Nachdem Frankreich am 10. April den bestehenden Amtsinhaber Emanuel Macron und seine Kontrahentin Marine Le Pen in die Stichwahlen geschickt hat, steigt die Spannung um das noch ungewisse Fortwirken einer stabilen französischen Beteiligung in der Europäischen Union. Wie zuletzt 2017 soll es bei der Richtungsentscheidung zwischen Macrons liberaler La République en Marche und Le Pens rechtem Rassemblement National am 24. April um alles gehen: „Europa oder Nationalismus?“ heißt die scharfgestellte Schlüsselparole, die man vielerorts in der deutschen Medienlandschaft vernimmt. Dass viele Franzosen, besonders jenseits des Pariser Zentrums, dabei von völlig anderen politischen Fragen und Motiven angetrieben werden, geht in dieser Betrachtung jedoch verloren.

Beim Ringen um politische Grundsatzfragen zeigt sich die französische Gesellschaft gegenwärtig mehr uneins denn je. Besonders, dass im ersten Wahlgang knapp die Hälfte der Franzosen für Optionen jenseits des konventionellen parteipolitischen Tableaus votierten, beunruhigt die Gemüter von Paris, über Brüssel, bis nach Berlin. So konnte neben Le Pen (23,1%) auch der Rechtsaußen Kandidat Éric Zemour (7%) sowie der Hoffnungsträger der politischen Linken, Jean-Luc Mélenchon mit La France insoumise, ganze 22% der Stimmen auf sich versammeln, während die ehemaligen Regierungsparteien Republikaner (4,8%) und PS (1,8%) in der politischen Bedeutungslosigkeit versinken. Die erste Runde dieser französischen Wahlen lässt sich so durchaus auch als weiteres Anzeichen eines tiefgreifenden Strukturwandels auf der Landkarte politischer Optionen begreifen: Aus der historisch dominanten (mitte) Rechts – (mitte) Links Konfrontation wird in Frankreich ein polarisiertes Ringen zwischen zentristischer Mitte (Macron) und radikaler Rechten (Le Pen). Auch zeigen die Wahlergebnisse, dass die dramatischen Veränderungen von 2017 keinesfalls eine singuläre Ausnahme bilden, sondern sich vielmehr als Prolog und Vorbote einer neuen politische Konfliktachse offenbaren. Worauf weisen diese Zusammenhänge aber hin? Handelt es sich beim Wahlgang vom vergangenen Sonntag wirklich um eine schlichte Neuauflage von 2017, die ebenso in der Konfrontation Macron – Le Pen gipfelte und dem aktuellen Amtsinhaber schließlich den Élysée-Palast sicherte? Oder aber sehen wir verschärfte politische Dynamiken am Werk, die eine Botschaft politischen Umbruchs nach Paris und Europa senden sollten?

Rückblick: Macron sicherte seine Erstwahl im Jahr 2017 durch das Schmieden eines fragilen politischen Bündnisses. Nach zähen Verhandlungen konnte er, um die Präsidentschaft der rechten Europaskeptikern Le Pen zu verhindern, in der Stichwahl auf die Unterstützung seiner ehemaligen Mitbewerber vertrauen und anschließend eine erdrückende Mehrheit im Parlament sichern. Von der fieberhaften Aufbruchsstimmung, die Macron nach seiner Wahl 2017 versprühte, ist inzwischen allerdings nichts mehr zu spüren. Dieser Tage gilt er vielen Franzosen als abgehobener Einzelgänger, Wunschkandidat ökonomischer Eliten oder Repräsentant eines reformorientierten neoliberalen Wirtschaftsmodells, der das Renteneintrittsalter anheben möchte und weitreichende Anpassungen im Gesundheitswesen plant.

Auch haben seine skandalträchtigen Äußerungen zu angeblich mangelnder Bereitschaft und Motivation unter Arbeitslosen und einkommensschwachen Franzosen das Bild von einem abgehobenen Vertreter der Oberschicht zementiert, der einen verächtlichen Blick auf die unteren sozialen Klassen wirft. Bereits als Wirtschaftsminister unter François Hollande hatte Macron insbesondere eine Reform der Arbeitslosenversicherung und die weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes vorangetrieben. Neben dem inzwischen längst fleckigen Bild vom ‚progressiven Reformer‘ scheint auch Macrons politische Aussöhnung mit den Gilets jaunes, die wegen steigender Energiepreise, niedriger Löhne und stagnierenden Renten monatelang protestiert hatten, kaum einen nachhaltig politisch inkludierenden Charakter entfaltet zu haben. Auch die von der Regierung seinerzeit initiierte grand débat national, in der Macron durch Bürgerkomitees und Dialoge aktiv auf die Zukunftsängste der Bürger einzugehen versucht, führten zwar zum Ende der Gelbwestenproteste, waren jedoch kaum in der Lage die politische Kultur des Landes nachhaltig zu stabilisieren.

In dieser Phase stagnierender Umfragewerte war es nun vor allem der Krieg in der Ukraine, der Emanuel Macron innenpolitisch alles andere als ungelegen kam: Seit Ausbruch des Konflikts stiegen seine Beliebtheitswerte wieder kontinuierlich. Viele Franzosen stellten sich wieder hinter die Exekutive und begrüßten seine dominante Rolle als Krisenmanager und Vermittler auf internationaler Bühne.

