Eine europäische Antwort auf die Energie(preis)krise

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Seit Mitte 2021 sind die Preise an den europäischen Großhandelsmärkten für Strom und Gas stark angestiegen. Wesentliche Ursache sind die im historischen Vergleich bereits in 2021 niedrigen Gaslieferungen aus Russland und die in 2021 ausgebliebene Sommerbefüllung der Gazprom zuzuordnenden Gasspeicherkapazitäten.[1] Seit der Verschärfung der Ukraine-Krise Ende 2021/Anfang 2022 und insbesondere seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich die Situation auf den Energiemärkten weiter verschärft. Die Preise für Gas liegen nicht nur auf den kurzfristigen Spotmärkten, sondern auch an den Terminmärkten für das gesamte Jahr 2022 bei über 100 EUR/MWh (ausgehend von einem historischen Niveau von ca. 20 EUR/MWh) und fallen danach nur langsam. Als unmittelbare Folge sind auch auf den europäischen Strommärkten, wo Gaskraftwerke häufig die Grenzerzeugungstechnologie darstellen, die Preise stark gestiegen. Sie liegen – ökonomisch folgerichtig – vielfach auf dem Niveau der variablen Stromerzeugungskosten von Gaskraftwerken und damit teilweise über 200 EUR/MWh.

Bereits Ende vergangenen Jahres hatten verschiedene Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unter Federführung von Spanien und Frankreich angesichts der gestiegenen Preise Eingriffe in den Energiemarkt gefordert und Änderungen am Strommarktdesign verlangt. Im Mittelpunkt stand dabei die Forderung, Strompreise nicht länger auf Basis der Grenzkosten der Stromerzeugung zu bilden. Damit sollte ein Durchschlagen der Gaspreise auf die Strompreise verhindert werden. Angesichts der weiteren Verschärfung der Energiekrise hat diese Debatte nun erneut Fahrt aufgenommen und sich gleichzeitig thematisch erweitert. Die Europäische Kommission, die im vergangenen Herbst Änderungen am Strommarktdesign noch abgelehnt hatte, erwägt nun Abschöpfungsmechanismen für sogenannte Windfall Profits von Stromerzeugern.[2] In ihrer jüngsten Mitteilung zu Energiepreisen hat sie darüber hinaus explizite regulatorische Preisdeckel für Großhandelsmärkte sowie eine staatliche Subventionierung fossiler Brennstoffe wie Gas und Kohle als Optionen genannt.[3] Beim Europäischen Rat am 24./25. März 2022 haben die Staats- und Regierungschefs stundenlang über die Einführung derartiger Maßnahmen verhandelt. Dabei wurden zwar noch keine EU-weiten Preiseingriffe beschlossen. Allerdings haben Spanien und Portugal offensichtlich die Zusage erhalten, im iberischen Strommarkt mit Subventionen für fossile Brennstoffe, die letztendlich auf eine Senkung der variablen Stromerzeugungskosten und damit des Großhandelsstrompreises zielen, intervenieren zu dürfen. Gleichzeitig soll die Europäische Kommission kurzfristig Interventionen auf europäischer Ebene zur Senkung der Energiepreise prüfen.[4]

Die nächsten Wochen werden deshalb entscheidend für die Frage sein, ob Europa eine angemessene Antwort auf die andauernde Energiepreiskrise findet. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass die aktuellen Preise nicht Ergebnis einer spekulativen Blase, sondern Ausdruck einer fundamentalen Knappheit speziell bei Gas sind. Bereits im laufenden Winter hätte es bei anhaltend niedrigen Temperaturen zu Versorgungsproblemen kommen können. Für den kommenden Winter ist die Situation noch deutlich unsicherer. Selbst wenn Europa nicht von sich aus ein Gasembargo beschließt, besteht jederzeit die Gefahr, dass Russland die Gaslieferungen nach Europa stoppt. Auch wenn die Beherrschbarkeit des resultierenden Gasmangels aktuell unterschiedlich eingeschätzt wird, wären die volkswirtschaftlichen Konsequenzen des resultierenden Gasmangels jedenfalls gravierend und würden deutlich über die ebenfalls spürbaren Wirkungen der aktuell hohen Energiepreise hinausgehen.[5] Daher sollten alle Maßnahmen zum Umgang mit den hohen Energiepreisen das Risiko einer Verschärfung der Knappheit bedenken.

