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Der internationale Warenaustausch vernetzt die Welt. Er fördert die weltweite Zusammenarbeit, erschließt neue Märkte, ermöglicht wirtschaftliches Wachstum. Deutschland ist ein Nutznießer der Globalisierung. Als Exporteur komplexer technischer Produkte profitiert das Land von dieser Entwicklung im besonderen Maß. Die internationale Arbeitsteilung hat im Lauf der vergangenen Jahrzehnte einen immer höheren Differenzierungsgrad erreicht. Doch mit der Differenzierung steigt die Sensibilität: Das System zeigt sich anfälliger für Störungen.

Diese Anfälligkeit haben wir während des Kriegs in der Ukraine besonders zu spüren bekommen. Doch die Symptome sind nicht neu. Die Störungen des Systems globaler Arbeitsteilung haben sich in den vergangenen Monaten gehäuft. Die Corona-Pandemie und die zeitweilige Blockierung von Transportwegen haben uns die Abhängigkeiten vor Augen geführt. Lieferketten wurden unterbrochen, Rohstoffe und Vorprodukte waren nicht verfügbar. Das brachte bei uns die Produktion ins Stottern und zum Teil sogar zum Erliegen.

Neben Rohstoffen waren auch Zwischenprodukte betroffen, deren Fertigung wir an Betriebsstätten in fernen Regionen der Welt ausgelagert haben. Scheinbar marginale Komponenten komplexer Industrieprodukte, die erheblich zur deutschen Wirtschaftsleistung beitragen, haben die Macht, Produktionslinien stillzulegen und Menschen in die Kurzarbeit zu führen, trotz hoher Nachfrage und guter Absatzmöglichkeiten.

Jede der aufgetretenen Störungen lässt sich als Ausnahmesituation deuten, die das System insgesamt nicht infrage stellt. In der Tat: Eine weltweite Pandemie ist ein folgenschweres Ereignis, mit dem wirtschaftliche Strukturen und Märkte umgehen müssen, dem man aber nicht jede Ordnung unterordnen sollte. Und ein blockierter Transportweg ist kein hinreichender Grund, übergreifende Systeme infrage zu stellen. Bislang haben wir uns deshalb darauf verlegt, die schadhaften Stellen zu reparieren.

Über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet nicht nur der Preis

Ein Instandhaltungsprogramm greift jedoch zu kurz. Die derzeitigen, von der Politik gestützten und geförderten Maßnahmen zur Sicherung von Infrastruktur, Wirtschaftsleistung und Versorgungsstandards sollten wir nicht allein als „Notstromaggregate“ für den Ausnahmefall betrachten, sondern als Chance für die Stärkung des Industriestandorts. Dabei geht es mir weniger um die Maßnahmen selbst als vielmehr um die Prinzipien und Handlungsleitlinien, die derzeit konsensfähig sind.

Die Industrie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Volkswirtschaft. Deutschland hat eine höhere Industriequote als andere Länder in Europa. Über die Erhaltung der Industrie besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der wohlbegründet ist. Die Wirtschaftskrisen und Konjunkturdellen der vergangenen Jahrzehnte hat Deutschland vergleichsweise glimpflich überstanden. Das gilt insbesondere für die Finanzmarktkrise der Jahre 2008 und 2009. Hinzu kommt: Industriearbeitsplätze bieten Entwicklungs- und Aufstiegschancen für breite Bevölkerungsgruppen. Sie sichern die materielle Existenz und schaffen Wohlstand, sie ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe und tragen zum sozialen Frieden bei.

Es ist an der Zeit, uns auf die Leistungsfähigkeit unserer industriellen Wertschöpfungsketten zu besinnen. Bislang wies die Entwicklung nur in eine Richtung: Welche Leistung, welche Fertigungsstufe können wir auslagern? Was können wir durch Nutzung globaler Ressourcen effizienter machen? Es lohnt sich, dieses Prinzip genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit seiner Rationalität ist es nämlich nicht weit her.