Doch auch wenn situative Manöver wie Dialogveranstaltungen, die Simulation demokratischer Bürgerbeteiligung oder internationale Krisenereignisse zu kurzfristigen Erfolgen auf dem politischen Parkett führen, scheiterte Macron beim Versuch tiefsitzende Brüche in der politischen Kultur Frankreichs zu überwinden. Der Frust vieler Wähler gegenüber den Vertretern und Programmen etablierter Parteien lässt diese Schwächen mehr als nur erahnen. Wenig zielführend und zudem politisch fragwürdig erscheinen in diesem Zusammenhang die unzähligen Beiträge, Analysen und Berichte, welche die Wahlen vom vergangenen Sonntag in einer simplifizierenden Form der Hufeisen Logik zu fassen versuchen: So liest man davon, dass sich rund die Hälfte der Franzosen von Europa oder gar der demokratischen Mitte verabschiedet habe, indem sie populistischen Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums ihre Stimme gegeben hätten.

Dabei geraten doch Ursache und Wirkung schnell aus dem Blick: Lassen sich die Wahlerfolge auf der politischen Linken und Rechten nicht auch zuvorderst als Revolte gegen eine neoliberale Hegemonie verstehen, die von bestehenden politischen Institutionen, Prozessen und Parteien kaum mehr moderiert werden kann? Kandidaten wie Mélenchon oder gar Le Pen haben es vollbracht, den Wählern eine verlockende Alternative zum längst leergelaufenen Reformoptimismus der Macron Administration zu präsentieren, insbesondere indem sie Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik ins Zentrum ihrer Wahlkämpfe rückten.

Spätestens seit den Protesten der Gelbwestenbewegung ist die Soziale Frage wieder zum zentralen Thema der französischen Politik geworden. Die Wahl populistischer Parteien, zumal jener mit einer starken sozialpolitischen Agenda, versteht sich so als politische Reaktion auf Segmentierungsprozesse und die soziale Spaltung innerhalb der französischen Gegenwartsgesellschaft. Wie bereits 2017 trat auch der rechte und zuweilen ebenso arbeitgeberorientierte Rassemblement National wiederholt für höhere Löhne und mit einem dominanten sozialpolitischen Programm auf; für Mélenchon sind eine stärkere Regulierung der Wirtschaft, sowie der Ausbau der Sozialsysteme ohnehin Kernelement der politischen Agenda. Vor diesem Hintergrund wirkten Macrons Pläne zur Anhebung des Renteneintrittsalters, die gegenwärtig hohen Lebenshaltungs- sowie Energiekosten als Katalysatoren einer politischen Dynamik und bildeten die Grundlage für ein starkes Abschneiden von Links und Rechts.

Zudem fallen Faktoren wie die immer mehr auseinanderklaffenden Lebensrealitäten zwischen urbanen Zentren und den teils wirtschaftlich abgehängten ländlichen Peripherien ins Gewicht: Le Pen konnte besonders in den ländlich geprägten Regionen Nordfrankreichs punkten, wo viele Landwirte um ihre Existenz kämpfen, ehemalige Industriestandorte brach liegen und die Gesundheitsversorgung wegbricht, während Mélenchon vor allem in den südlichen Départements gewann. Genau wie in anderen liberalen Demokratien, zeigt sich die zunehmende sozialstrukturelle Dichotomie zwischen Stadt und Land auch in Frankreich als zentrale politisch-kulturelle Konfliktlinie, wie jüngst Lukas Haffert in seiner Studie Stadt, Land, Frust gezeigt hat.

Sicher lässt sich die marktorientierte Politik des Präsidenten nicht als einziger relevanter Faktor in der jüngeren Vergangenheit identifizieren. Insbesondere mit Blick auf den Vorgänger François Hollande und den Niedergang der Sozialisten (PS) stellen sich weitaus strukturellere Fragen: Gewählt wurde die PS stets mit dezidiert linken Versprechen, während sie, kaum an der Macht, eine rechtsliberale Politik verfolgte, die schließlich problemlos von Macron beerbt werden konnte. Weite Teile eines historisch etablierten Wählerklientels wandte sich zunehmend enttäuscht von der PS und einem nur noch scheinbar sozialdemokratischen Kurs ab. Die Verwerfungen weisen dabei bis in die politischen Auseinandersetzungen der 1970er und -80er Jahre zurück, in denen die Sozialisten ihr Kernprogramm von sozialer Absicherung und einer angemessenen Verteilung der gesellschaftlichen Reichtümer gegen ein Modernisierungs- und Liberalisierungsprojekt eintauschten. Darüber hinaus haben inzwischen identitätspolitische Flügelkämpfe innerhalb der Partei und rund um die Spitzenkandidatin Hidalgo, die von vielen Wählern längst als Vertreterin einer abgehobenen Pariser Elite wahrgenommen wird, die PS an den Rand des politischen Ruins geführt.

Rund 50% der französischen Wähler, die weder für Macron, noch Le Pen votiert haben, werden sich am 24. April entscheiden müssen: Entweder politische Stabilität und Kontinuität mit einer hohen Akzeptanz für soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Verwerfungen (Macron), oder aber eine populistische Politik des Nationalstaates, die Immigranten als Bürger zweiter Klasse behandelt und eine obskure Fata Morgana vergangener Tage beschwört (Le Pen). In dieser vor allem für junge Franzosen politisch kaum attraktiven Polarisierung könnte allerdings eine weitere, generationale Bruchlinie zu Tage treten: Vor allem die unter 30-jährigen haben mehrheitlich Links (insbesondere Mélenchon) gewählt und sehen weder in Macron, noch in Le Pen eine politisch tragbare Perspektive: Die politisch entschlossene Nicht-Wahl wird hier zur realistischen dritten Option.

Unabhängig davon, ob man dem Rechts-Links Wettbewerb vergangener Tage nachtrauert, scheint es doch kaum überzeugend, dass die neue französische Regierung nachhaltig in der Lage sein wird, den erforderlichen Konsens in politisch unruhigen Zeiten herzustellen. Dafür wären wohl Anstrengungen jenseits dieser beiden politisch eingeschränkten Parteihorizonte erforderlich.

Julian Nicolai Hofmann