Die derzeit auf europäischer Ebene diskutierten Maßnahmen erscheinen vor diesem Hintergrund wenig zielgerichtet bzw. sogar kontraproduktiv.

  • Einen Schwerpunkt der EU-Debatte bilden Preisbildung und Design der Strommärkte, obwohl die Energiepreiskrise vor allem eine Gaspreiskrise ist. Es gibt keinerlei Evidenz für Marktversagen an den Strommärkten. Insbesondere ist die Orientierung der Preise an den Grenzkosten der Produktion kein Ausdruck fehlerhaften Marktdesigns, sondern ein effizientes Signal und Ergebnis rationalen ökonomischen Verhaltens, das auch an anderen Märkten auftritt.
  • Auch für besonders verletzliche Gruppen von Endverbrauchern dürfte der Anstieg der Gaspreise ein sehr viel größeres Problem darstellen als der Anstieg der Strompreise. Einerseits übersteigt der typische Haushalts-Gasverbrauch (abhängig von der Wohnfläche bis zu ca. 20.000 kWh) den typischen Haushalts-Stromverbrauch (ca. 3.500 kWh im Drei-Personen-Haushalt) deutlich. Andererseits ist Gas sehr viel weniger mit Abgaben und Umlagen belastet. Preisanstiege im Großhandelsmarkt wirken sich deshalb deutlich unmittelbarer auf den Endverbraucherpreis aus als bei Strom.
  • Trotz offensichtlicher Energieknappheit und der Gefahr von deren Verschärfung spielen Maßnahmen, die auf eine Senkung des Energie- und speziell des Gasverbrauchs zielen, in der europäischen Debatte bisher keine Rolle.
  • Stattdessen werden explizit preissenkende Maßnahmen gefordert, die Anreize zur Energieeinsparung und Substitution von Gas durch andere Energieträger absenken und die Knappheit weiter verstärken.
  • Zudem erstaunt, warum viele Diskutanten die Abschöpfung von angeblichen Übergewinnen in das Zentrum ihrer Reaktion stellen wollen. Solche Übergewinne sind extrem schwierig zu bestimmen, u. a., weil Erzeuger ihre erwartete Produktion möglicherweise bereits sehr langfristig vermarktet haben und von aktuell hohen Preisen gar nicht profitieren. Der Versuch einer Abschöpfung untergräbt aber das Vertrauen von Marktakteuren und bremst Marktreaktionen, die zur Milderung der Krise beitragen können. Zudem wird durch die Abschöpfung allein die Belastung keines einzigen Verbrauchers abgemildert. Es ist gleichzeitig nicht erkennbar, dass sinnvolle staatliche Entlastungsmaßnahmen aktuell an mangelnden fiskalischen Kapazitäten scheitern würden.

Die Einführung eines Preisdeckels für die Großhandelsmärkte für Strom und/oder Gas wäre die stärkste und gleichzeitig schädlichste Intervention. Gerade im Gasmarkt würde ein solcher Preisdeckel nicht nur zu einem unerwünschten Nachfrageanstieg, sondern vermutlich unmittelbar zu einem Nachfrageüberhang führen und eine physische Rationierung der Nachfrage notwendig machen. Gleichzeitig würde mit dem Preisdeckel die wichtigste Informationsquelle über die ökonomische Bedeutung der Gasversorgung für die einzelnen Wirtschaftssubjekte „stummgeschaltet“, weil Verbraucher ihre Zahlungsbereitschaft nicht mehr ausdrücken könnten. Die volkswirtschaftlichen Kosten des notwendigen Nachfrageverzichts würden damit nach oben getrieben, die konjunkturellen Folgen verschärft. Zudem wäre die Umsetzung einer nicht freiwilligen Nachfragekürzung gerade im Gasbereich, wo Verbraucher nicht einfach abgeschaltet werden können, technisch und prozedural hoch problematisch. Aber auch die von Spanien und Portugal, selbst von Gasknappheit kaum betroffen, als (bi-)nationale Maßnahme bereits angekündigte und von einer Vielzahl von Mitgliedsstaaten EU-weit geforderte Subventionierung des Einsatzes fossiler Brennstoffe in der Stromerzeugung würde kurz- und langfristig kontraproduktiv wirken und die Krise weiter verschärfen.[6]

Es stellt sich deshalb die Frage, wie eine geeignetere europäische Antwort auf die aktuelle Energie(preis)krise aussehen könnte. Im Rest dieses Beitrags sollen dazu zumindest erste Ansätze entwickelt werden. Dabei wird von nachfolgenden Leitlinien ausgegangen.