Als Messlatte für Standortentscheidungen, das heißt für die Delegation von Arbeit und Leistungen, gilt die Wettbewerbsfähigkeit. Und über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet nahezu ausschließlich der Preis. Doch der Preis ist längst nicht mehr das einzige Kriterium. Es geht ebenso um Qualität, um Verfügbarkeit, um sichere Versorgung, um die Integration in eine Wiederverwertungskette. Heute entscheiden die ökologischen Eigenschaften eines Produkts und seine Sozialverträglichkeit ebenso über seine Marktfähigkeit. Selbst für die Kapitalmärkte sind die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit entscheidende Investitionskriterien. Wer allein auf Kostenoptimierung setzt, hat es immer schwerer, Zugang zu Kapital zu bekommen, ja er riskiert womöglich seine Kreditwürdigkeit.

Nichts spricht dagegen, heimische Produkte zum Zug kommen zu lassen

Im März 2022 hat die Bundesregierung angekündigt, erhebliche Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken. Beauftragt werden sollen möglichst deutsche beziehungsweise europäische Rüstungsunternehmen. Der Ordnungsrahmen für Entscheidungen zugunsten des Wirtschaftsstandorts erweist sich hier als äußerst geschmeidig. Warum sollen derartige Konditionen eigentlich auf diesen Fall beschränkt sein? Wir sollten vielmehr generell auf Flexibilität setzen.

Nichts spricht dagegen, heimische Produkte zum Zug kommen zu lassen – vorausgesetzt, dass wir den internationalen Handel und Warenaustausch nicht durch protektionistische Maßnahmen einschränken. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Güter an diesem Standort wettbewerbsfähig produziert werden können. Das dichte Netz industrieller Produktion in verschiedenen Fertigungsstufen bildet eine starke Infrastruktur und stellt wertvolles Wissen bereit, das einen Ausbau von Industrie begünstigt, ja geradezu fordert. Die Wettbewerbsfähigkeit ist gegeben, wenn man alle Faktoren berücksichtigt, die dafür maßgeblich sind.

Dass Deutschland einen Zuwachs an industrieller Produktion verträgt, zeigen aktuelle Beispiele. Im vermeintlich gesättigten Autoland Deutschland nimmt ein neues Automobilwerk seinen Betrieb auf und plant eine Fabrik zur Batteriefertigung. Bislang nur in Übersee verfügbare Mikrochips sollen bald auch in zwei Fertigungsanlagen in Deutschland produziert werden.

Die grüne Transformation sollte alle heimischen Ressourcen nutzen

Bedarf besteht auch an anderer Stelle. Deutschland baut seine Energieversorgung radikal um. Wir verzichten auf fossile Energieträger sowie auf Kernkraft und setzen vollständig auf regenerative Energien. Gleichzeitig planen wir die Dekarbonisierung der Industrieproduktion. Der Umbau unserer Industrienation wird erst dann einen spürbaren Beitrag zum Erreichen der globalen Klimaziele leisten, wenn unser Modell funktioniert und zum Vorbild wird, also exportfähig ist.

Der Umbau gelingt nur mit der Bereitstellung von industriellen Produkten. Allein der Ausbau von Wind- und Sonnenkraftanlagen erfordert immense Mengen an Zement, Stahl, Aluminium, Glas und anderen Grundstoffen sowie technischen Komponenten. Vieles davon lässt sich vor Ort produzieren. Bei der grünen Transformation – und nicht nur dort – sollten wir alle heimischen Ressourcen nutzen und außerdem auf kreislauffähige Produkte setzen.

Jahrzehntelang galt der Grundsatz, dass das Wachstum und die Entwicklung unserer Volkswirtschaft mit der Auslagerung von Grundstoffindustrien und anderen Produktionsstufen einhergehen: Ein Hightech-Standort lebt vom letzten Glied in der industriellen Wertschöpfungskette. Das mochte stimmen, solange der Preis das alleinige Kriterium für die Wettbewerbsfähigkeit war. Das ist vorbei. Deshalb sollten wir uns auf unsere Stärken und das vorhandene Potenzial besinnen.

Dazu muss auch die Politik Signale senden, die die notwendigen Entscheidungen der Wirtschaft anregen und begünstigen. Wir müssen industrielle Fertigung als eine strategische Entscheidung begreifen, die dem Prinzip einer ganzheitlich verstandenen Nachhaltigkeit folgt. Diesem Prinzip hat sich unsere Gesellschaft verpflichtet. Es setzt hohe Standards. Ob sie erfüllt werden, hängt maßgeblich von der Herkunft der produzierten Güter ab. Die heimische Industrieproduktion ist dafür der richtige Ort.

Philipp Schlüter