Importeure von grüner Energie werden. Wir müssen alles daran setzen, über Energiepartnerschaften die Versorgungssicherheit zu niedrigen Kosten zu sichern. Dazu gehört jetzt die Schaffung eines Markts für Wasserstoff beziehungsweise für dessen Derivate wie Methanol oder Ammoniak. Aber auch synthetische Kraftstoffe müssen Einzug in unseren Energieverbrauch finden, zusätzlich zur e-Mobilität. Wie sonst wollen wir weltweit die über 1,3 Milliarden Fahrzeuge weltweit mit Verbrennungsmotoren zur Reduktion der CO2-Emissionen einbinden?

Drittens, Nachdenken über zukunftsfähige Ansätze. In einigen Jahrzehnten, wenn der Anteil erneuerbarer Energien schließlich 100 Prozent der Energiebereitstellung erreicht, werden Versorger, Übertragungsunternehmen und die Industrie in der Lage sein, eine CO₂-freie Wirtschaft zu schaffen. Aus Kraftwerken, wie wir sie kennen, werden Hybridkraftwerke: Dazu gehören 100 Prozent „grüne“ Gasturbinen, die für einen zuverlässigen Energiefluss sorgen, Wärmespeicher, Wärmepumpen für Fernwärme und Elektrolyseure zur Herstellung von Wasserstoff. Auch Batterien und thermomechanische Speicher zur Erzeugung von grünem Strom werden Teil des Mix sein. Und insbesondere Wasserstoff wird eine langfristige Energiespeicherung ermöglichen. Die Integration der Wasserstofferzeugung in Offshore-Windturbinen wird bereits in Forschungs- und Entwicklungsprojekten umgesetzt. Und da es möglich wäre, Energie in alle verbrauchenden Wirtschaftssektoren mit integrierten Energiespeichersystemen zu übertragen, seien es Gebäude, Mobilität, Industrie oder Landwirtschaft, wäre die gesamte Wirtschaft dekarbonisiert. In diesem System müssten alle Rädchen ineinander greifen. Die größte Herausforderung besteht darin, die Integrationsfähigkeit und Resilienz eines solchen Systems sicherzustellen.

Viertens, Circular Economy und Kernfusion: Auf der Suche nach einer umfassenden Vision für die Energieversorgung für das 22. Jahrhundert. Einige Gedanken dazu: Energiepolitik ist nur dann erfolgreich, wenn sie die Zukunft unseres Planeten sichert. Dabei kommt man an zwei Aspekten nicht vorbei: Zum einen an eine umfassende Vorstellung von Nachhaltigkeit, Stichwort „Circular Economy“. Der „Kreislauf“ muss geschlossen werden. Netto-Null heißt für mich auch, dass Anlagen etwa zur Erzeugung von Wind- und Sonnenenergie, für die Stahl, Kunststoffkomponenten, seltene Erden und andere Rohstoffe zum Einsatz kommen, recycelbar sind. Ansätze dafür gibt es schon beispielsweise mit recycelbaren Rotorblättern. Der Weg zu 100 Prozent Recycling-Quote ist aber noch weit und wirtschaftlich beschwerlich.

Ein weiterer Aspekt ist die Suche nach einer unerschöpflichen Energiequelle, die manche mit der Suche nach dem heiligen Gral vergleichen: Ob die Kernfusion diese Quelle ist, entscheidet sich in der Forschung. Der Traum, eine Energiequelle wie die Sonne auf der Erde zu erschaffen, lebt jedenfalls. Und wir tun gut daran, solche visionären Projekte weiterzuverfolgen – auch auf die Gefahr hin zu scheitern und wieder Neues zu wagen.

Mit Hilfe unserer Innovationskraft können wir dem Klimawandel wirksam begegnen. Wir sollten dabei nicht auf DEN großen Wurf warten, sondern einen Maßnahmen-Mix aus Evolutionärem und Revolutionärem wählen und konsequent umsetzen. Wichtig: Wir können beim „Energiepolitischen Dreieck“ zeitweilig, weil es einfach zwingend nötig ist, eines der Ziele stärker betonen. Wir sollten aber darüber nicht vergessen, die beiden anderen Ziele mit Nachdruck zu verfolgen. Eine Energiewende muss eine sichere Versorgung gewährleisten, sie muss umweltverträglich und wirtschaftlich sein. Das erfordert von allen Beteiligten Mut, Entschlossenheit und Weitsicht – auch und gerade in einer Zeitenwende, wie wir sie im Zeitraffertempo erleben. Auch wenn unsere Gedanken und Emotionen beim ukrainischen Volk sind und unsere Hoffnungen bei denen, die in Russland gegen diese Gewalt aufstehen, so müssen wir doch auch klug, überlegt, weitsichtig und konsequent unser Land und seine Rolle in Europa und in der Welt denken und ausrichten.

 

Joe Kaeser