  • Die aktuell hohen Preise für Strom und Gas sind Ausdruck physischer Knappheit und nicht Ursache des Problems. Politikmaßnahmen sollten deshalb darauf zielen, diese physische Knappheit zu verringern oder zumindest nicht zu verstärken. Sie sollten die Folgen hoher Preise abmildern, nicht aber den Preismechanismus selbst untergraben.
  • Im Zentrum der Maßnahmen sollten diejenigen Verbrauchergruppen stehen, für die die hohen Energiepreise eine besondere Härte darstellen. Gleichzeitig muss Europa seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffimporten verringern. Kompensationsmaßnahmen für hohe Energiepreise sollten entsprechende Transformationsprozesse nicht aufhalten.
  • Die Beherrschung der Gasmangellage kann den Einsatz andere fossiler Energieträger erfordern und zu Mehremissionen von Treibhausgasen führen. Das ist kurzfristig unvermeidbar. Umso wichtiger ist, die Erreichung der mittel- und langfristigen Klimaziele nicht zu gefährden.
  • Die enge Verknüpfung der Energiesysteme der EU-Mitgliedsstaaten im europäischen Binnenmarkt verbessert die physischen Reaktionsmöglichkeiten auf die Krise und mildert die Folgen der Energieknappheit. Gleichzeitig sind die finanziellen Konsequenzen in Form gestiegener Energiepreise dadurch auch in Mitgliedsstaaten spürbar, bei denen die Abhängigkeit von Brennstoffimporten aus Russland deutlich geringer ist als z. B. in Deutschland. Physische Solidarität bei der Bewältigung der Knappheit und finanzielle Solidarität bei der Milderung der preislichen Konsequenzen sollten deshalb nicht getrennt voneinander betrachtet werden.

In diesem Sinne ist es wichtig und notwendig, dass die EU-Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten, um den Gasverbrauch in ganz Europa so schnell und so weit wie möglich zu reduzieren bzw. das Gasangebot zu erhöhen. Dabei geht es nicht um die Vorbereitung von Maßnahmen, die erst bei Ausfall von russischen Gaslieferungen aktiviert werden. Vielmehr sollten jetzt präventiv Maßnahmen ergriffen werden, um die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen im nächsten Winter zu verringern. Nicht verbrauchtes oder zusätzlich verfügbares Gas kann eingespeichert werden und erhöht die Flexibilität in Gasmangellagen. Dabei sollte in einer gemeinsamen Strategie der Einspeicherung von Gas in den besonders von russischen Lieferungen abhängigen mittel- und osteuropäischen Staaten Priorität eingeräumt werden. Auf politisch in verschiedenen Mitgliedsstaaten geforderte verbrauchssteigernde Preiseingriffe zu verzichten, ist ein offensichtlich wichtiger weiterer Schritt. Aber auch darüber hinaus sollten alle Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Reduzierung des Gasverbrauchs oder Steigerung des Gasangebots beitragen können. Dabei ist klar, dass keine einzelne Maßnahme zur Lösung des Problems führt, sondern maximal kleine Beiträge leisten kann. Auch solche Beiträge werden jedoch benötigt. Dabei sollten die Mitgliedsstaaten im Sinne der europäischen Solidarität auch gemeinsam bereit sein, in ihren jeweiligen Ländern unpopuläre Maßnahmen zu prüfen bzw. umzusetzen. Dazu gehören z. B. in Deutschland eine Reaktivierung von Kohlekraftwerken und ihr tatsächlicher Einsatz in der Stromerzeugung zur Verdrängung gasbasierter Erzeugung sowie die Verlängerung der Laufzeit der noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke. Analog könnte z. B. die niederländische Regierung die Erhöhung der Produktion im Gasfeld Groningen prüfen.

