Von 60 auf 75 Prozent – die Oberleitung als Klimaretter

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Elektrifizierung der Schiene: weniger CO2, weniger Energieimporte

Wir müssen die Elektrifizierung auf der Schiene auf das erforderliche Maß heben. Denn ohne Energiewende kein Klimaschutz – und ohne umfassende Verkehrswende keine Energiewende. Dies gelingt beim Transport von Gütern und der Beförderung von Personen, nicht nur, aber eben auch, mit dem planvollen Abschied von fossilen Energieträgern und der Hinwendung zu klimaneutralen Antriebsformen. Ein Teil der Verkehrswende ist damit ohne Zweifel die Antriebswende – und damit die Elektrifizierung der Verkehrsmittel. Auf der Schiene begann diese bereits vor über 100 Jahren. Von derzeit etwas über 60 Prozent müsste Deutschland den Anteil der elektrifizierten Strecken bis 2030 auf mindestens 75 Prozent erhöhen. Eine Herkulesaufgabe – die angesichts der Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten fossiler Provenienz umso dringlicher wird.

Klimaschutz, Effizienz und Geräuschkulisse: Vorzüge der Elektrifizierung

Mit einem höheren Anteil an elektrifizierten Schienenstrecken ergibt sich ein ganzes Bündel an Vorzügen. Die Abkehr von fossilen Energieträgern führt zur Erhöhung des Einsatzes regenerativer Energien im Eisenbahnbereich und damit zu einem Verkehr ohne lokale Emissionen. Die Elektrifizierung ermöglicht durchgängigere Verbindungen im Schienengüterverkehr und im Personenverkehr auf der Schiene – einschließlich besserer Taktung der Verkehre. Nicht zuletzt ermöglicht sie leiseres Fahren und eine höhere Flexibilität bei der Nutzung der Schienen-Infrastruktur.

Doch bei der Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken in Deutschland standen bisher vor allem folgende Aspekte im Vordergrund: Erstens ermöglicht die elektrische Traktion deutlich größere Höchstgeschwindigkeiten wegen der im Zug installierten hohen spezifischen Antriebsleistung. Zweitens ermöglicht sie den Einsatz von schweren Güterzügen mit weniger Lokomotiven und dies bei höherer Geschwindigkeit. Drittens, die elektrische Traktion ermöglicht relativ einfach, viele Radsätze, insbesondere die für den S-Bahn-Betrieb vorgesehenen Triebwagen, anzutreiben und infolgedessen eine hohe Beschleunigung sowie eine rein elektrische Bremsung mit Energierückspeisung dieser Fahrzeuge zu gewährleisten. Alternativ kann man Fahrzeuge einsetzen, die per Batterie oder Brennstoffzelle betrieben werden. Doch diese sind schwerer und technisch aufwändiger. Darüber hinaus ist der Wirkungsgrad und damit der Gesamtenergiebedarf mit Strom aus der Fahrleitung in der Regel deutlich günstiger. Aber auch diese Antriebsarten können je nach Begebenheit der Strecke durchaus sinnvoll sein. Dies kann von Fall zu Fall sinnvoll sein, jedoch nur als Ausnahme von der Regel.

Veränderte Rahmenbedingungen

Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Die politisch gewollte Energiewende hin zu regenerativen Energien aus Wind, Sonne und Wasserkraft, hat dazu geführt, dass seit etwa einer Dekade bei der Beschaffung von Schienenfahrzeugen wieder solche mit elektrischem Antrieb bevorzugt werden. Dass mit einem reinen Antriebswechsel – etwa beim Pkw – keine Mobilitätswende gelingen kann, soll hier nicht weiter vertieft werden. Um jedoch einen elektrischen Bahnbetrieb zu realisieren, werden seit noch nicht allzu langer Zeit auch Strecken als – für Bahnfreunde ein Unwort – „elektrifizierungswürdig“ betrachtet, bei denen die genannten Aspekte keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung haben. Dies gilt insbesondere für Strecken des Schienenpersonennahverkehrs. Aber auch Strecken der Güter-, Werks- und Hafenbahnen sollen elektrifiziert werden, um einen elektrischen Bahnbetrieb so weit wie möglich auf der ersten und letzten Meile eines Güterzuglaufes anzubieten. Auch wenn der elektrische Bahnbetrieb sowohl in der Politik als auch in der Öffentlichkeit immer mehr Zuspruch erhält, werden oft die scheinbar hohen Kosten für die Elektrifizierung einer Strecke als Hinderungsgrund genannt. Daher wird häufig gefordert, auf diesen Strecken Fahrzeuge einzusetzen, die wohl elektrisch angetrieben werden, aber keine Oberleitung zur Speisung mit Fahrstrom erfordern.

Beschleunigung und Vereinfachung von Planung und Genehmigung

Um deutlich schneller und erheblich mehr Verkehre auf die Schiene zu bringen, müssen wir das Schienennetz weiter elektrifizieren. Nach wie vor ist die effizienteste und kostengünstigste Form der Elektrifizierung die Oberleitung. Doch ihr Bau scheitert in der Praxis an langwierigen und komplizierten Planungs- und Genehmigungsprozessen. Der VDV hat als Branchenverband deshalb konkrete Vorschläge für eine vereinfachte und damit schnellere Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken erarbeitet. Damit wäre das Ziel der Branche, im deutschen Schienennetz den Elektrifizierungsgrad auf mindestens 75 Prozent zu steigern, in den kommenden Jahren erreichbar. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition stehen weitreichende Ziele für die Beschleunigung und Vereinfachung von Planung und Genehmigung für Bauvorhaben. Die vom VDV vorgelegten Vorschläge für den vereinfachten Bau von Oberleitungen passen zu diesen Überlegungen.

Branchenverband schlägt Vereinfachungen vor

Der VDV schlägt unter anderem vor, bei Elektrifizierungsvorhaben für Eisenbahnstrecken künftig auf eine Vorprüfung der Umweltverträglichkeit und auf den üblichen Planfeststellungsvorbehalt zu verzichten. Weiteres Verbesserungspotenzial steckt zudem in der grundsätzlichen Konzeption von Fahrleitungen: Die Bauart von Oberleitungen muss künftig besser an die jeweiligen Anforderungen der Betriebsführung von Strecken angepasst werden. Der Branchenverband entwickelt dazu aktuell bereits ein Regelwerk für wirtschaftliche Oberleitungsanlagen von regionalen Eisenbahnstrecken beispielsweise mit Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 120 km/h und darunter, das Spielräume für den Betrieb und die Ausstattung regionaler Eisenbahnen berücksichtigt. Nicht zuletzt müssen Nebenbahnen mit einer Streckengeschwindigkeit von 80 km/h nicht zwingend mit Fahrleitungen elektrifiziert werden, die auch für 200 km/h geeignet sind. Dies wäre ein sachgerechter Beitrag zur Planungsbeschleunigung bei der Elektrifizierung des Schienennetzes. Die vorliegenden und zum Teil noch in der Erarbeitung befindlichen Empfehlungen und Maßnahmen wird der VDV in die bundespolitische Diskussion als aktiven Lösungsbeitrag mit einbringen, um schnell zu mehr klimafreundlichem und effiziente elektrischen Schienenverkehr in Deutschland zu gelangen.

Joachim Berends

 

Das VDV-Positionspapier „Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken als Teil der Energiewende“ liegt auf vdv.de/positionen bereit.