Wie viele Brüche verträgt die Transformation?

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Reflektion der Zeitenwende und Schlussfolgerungen für politische Agenda und notwendige Weichenstellungen

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine Zeitenwende in der geopolitischen Ausrichtung Deutschlands eingeläutet. Zugleich stehen wir erst am Anfang eines Jahrzehnts der Umbrüche für die Politik aber auch für die deutsche Wirtschaft. Es ist grundsätzlich richtig, die russische Führung jetzt mit harten Sanktionen zu treffen. Wir dürfen jedoch nicht unterschätzen, wie wichtig die russischen Gasimporte für die deutsche Industrie sind. Gerade kurzfristig können wir nicht auf sie verzichten, wenn wir unsere volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen. Eine sofortige Diversifizierung und Substitution vom russischen Gas wird mangels Alternativen nicht nur mit deutlich höheren Einkaufspreisen erkauft, sondern absehbar auch mit einer geringeren industriellen Leistungsfähigkeit und Beschäftigung. Dadurch wäre niemanden geholfen, zumal nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland nach dem Krieg auch seinen Beitrag beim Wiederaufbau der Ukraine leisten kann.

Unbestreitbar wurde uns durch die russische Aggression drastisch vor Augen geführt, wie abhängig unsere Wirtschaft vom Import fossiler Energieträger, besonders von russischem Erdgas, tatsächlich ist. Im Zeichen der Zeitenwende werden wir langfristig eine weitgehende Neustrukturierung der weltweiten Handelsströme erfahren. Auf lange Sicht wird die Neuordnung der Lieferbeziehungen folgenschwere, unumkehrbare Auswirkungen unmittelbar auf den Industriestandort Deutschland haben. Es ist unsere Aufgabe, die Härten abzufedern und einen schonenden Übergang zu sichern. Aus einem industriepolitischen Blickwinkel heißt das, die Energiequellen müssen diversifiziert und die Erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Die Diversifizierung weg von russischem Erdgas wird jedoch in den kommenden Jahren zu knappem Angebot führen und die Gaspreise in die Höhe treiben. Dies wird sich stark auf die verschiedenen Branchen der IGBCE auswirken, die nahezu alle eine hohe Gasintensität ausweisen. Alle von ihnen würde ein Embargo empfindlich schädigen. Der Ernst der Lage lässt sich an drei Organisationsbereichen der IGBCE verdeutlichen.

Die Chemieindustrie

Die Chemie setzt rund 73 Prozent des Erdgases für die Erzeugung von Dampf und Strom ein. Das sind über 99 Terawattstunden im Jahr und macht Erdgas mit Abstand zum wichtigsten Energieträger in der chemischen Industrie. Zudem werden rund 2,8 Millionen Tonnen Erdgas, also 27 Prozent des Gesamtverbrauchs, als Rohstoff zur Herstellung von Basischemikalien benötigt. Aus Ammoniak werden beispielsweise Düngemittel, Lösemittel und medizinische Produkte hergestellt. Acetyle sind vielseitige chemische Bausteine unter anderem für Kunststoffe, Arzneimittel oder hochelastische Textilfasern. Die gesamte Verwendung von Gütern des Wirtschaftszweigs Chemische Industrie lag im Jahr 2019 bei 258.758 Millionen Euro. Davon entfielen 41,7 Prozent auf Vorleistungen für andere Wirtschaftsbereiche. Die chemische Industrie stellt die Grundstoffe für viele Produktionszweige her und Erdgas ist ihr Treibstoff.

Unsicherheit und Knappheit haben somit direkte, schwerwiegende Folgen für die chemische Produktion. Ein Erliegen der Produktion kann Kaskadeneffekte in der industriellen Wertschöpfungskette auslösen, die die gesamte Wirtschaft bedrohen. Bundesweit sind in der Chemieindustrie 466 000 Menschen in guten, tarifgebunden Arbeitsplätzen beschäftigt. Diese stünden im Falle eines Runterfahrens der Produktion auf dem Spiel. Hinzu kommt, dass es erhebliche Unterschiede bei der regionalen Betroffenheit gibt. Da Gasnetze nicht so dicht verbunden und verzweigt sind wie Stromnetze wäre ein Wechsel auf andere Lieferanten an den meisten Stellen nicht möglich. Der Schaden wäre im Süden und Osten Deutschlands erheblich größer – und das kurz nachdem gerade den östlichen Bundesländern ein Neu-Industrialisierungsprozess versprochen wurde, als soziale und wirtschaftliche Kompensation für den schnelleren Kohleausstieg.