Die europäischen Staaten sollten darüber hinaus auch abgestimmte Maßnahmen ergreifen, die die Folgen der hohen Energiepreise bei besonders betroffenen Verbrauchergruppen abfedern, ohne gleichzeitig verbrauchserhöhend zu wirken. Im Bereich der privaten Endverbraucher entstehen hohe Belastungen vor allem durch die Gaspreise. Zur Kompensation kommen v. a. pauschale bzw. anhand von Haushaltsmerkmalen pauschalisierte oder vom Energieverbrauch in der Vergangenheit abhängige Zahlungen in Frage.[7] Zusätzlich ist zu bedenken, dass bei Haushaltskunden Preissignale aufgrund langer Vertragslaufzeiten und nachlaufender Abrechnungen nur verzögert ankommen. Auch kann für diese Verbraucher kein perfekt rationales Verhalten unterstellt werden. Daher sollten für diese Gruppen explizite Kampagnen aufgelegt werden, die das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Energieeinsparungen stärken und explizite wirtschaftliche Anreize zum Energiesparen setzen. Denkbar wären z. B. Prämien für eine nachgewiesene Absenkung des jährlichen Energieverbrauchs.

Grundsätzlich sind Kompensationszahlungen, die von historischen Verbräuchen abhängig sind, auch für die Unterstützung von Unternehmen denkbar. Gerade hier sollte jedoch gezielt darauf geachtet werden, dass die Unterstützung nicht nur Härten, u. a.  für Arbeitnehmer, abmildert, sondern auch Anreize zu effizienten Anpassungsreaktionen setzt. Das kann durchaus den (temporären) Verzicht auf Produktion in Europa und/oder den Import von Vorprodukten aus anderen Wirtschaftsräumen bedeuten.

Diese Unterstützung von Energieverbrauchern sowie die Abfederung von negativen konjunkturellen Folgen der Energieknappheit werden in erheblichem Maße staatliche Mittel erfordern, wobei die EU-Mitgliedsstaaten, wie schon während der Corona-Pandemie, die resultierenden Lasten unterschiedlich gut tragen können. Es sollte deshalb erwogen werden, diese Belastungen nicht allein durch die Nationalstaaten tragen zu lassen, sondern – auch im Gegenzug für physische Solidarität bei der Bewältigung von Energieknappheit – eine europäische Lastenteilung zu vereinbaren. Wenn ein solcher finanzieller Solidaritätsmechanismus Mitgliedsstaaten von schädlichen Preisinterventionen abhält, wird er helfen, europaweit die volkswirtschaftlichen Kosten der Energiekrise zu begrenzen.

Gleichzeitig sollten die EU-Staaten klarmachen, dass kurzfristige Notmaßnahmen nicht das mittel- und langfristige Bekenntnis zum Klimaschutz in Frage stellen. Die anstehenden Entscheidungen zum „Fit for 55“-Paket, das die Europäische Kommission im vergangenen Jahr vorgeschlagen hatte, bieten dafür eine gute Gelegenheit. Insbesondere sollten der europäische Emissionshandel ETS z. B. durch einen Mindestpreispfad gestärkt und die Einführung des ETS 2 für Wärme- und Verkehrssektoren beschlossen werden. Gerade der Emissionshandel ermöglicht, temporäre Rückschläge wie in der aktuellen Krise über die Zeit auszugleichen und Klimaziele dennoch zu erreichen. Dabei würde die Glaubwürdigkeit und Effektivität des Emissionshandels stark ansteigen, wenn es den EU-Mitgliedsstaaten gelänge, in der aktuellen Krise eine angemessene Antwort zu finden, die die Anreizwirkung von Preisen erhält und gleichzeitig soziale Härten abmildert.

Dr. Christoph Maurer

 

[1] vgl. Georg Zachmann, Giovanni Sgaravatti, Ben McWilliams, European natural gas imports, https://www.bruegel.org/publications/datasets/european-natural-gas-imports/

[2] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_22_1511

[3] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_22_1936

[4] Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats sind hier abrufbar: https://www.consilium.europa.eu/media/55082/2022-03-2425-euco-conclusions-en.pdf

[5] vgl. SVR Wirtschaft, Auswirkungen eines möglichen Wegfalls russischer Rohstofflieferungen auf Energiesicherheit und Wirtschaftsleistung, Auszug aus der aktualisierten Konjunkturprognose 2022 und 2023, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/Konjunkturprognosen/2022/KJ2022_Kasten3.pdf

[6] Der Autor hat die Effekte dieser Brennstoffpreissubvention im Detail hier diskutiert: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/preiseingriffe-koennten-die-europaeische-energiekrise-verstaerken

[7] vgl. dazu Pototschnig, A. et al.- (2022), Consumer protection mechanisms during the current and future periods of high and volatile energy prices. European University Institute. http://hdl.handle.net/1814/74376