Der 24. Februar 2022 hat vieles verändert. Nach diesem Tag ist in Europa nichts mehr so wie es vorher war. An diesem Tag hat Russland die Ukraine überfallen und einen brutalen Krieg begonnen, der Europa bis ins Mark erschüttert hat. Es ist ein Krieg, wie wir ihn mitten in Europa nicht mehr für möglich gehalten haben. Mit vielen Millionen Menschen auf der Flucht, mit erheblichen Angriffen auf Zivilisten und zivile Einrichtungen, in einem Ausmaß, das wir in seiner Vollständigkeit heute noch gar nicht erfassen können.
Auf diesen völkerrechtswidrigen Akt hat die Europäische Union schnell und richtig reagiert. Gemeinsam mit ihren internationalen Partnern hat sie rasch Sanktionen auf den Weg gebracht, die die russische Wirtschaft empfindlich treffen werden.
Auch die deutsche Automobilindustrie befürwortet diese entschlossene Reaktion. Wir verurteilen diesen Krieg aufs Schärfste. Hersteller und Zulieferer zogen umgehend Konsequenzen und stellten die Geschäfte in und mit Russland ein. Wir als Branche haben uns klar positioniert und die von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland geschlossen unterstützt.
Gleichzeitig sehen wir uns aber etlichen neuen, zum Teil aber auch grundsätzlichen Herausforderungen durch den Krieg gegenüber. Dazu gehören vor allem die Auswirkungen auf die Lieferketten sowie auf die Verfügbarkeit von Teilen und von Rohstoffen. So sind die Wege nach und von Asien nur eingeschränkt nutzbar. Es fehlt zudem beispielsweise an Komponenten wie Kabelbäumen sowie an Aluminium, Stahl und Legierungsstoffen. Zudem sind sowohl die Beschaffung von Energie als auch die Energiepreissteigerung Themen, die erhebliche Belastung mit sich bringen. All das macht den Unternehmen der deutschen und europäischen Wirtschaft, insbesondere auch in der Automobilindustrie, zu schaffen.
Während bereits die Corona-Pandemie automobile Lieferketten einem anhaltenden Stresstest aussetzt, werden sie nun darüber hinaus auch durch den Krieg und die damit verbundenen geopolitischen Verschiebungen stark belastet. Die Auswirkungen auf unsere Industrie und ihre internationale Verflechtung werden wir noch lange spüren.
Es sind Veränderungen, die den Transformationsprozess der Branche zu einer noch größeren Herausforderung werden lassen. Beide Entwicklungen sorgen dafür, dass sich die Unternehmen unserer Industrie neue Partner suchen und Lieferketten insgesamt resilienter werden müssen.
Schnell die richtigen Weichen stellen
Wichtig ist vor diesem Hintergrund die Wirtschaft schnell und zielgenau zu entlasten. Der Transformationsmotor für mehr Klimaschutz darf trotz der herausfordernden Zeiten nicht ins Stottern geraten. Die dafür notwendige Kraftanstrengung war schon vor dem Krieg immens. Wir müssen die Weichen dafür stellen, dass die Transformation zu einem Erfolg für Deutschland und Europa wird.
Auch angesichts der aktuellen Aufgaben stehen die Hersteller und Zulieferer der Automobilindustrie dazu, ihren Beitrag zur Klimaneutralität und damit zur klimaneutralen Mobilität bis spätestens 2050 zu leisten. Die Unternehmen gestalten sie mit Nachdruck. Gemeinsam sind wir als Industrie überzeugt, dass die Transformation der richtige Weg ist. Dafür bauen die Unternehmen Werke um und investieren bis 2026 rund 220 Milliarden Euro nur in Forschung und Entwicklung. Diese Transformation ist gleichwohl eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der alle mitwirken müssen.
Dafür brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen. Wir müssen aus den Krisen lernen. Wir müssen mutig sein – und das nicht erst dann, wenn es eigentlich schon zu spät ist. In den letzten zwei Jahren wurden die Schwachstellen in unserem Land besonders deutlich. Deutschland hat großen Rückstand bei der Digitalisierung. Verfahren und Prozesse dauern zu lange und werden durch veraltete Verwaltungsstrukturen und ein Übermaß an Bürokratie ausgebremst. Unser Steuern- und Abgabensystem verliert seine Wettbewerbsfähigkeit und auch bei der Infrastruktur ist in den vergangenen Jahren viel zu wenig passiert. Hier und da wurden Verbesserungen vorgenommen. Aber das reicht bei weitem nicht, um dauerhaft Wachstum, Wohlstand und damit auch Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Dafür müssen die Probleme in unserem Land wesentlich schneller und vor allem grundsätzlicher angegangen werden.