Die Papierindustrie

Deutschland ist die Papierfabrik Europas. In der Papierindustrie werden Papiererzeugnisse unter Einsatz von Kraftwärmekopplungsanlagen getrocknet, die größtenteils mit Erdgas betrieben werden. Schon in den letzten Jahren wurde die Industrie von Preissteigerungen auf dem Rohstoffmarkt, beispielsweise für Zellstoffe, belastet. Druckereien berichten von Knappheit vor allem von grafischen Papieren. Steigende Energiepreise setzen die Industrie zusätzlich unter Druck. Für die Papierindustrie hieße die Verknappung von Gas, dass die Produktion drastisch reduziert werden müsste, weil Gas für die Industrie zumindest kurzfristig kaum zu substituieren ist.

Der BDEW geht davon aus, dass gerademal 2,6 Prozent des Erdgases kurzfristig durch andere Energieträger substituierbar sind.[i] Das Runterfahren der Papierproduktion würden private wie gewerbliche Verbraucher*innen beispielsweise durch die drastische Verteuerung von Hygienepapieren und Verpackungen schnell spüren. Knappheiten und Rationierung beim Toilettenpapier, wie wir sie im Corona-Lockdown erlebt haben, wären nicht ausgeschlossen. Und was nicht verpackt werden kann, wird auch nicht verschickt. Bundesweit sind in der Papierindustrie rund 120 000 Beschäftigte in tarifgebundenen, guten Arbeitsplätzen beschäftigt. Ein Importstopp für russisches Erdgas könnte für sie Kurzarbeit und sogar Jobverluste bedeuten.

Die Glasindustrie

Die Glasindustrie braucht für ihre Produktion Temperaturen von 1500 bis 1600 Grad Celsius, die zum größten Teil durch das Anheizen mit Gas erreicht werden. Jeder Cent, den Gas teurer wird, schlägt sich auf die Wirtschaftlichkeit der Produktion nieder. Schon jetzt schreiben viele Hersteller aufgrund der Energiepreise rote Zahlen. Zugleich drohen aufgrund erhöhter Angebotspreise im Winter 2022/23 bereits lieferantenseitige Kündigungen von langfristigen Gas-Lieferverträgen mit Berufung auf Force Majeure-Klauseln, denn die steigenden Bezugspreise bei einem anhaltenden Gasmangel wirken sich neben der Glasindustrie selbst auch für viele Lieferanten existenzbedrohend aus.

Das Schreckensszenario im Falle von Gasmangel oder extrem ansteigenden Preisen ist das Erstarren der Schmelzwannen. Hier könnten in Einzelfällen Schäden in Höhe von bis zu 50 Millionen Euro entstehen. Sind die Glasschmelzwannen einmal zu schnell erkaltet, lassen sie sich nicht per Schalter einfach wieder anknipsen. Die Wannen müssten kontrolliert abgelassen und wieder neu mit speziellen Materialien ausgekleidet werden. Eine Wiederinbetriebnahme könnte mehrere Jahre dauern. Wirtschaftlich wäre das für die Betriebe ein Totalschaden und hätte Rückwirkungen auf systemrelevante Wertschöpfungsketten in Deutschland und den EU-Nachbarstaaten zur Folge. Ein Großteil der 54 000 Beschäftigten müsste in der Folge in Kurzarbeit gehen oder würde seinen Job verlieren – mit dramatischen, auch regionalen Folgen für beispielsweise Thüringen und Nordbayern, wo sehr viele Glas produzierende Betriebe angesiedelt sind.

