Mit echter Kreislaufwirtschaft echte Rohstoffunabhängigkeit

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Kreislaufwirtschaft ist von zentraler Bedeutung nicht nur für mehr Nachhaltigkeit und den Klimaschutz. Sie ist auch unabdingbar, um Europa und seine Wirtschaft unabhängiger, weniger erpressbar und resilienter zu machen. Michael Wiener, CEO des Grünen Punkts, erläutert seine Vorstellung, wie man speziell die Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe voranbringen könnte.

Die Recyclingquote für Plastikabfälle wird immer wieder mit zwölf bis 14 Prozent angegeben und damit so niedrig wie für kaum einen anderen Werkstoff. Doch für 2020 bilanzierte die Zentrale Stelle Verpackungsregister (ZSVR), das duale System habe gut 60 Prozent der registrierten Kunststoffverpackungen ins Recycling gebracht. Wie passt das mit den angeblich zwölf Prozent Recyclingquote zusammen?

Die zwölf Prozent meinen nicht die Recycling-, sondern die Substitutionsquote: Deutschland „verbraucht“ jährlich etwa 14 Millionen Tonnen Kunststoff. Davon werden nur ca. 1,9 Millionen Tonnen aus Rezyklaten bestritten. Macht 13,5 Prozent – das ist die Zahl, die gern als Recyclingquote kolportiert wird, die aber in Wahrheit nur zeigt, dass wir bislang sehr wenig Recyclingkunststoff einsetzen, um für unseren Plastikbedarf Primärkunststoffe durch Rezyklate zu ersetzen.

Hinter diesen Zahlen steht ein gigantisches Problem: Die Kunststoffproduktion wird weltweit voraussichtlich von ca. 400 Millionen Tonnen heute auf 1,2 Milliarden Tonnen 2050 ansteigen. Produzieren wir diese in Zukunft wie heute, wird der überwiegende Teil davon aus fossilen Rohstoffen hergestellt werden. Wir sprechen heute viel darüber, wie wir unseren Bedarf an fossilen Brennstoffen reduzieren und uns damit von problematischen Importen lösen können. Schon mittelfristig wird unser Hunger nach Plastik einen vergleichbar großen Rohstoffhunger auslösen wie unsere Lust an der Mobilität.

Wir müssen viel mehr Kunststoffabfall recyceln – und das eben nicht nur bei Verpackungen –, aber die hergestellten Rezyklate müssen auch wieder vom Markt angenommen und in der Produktion eingesetzt werden. Gerade bei Verpackungen sind diese Mengen heute gering – also viel Recycling, aber sehr wenig Rezyklateinsatz: Schätzungen sprechen von gerade mal drei Prozent. Wir verwerten also viele gebrauchte Kunststoffverpackungen (in anderen Kunststoffeinsatzbereichen – Elektro, Automotive, Bau – recyceln wir nicht einmal oder nur sehr wenig), setzen die daraus erzeugten Rohstoffe aber nicht wieder für Verpackungen ein, sondern für andere Produkte oder für energetische Zwecke.

Dass Verpackungen für Lebensmittel aufgrund der hohen Hygieneanforderungen eine besondere Herausforderung darstellen, liegt auf der Hand. Heute gibt es keine Möglichkeit, um Rezyklate, die aus gemischten Abfallsammlungen wie der Gelben Tonne stammen, wieder für den Lebensmittelkontakt zuzulassen. Technische Verfahren gibt es. Nach langen Jahren der Untätigkeit liegt nun endlich ein Gesetzentwurf der Europäischen Kommission auf dem Tisch, um diesen Bereich im Sinne der Kreislaufwirtschaft und des Gesundheitsschutzes umfassend zu regeln. Die Zulassungshürden werden sehr hoch sein. Mit Recht: Die Sicherheit des Produkts muss an erster Stelle stehen. Andererseits müssen wir natürlich auch nach Lösungswegen suchen können und dürfen sie nicht von vorneherein vermauern.