Die geopolitischen Entwicklungen verdeutlichen noch einmal, wie notwendig die Reformen sind. Denn in Europa sind wir den Auswirkungen der Verschiebungen deutlich unmittelbarer ausgesetzt als z. B. die USA oder die Länder des asiatisch-pazifischen Raumes. Durch den Dreiklang aus einer steigenden Inflation, der Herausforderung auf wichtigen Beschaffungsmärkten und Restriktionen auf Exportmärkten sind wir jetzt in einer Situation, in der Europa, aber vor allem Deutschland massiv an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren droht. Handeln wir nicht schnell, wird dies schwerwiegende und langfristige Folgen auf die Investitionsbereitschaft in den Innovations- und Wirtschaftsstandort Deutschland haben.
Wir brauchen ein Ende theoretischer Debatten, es muss gehandelt werden
Wir müssen aus den Krisen zügig Konsequenzen ziehen. Und wir brauchen ein Ende theoretischer Debatten, z. B. um immer neue Zielvorgaben. Vor allem müssen wir zügig in die Umsetzung kommen. Dabei muss zwingend der Fokus auf der Infrastruktur und den Rahmenbedingungen liegen. Für die Transformation brauchen wir ein tragfähiges Gerüst, sonst ist diese Jahrhundertaufgabe zum Scheitern verurteilt. Aber dies ist keine Option.
Die Unternehmen treiben die Transformation mit Engagement, Kreativität und hohen Investitionen jeden Tag voran. Dafür brauchen sie nun aber u. a. spürbare Planungsbeschleunigungen in allen Sektoren, eine realistische Bestandsaufnahme aktueller Entwicklungen im Bereich des Auf- und Ausbaus der Erneuerbaren Energien, der digitalen Infrastruktur und international wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen bei Steuern, Abgaben und Umlagen sowie international vergleichbare Energiekosten. Hier sind mehr Fortschritt, mehr Geschwindigkeit, mehr Investitionen erforderlich, um die ambitionierten Ziele tatsächlich und planmäßig zu realisieren. Und all das ist erforderlich, um gleichzeitig die geostrategische Unabhängigkeit von anderen Staaten, z. B. bei Energieimporten, auszubauen. Nur so erreichen wir die notwendige Effizienz und Resilienz, um unseren Wohlstand zu sichern.
Andere Länder Europas und Regionen der Welt sind auch wegen unterschiedlicher Voraussetzungen unabhängiger aufgestellt. Und mit diesen Ländern befinden uns im Wettbewerb. Aufgrund der bestehenden hohen Abhängigkeit von Ressourcenimporten aus diesen Ländern und Weltregionen ist es daher umso wichtiger, die politischen Weichenstellungen technologieoffen zu setzen.
Gleichwohl dürfen wir diese Länder nicht nur als Wettbewerber betrachten, wir müssen sie auch als wichtige Partner wahrnehmen. Energiepartnerschaften, Rohstoff-Außenpolitik – das sind zwei wichtige Säulen auf dem Fundament der internationalen Rahmenbedingungen. Dieses Fundament muss von Deutschland und Europa viel aktiver und entschlossener erneuert werden. Konkret: Internationale Kooperation, die Stärkung der WTO und der Abschluss von Handels- und Investitionsabkommen sind wichtige Rahmenbedingungen, damit auch eine Diversifizierung der Lieferketten gelingen kann.
Hier ist die Politik gefordert: Handelspolitik muss wieder eine zentralere Rolle einnehmen. TTIP, CETA oder auch das Abkommen mit dem Mercosur und das Investitionsabkommen mit China sind nur wenige Beispiele für unvollendete Verhandlungen. Dies sind Vorgänge, die wir uns auch als Antwort auf den Krieg mitten in Europa strategisch nicht mehr leisten können. Handels- und Investitionsabkommen tragen nicht nur zu Wachstum und Wohlstand bei, sondern unterstützen auch weiterhin – und das trotz des russischen Angriffskrieges – gemeinsame Bemühungen für Frieden, Freiheit, Klimaschutz, soziale Standards und Menschenrechte.
Die internationale Arbeitsteilung und Kooperation ist ein Erfolgsmodell, das Deutschland, Europa und auch international Wohlstand gebracht hat. Dieses Modell ist nicht gescheitert. Vielmehr muss uns Russlands Bruch des Völkerrechtes ermutigen, andere Länder für den friedlichen Austausch zu gewinnen. Die Industrie wird aus der aktuellen Situation lernen und ihre Lieferketten weiter diversifizieren, Risiken überprüfen und Strategien überarbeiten müssen. Nun ist die Zeit, in der alle Akteure – Unternehmen, Politik, Sozialpartner, Zivilgesellschaft, Wissenschaft – ihren Beitrag leisten und die Weichen für eine Zukunft nach der „Zeitenwende“ stellen müssen.
Hildegard Müller