Lange Zeit haben sich Deutschland und Europa an vermeintlichen Gewissheiten festgehalten. Dazu zählt das Vertrauen, dass sich die Dinge schon irgendwie zum Besseren wenden; dass unser Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand zwar herausgefordert, aber nicht grundsätzlich gefährdet ist. Doch dieses Vertrauen ist erschüttert. Die multiplen aufeinanderfolgenden und ineinandergreifenden Krisen der jüngeren Vergangenheit haben gezeigt: Sicherheit und Stabilität sind keine Selbstläufer. Für Wachstum und Zusammenhalt gibt es keine Garantie. All das muss hart erarbeitet und jeden Tag aufs Neue verteidigt werden.
Dies gilt besonders in einer Zeit, in der wir einem dreifachen Handlungsdruck ausgesetzt sind. Erstens: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie beschäftigen uns bis heute massiv. Die Pandemie hat tiefe Spuren in Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen und starke transformative Kräfte entfesselt. Die positiven Entwicklungen (z.B. beschleunigte Digitalisierung, neue Formen des Arbeitens) und die Schattenseiten (z.B. gestörte Lieferketten, Inflation) haben eines gemeinsam: Sie erfordern eine Neubewertung und Neukalibrierung eingespielter Prozesse.
Zweitens: Der brutale und menschenverachtende Überfall Russlands auf die Ukraine hat uns dramatisch vor Augen geführt, wie fragil unsere internationale Sicherheits- und Werteordnung ist. Der Freiheits- und Überlebenskampf, den die Ukrainerinnen und Ukrainer führen, ist auch ein Kampf um unsere europäischen Grundüberzeugungen. Für Deutschland geht es darum, welchen Preis wir zu zahlen bereit sind, um diese Werte zu sichern, und welche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schlussfolgerungen wir daraus ziehen.
Drittens: Bei Klimaschutz und Energiewende ist der Transformationsdruck ebenfalls enorm hoch. Wir haben die zunehmend dringlichere und unaufschiebbare Aufgabe, unsere natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen zu sichern, das Fundament für Wohlstand und Wachstum nachhaltig zu gewährleisten und gleichzeitig unabhängiger bei der Energieversorgung zu werden. Der russische Angriffskrieg hat diesen Handlungsdruck noch einmal verschärft.
Das ist der Kontext, in dem wir uns bewegen und dem wir uns jetzt stellen müssen. Eine Antwort auf die neue Lage ist die sogenannte „Zeitenwende“, die der Bundeskanzler Ende Februar ausgerufen hat. Sie lässt sich in verdichteter Form wie folgt interpretieren: Deutschland muss mehr tun, um seine Zukunft zu sichern.
Diese Zeitenwende muss jetzt mit Leben und konkreten Inhalten gefüllt werden. Dabei muss jedem klar sein, dass dieser Sicherheitsbegriff nicht nur militärische Fragen umfassen darf. Es geht auch um politische, soziale, ökologische und wirtschaftliche Dimensionen. Deutschland braucht eine tragfähige Vision, die dem notwendigen Transformationsschub eine Richtung gibt. Aus Sicht des Handwerks sollte Kern einer solchen Vision sein, dass die Transformation unseres Landes und unserer Wirtschaft nicht nur als Notwendigkeit und Herausforderung begriffen wird, sondern auch als echte Chance. Wir müssen wieder mutiger, zuversichtlicher und selbstbewusster sein. Globale Innovationen und Zukunftstechnologien müssen wieder stärker in Deutschland gedacht, gefertigt, gestaltet und umgesetzt werden. Davon können wir am Ende alle profitieren.
Im Koalitionsvertrag und im Regierungsprogramm hat die Ampel durchaus große Ambitionen auf vielen Zukunftsfeldern formuliert. Die Koalition hat zutreffend beschrieben, dass wir unser Land modernisieren müssen, dass wir endlich vieles von dem anpacken müssen, was in den letzten Jahren liegen gelassen wurde. Nur: Jetzt müssen auch Taten folgen.
Das Handwerk weiß, dass es auf komplexe Fragen keine einfachen Antworten gibt. Für uns ist aber eines klar: Diese Transformation wird nur gelingen, wenn es starke Betriebe und Beschäftigte gibt, die das alles am Ende umsetzen. Bei der Energiewende, beim Klimaschutz, bei Mobilität, bei Nachhaltigkeit, mit Blick auf Demographie, Digitalisierung und Gesundheit. Das wird nur mit dem Handwerk und mit dem Mittelstand funktionieren.