Bei anderen Verpackungen wird es längst gemacht: Farbeimer, Flaschen für Wasch-, Putz- und Reinigungsmittel, ja sogar für Duschgel werden aus recyceltem Kunststoff hergestellt, der aus der Gelben Tonne stammt. Die Produkte stehen im Einzelhandel im Regal. Aber sie sind nicht die Regel. Das Rezyklat, das sich für solche Anwendungen eignet, ist teuer. Die Produktionsmengen sind zu niedrig und natürlich verursacht die Herstellung von Rezyklaten mehr Aufwand als die von Primärkunststoffen aus Öl oder Gas. Würden die Absatzmengen im Markt steigen und gäbe es entsprechende langfristige Vereinbarungen mit der Industrie, könnten Recycler in entsprechende großindustrielle Anlagen investieren, dann würde sich der Preis pro Tonne dem von neuem Kunststoff annähern.

Und dadurch würden wir uns in Deutschland und der EU ein Stück unabhängiger von außereuropäischen Rohstoffquellen machen und die Resilienz der Lieferketten fördern. Das hat durch die jüngsten Entwicklungen eine ganz andere Brisanz bekommen – Erdöl und Erdgas sind nicht nur begrenzt verfügbare fossile Rohstoffe, sie werden auch politisch immer problematischer, wenn man abhängig davon ist. Jede Tonne neues Plastik, die wir durch Rezyklat ersetzen können, hilft! Deshalb müssen wir diesen gordischen Knoten jetzt endlich zerschlagen.

Woran hakt es? Es ist ein klassisches Henne-Ei-Problem: Ist das Produkt zu teuer, kauft es der Kunde nicht. Kauft der Kunde das Produkt nicht, kann der Hersteller nicht investieren und damit keine Vorteile durch die Skalierung der Produktion erzeugen. Einschlägige Hersteller, gefragt, warum sie den Recyclingkunststoff nicht einsetzen, berufen sich auf mangelnde Liefersicherheit. Es gebe zu wenig Kapazitäten und zu wenige Anbieter. Dass sie selbst nicht helfen, diese Situation zu ändern, erwähnen sie natürlich nicht.

Erweiterte Produzentenverantwortung heißt für mich nicht nur, die Verpackungen beim dualen System anzumelden – es heißt auch, sich für den gesamten Kreislauf zu interessieren und die eigene Lieferkette nachhaltig zu gestalten. Das bedeutet, entsprechende Partnerschaften und Kooperationen mit langfristigen Liefer- wie Abnahmegarantien einzugehen, die erst Investitionen und damit den Aufbau der erforderlichen Infrastruktur in diesem Bereich ermöglichen. Der Abnehmer bekommt Liefersicherheit – er kann sich darauf verlassen, mit genau den Rezyklaten beliefert zu werden, die er braucht –, der Lieferant Absatzsicherheit. So entsteht für beide eine über mehrere Jahre planbare Zusammenarbeit, in der sich Qualität und Quantität einerseits und Investitionssicherheit andererseits für beide letztlich auszahlen. Nur so können die entsprechenden Kapazitäten geschaffen werden, solange es keine Verpflichtung gibt, Rezyklate einzusetzen.

Wie die Entwicklung politisch durch Rechtssetzung erfolgreich flankiert werden kann/muss, zeigt uns die Europäische Union. Mit der sog. Einwegplastikrichtlinie hat sie eine Rezyklateinsatzquote für Getränkeflaschen aus PET eingeführt: 2025 müssen PET-Getränkeflaschen zu mindestens 25 Prozent aus Rezyklat bestehen, und zwar aus Post-Consumer-Rezyklat, sprich aus Getränkeflaschen, die schon einmal gebraucht und zu Abfall geworden sind. Bis 2030 steigt diese Quote auf dann 30 Prozent. Ambitioniert klingt das nicht, schließlich nutzen schon heute viele Hersteller Rezyklate für ihre Getränkeflaschen. Und trotzdem sorgt die Quote dafür, dass Nachfrage und Preise für entsprechende Rezyklate steigen und Recycler in die nötige Technik investieren.