Diese drei Beispiele machen deutlich, wie sehr Deutschlands energieintensiven Industriezweige noch immer von den russischen Gasimporten abhängt. Sie zeigen aber auch, wie überfällig die sozialökologische Transformation ist – und das nicht nur im Hinblick auf den Klimawandel, sondern auch auf die politische und wirtschaftliche Resilienz unseres Landes.

Die Herausforderung, die sich uns nun industriepolitisch stellt, ist es, marktfähige Produktionsstrukturen zu stützen, ohne die Transformation aufzuhalten. Hunderttausende von gut bezahlten Industriearbeitsplätzen hängen daran, dass wir diese Branchen und Unternehmen nicht auf dem Weg zur Dekarbonisierung kaputt machen, sondern durch die schwierigen Zeiten unterstützen. Dies kann indes nur gelingen, wenn wir einen langen Atem haben und die richtigen strategischen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen. Der Fokus der Politik muss deshalb in den nächsten Monaten und Jahren auf drei Schlüsselprojekten liegen:

Erstens: Ausbau der Erzeugung und Transport-Infrastruktur für Erneuerbare Energien in Deutschland und Europa. Die Gaskrise hat den Fokus auf die Rolle von Gas für die gesamte industrielle Wertschöpfungskette gelenkt und dabei die Achillesferse der deutschen Industrie offengelegt. Jede Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied. Wenn die Rohstoffe am Anfang der Kette ausbleiben, steht die gesamte industrielle Wertschöpfung auf dem Spiel. Ein zentraler Bestandteil für industrielle Wertschöpfung bildet die Energie. Die Erneuerbaren müssen die fossilen Energieträger, die wir größtenteils importieren müssen, ablösen. Aber das ist ein schrittweiser Prozess, die Jahre dauern wird.

Zweitens: Der Wasserstoffmarkthochlauf muss forciert werden. Es braucht dringend eine deutsche Wasserstoff-Offensive. Wir müssen die Voraussetzungen für die Herstellung und den Einsatz von H2 entlang der gesamten Wertschöpfungsketten schaffen. Zentral werden dabei in Zukunft auch Diversifizierung und Nachhaltigkeit der Handelsbeziehungen werden. Wenn wir Flüssiggas aus anderen Staaten importieren, müssen wir sicherstellen, dass die Lieferketten mittelfristig auch auf Wasserstoffderivate umgestellt werden können – jede zukunftsfähige Handelsbeziehung muss auch H2-Ready sein. Zugleich müssen wir stärker als bislang die regionalen Potenziale und Synergien für die Wasserstofferzeugung nutzen auch mit Blick auf die Versorgungssicherheit.

Drittens: Technische Innovationen und Investitionen in der Industrie müssen stärker finanziell und regulatorisch unterstützt werden. Wir brauchen daher die richtigen finanziellen Förderinstrumente, unter anderen Differenzkontrakte und öffentlich-private Partnerschaften. Eine Auslagerung weiterer Teile der Wertschöpfungskette und Verlust an Fertigungstiefe muss unbedingt verhindert werden. Wenn wir die Verlagerung in andere Länder zulassen, verlieren wir den Einfluss auf die Produktionsbedingungen, den wir dringend benötigen, um unsere hohen sozialen und ökologischen Standards umzusetzen. Zusätzlich werden wir dadurch noch abhängiger von Importen aus anderen Ländern. Wo diese Abhängigkeit hinführt, hat die russische Invasion gezeigt.

Es ist uns allen klar, dass jede industriepolitische Strategie in dieser schwierigen Zeit einerseits die Resilienz unserer Lieferketten und andererseits die sozialökologische Transformation fest im Blick haben muss.

Um jedoch Brüche in der Transformation vorzubeugen, muss die Politik jetzt verantwortlich handeln und auch vor ungemütlichen Entscheidungen nicht zurückschrecken. Schaffen wir es aber jetzt die Transformation zu beschleunigen, haben wir die Chance, robuster und unabhängiger aus dieser Krise heraus zu kommen.

Michael Vassiliadis

 

[i] BDEW (2022): Kurzfristige Substitutions- und Einsparpotenziale Erdgas. Berlin: https://www.bdew.de/media/documents/Kuzfristige_Gassubstitution_Deutschland__final_17.03.2022_korr1.pdf