Welchen Beitrag das Handwerk leisten kann und leisten möchte, habe ich bereits zum Amtsantritt des neuen Bundeskanzlers in meinem Plädoyer für einen Fortschrittspakt skizziert. Das hat auch unter veränderten Vorzeichen weiter Bestand. Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation ist, dass die Bedingungen gerade für kleine und mittlere Betriebe stimmen. Das tun sie derzeit in vielerlei Hinsicht nicht, etwa bei der im internationalen Vergleich hohen Steuer- und Abgabenlast und der hohen Belastung mit Bürokratie. Das muss sich ändern, vor allem mit Blick auf den standorttreuen Mittelstand. Wenn die Transformation unseres Landes und unserer Wirtschaft gelingen soll, dann braucht es eine echte Mittelstandspolitik und eine echte Standortpolitik.
Schon heute können wir absehen, dass in einigen Bereichen eine erhebliche Schieflage droht, wenn wir nicht gegensteuern. Handlungsbedarf besteht vor allem bei einem Thema, das sich im Koalitionsvertrag allerdings leider nicht wiederfindet: Nämlich alles dafür zu tun, dass die 40-Prozent-Grenze bei den Gesamtsozialabgaben nicht überschritten wird. Das ist gerade für das personalintensive Handwerk ein enorm wichtiges, ja existentielles Thema. Wenn wir die 40-Prozent-Grenze reißen, dann schalten wir vielen Betrieben die Wettbewerbsfähigkeit ab. Und das dürfen wir nicht zulassen.
Bei der Fachkräftesicherung besteht besonders großer Handlungsbedarf. Allein im Handwerk fehlen geschätzt rund 250.000 Fachkräfte. Rund 125.000 Handwerksbetriebe suchen in den nächsten fünf Jahren nach einer Nachfolge. Es wird über die Zukunft unseres Landes entscheiden, ob es uns gelingt, diese Lücken zu schließen. Im Handelsblatt wurde der Fachkräftemangel vor einiger Zeit als das „größte Wachstumsrisiko der deutschen Wirtschaft“ bezeichnet. Es ist aber noch mehr: nämlich eine Transformationsbremse für unser ganzes Land. Diesen Bedarf werden wir nicht allein über Fachkräfteeinwanderung decken können, sondern dafür müssen wir in Deutschland selbst ausbilden.
Deshalb brauchen wir neben einer Klima- und Energiewende vor allem auch eine Bildungswende. Eine Bildungswende, die sich in mehr materieller und ideeller Wertschätzung für die berufliche Bildung äußert. Zusätzliche Entlastung für Ausbildungsbetriebe, zusätzliche Anreize für Auszubildende sowie Investitionen in moderne Berufsbildungsstätten sind wichtige Stellschrauben, um die Fachkräfteversorgung zu sichern. Aber das reicht nicht aus. Es braucht auch ein politisches und gesellschaftliches Umdenken. Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass etwas nicht stimmt, wenn akademische und berufliche Bildung als Zwei-Klassen-Gesellschaft behandelt wird. Für die Transformation benötigen wir in Deutschland alle Talente – ob sie sich für den akademischen oder den beruflichen Bildungsweg entscheiden.
Ladesäulen aufstellen, Solarpanels installieren, Heizungsthermen warten, Bäder altersgerecht sanieren – all das macht das Handwerk. All das hat einen Wert für die Gesellschaft, und das muss sich auch in Wertschätzung für diejenigen abbilden, die diese Werte schaffen. Etwa durch eine gesetzlich fixierte Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung.
Die genannten Herausforderungen sind zu groß, um nur von Teilen unseres Landes gelöst zu werden. Einzelne Bereiche werden das allein nicht stemmen können. Wir werden die Transformation nur erfolgreich bewältigen, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen. Ein solcher Schulterschluss erfordert eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und verlässliche Bedingungen. Das Handwerk ist gerne bereit, über den richtigen Weg für eine erfolgreiche Transformation zu streiten. Und diesen Weg dann auch umzusetzen. Ihn zu machen. Darauf kommt es jetzt an.
Hans Peter Wollseifer