Genau das brauchen wir auch für andere Verpackungssegmente und andere Kunststoffpolymere! Es gibt heute keinen vernünftigen Grund mehr, warum man eine Reinigungsmittelflasche oder einen Farbeimer zu 100 Prozent aus neuem Kunststoff machen sollte. Die EU wird auch hier aktiv werden und sogenannte produktspezifische Rezyklateinsatzquoten einführen. Die Vorbereitungen für entsprechende Gesetze im EU-Binnenmarkt sind in vollem Gange. Für den Anfang sind Rezyklateinsatzziele von 20 oder 30 Prozent denkbar – mit einer gewissen Anlauffrist, um (endlich) in die entsprechende Technik investieren zu können. Bei Lebensmittelverpackungen wird diese Quote anfänglich sehr niedrig sein, die Fristen deutlich länger. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten, die bisher noch viel zu wenig genutzt werden. Wir können Kunststoffverpackungen aus Recyclingkunststoff mit einer funktionellen Barriere versehen, sodass das Lebensmittel nicht mit ihm in Berührung kommt. Auch das ist (noch) teuer und es gibt kein Zulassungsverfahren. Beides ließe sich ändern, wenn der politische Wille da wäre.

Und natürlich wird auch das chemische Recycling hier seine Rolle bekommen. Aktuell gibt es noch keine Anwendung in großtechnischem Maßstab, die Verfahren sind sehr teuer und werden noch nicht wirklich beherrscht. Große Mengen an erneuerbarer Energie werden dafür benötigt werden, die noch nicht zur Verfügung stehen.

Wir brauchen noch viel mehr Forschung, damit wir bei diesem komplexen Thema zum Ziel kommen. Die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission, das Joint Research Centre (JRC), führt daher aktuell in Zusammenarbeit mit der Generaldirektion Umwelt (DG ENV) eine Studie zur „Bewertung der Definition von Recycling“ im Rahmen des europäischen Green Deal und des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft 2.0 durch. Sie bildet die Basis für die Überarbeitung der Abfallrahmenrichtlinie (Waste Framework Directive, in Deutschland das Kreislaufwirtschaftsgesetz), die im Jahr 2023 ansteht.

Die Studie zielt darauf ab, die Recyclingdefinition für alle Materialien und Technologien (einschließlich des hochwertigen Recyclings) sowie die anzuwendende Recyclingberechnungsrate zu bestimmen. Politisches Ziel ist es, eine „EG-Leitlinie“ oder einen „EG-Durchführungsbeschluss“ festzulegen, mit dem spezifische Regeln und Verfahren zur Berechnung des Recyclinganteils in die Gesetzgebung integriert und dann für alle Technologien angewendet werden.

Es muss klar sein, dass wir in diesem komplexen Thema nur zum Ziel kommen, wenn wir nicht alles auf eine Karte setzen. Nicht nur das chemische Recycling, auch das mechanische Recycling braucht daher heute schnelle und substantielle Unterstützung – gerade weil es technisch schon viel weiter ist als die Chemie. Nur durch die Schaffung eines level-playing-fields für die chemischen und mechanischen Verfahren kann es den so dringend benötigten Durchbruch bei der Kreislaufwirtschaft für Kunststoff geben.

Die Europäische Kommission wird voraussichtlich im Sommer einen ersten Entwurf für eine neue Europäische Verpackungsrichtlinie vorlegen und diese wird aller Wahrscheinlichkeit auch die Vorschriften für die bereits genannten Rezyklateinsatzquoten enthalten. Wieder einmal treibt Europa die Entwicklung voran. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die daraus folgenden Konsequenzen führen uns vor Augen, wie abhängig wir derzeit von Rohstoffimporten sind. In diesem Fall aus Russland. Die Kreislaufwirtschaft ist für das Erreichen der Klimaziele unerlässlich und einer der wichtigsten strategischen Hebel, uns unabhängiger zu machen. Und Rezyklateinsatzquoten können der Kreislaufwirtschaft einen wichtigen Schub verleihen.

 

Autor: Michael Wiener ist CEO der Unternehmensgruppe Der Grüne Punkt und Mitglied des Geschäftsführenden Präsidiums des Wirtschaftsforums der SPD