Kriege und Klimakrise sind menschengemacht. Zwei traurige Wahrheiten, symbolhaft an zwei Daten abzulesen, die bei allen Unterschieden ihrer Ursachen und Folgen eines gemein haben: Es muss sich Grundlegendes ändern. Da ist zum einen der 24. Februar 2022 mit Putins tyrannischem Angriff auf die Ukraine, zum anderen der 29. Juli 2021. Auf diesen Tag fiel der letzte „Earth Overshoot Day“. Bis zu diesem Datum wurden weltweit bereits so viele Ressourcen verbraucht, wie der Planet im gesamten Kalenderjahr erneuern kann. Das ist weder ökologisch noch sozial noch wirtschaftlich nachhaltig. Ja, wir alle müssen etwas ändern.
Und wir müssen aus Fehlern lernen. Seit Putins Zivilisationsbruch erleben wir aus den denkbar traurigsten Gründen eine dringend notwendige neue Prioritätensetzung. Wir müssen uns aus der Abhängigkeit von russischen Kohle-, Öl- und Erdgaslieferungen lösen. Das soll schnell gehen, kann und darf aber nicht von heute auf morgen geschehen. Denn ein sofortiger Lieferstopp würde ganze Wirtschaftszweige in die Knie zwingen und die Demokratien Europas, der Europäischen Union schwächen. Er bedeutete gesamtgesellschaftliche Verwerfungen, ohne eine Garantie für Putins Einhalten zu bieten.
Für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gilt es daher gerade in diesen geopolitisch so angespannten Zeiten, gemeinsam mehr Transformation zu wagen und die Hinwendung zu regenerativen Energiequellen noch schneller zu realisieren. Nur dann lassen sich die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens und des europäischen Green Deals, der Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen soll, auch unter den nun so erschwerten Bedingungen erreichen. Als eines der weltweit führenden Unternehmen der Spezialchemie, stellt sich Evonik dieser gewaltigen Herausforderung. Die Chemie ist ein Universalschlüssel für den Erfolg nachhaltiger Transformation in allen Lebensbereichen.
Nur im Einklang ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele kann Europa ein Vorbild auch für andere Weltregionen sein. Deshalb ist es richtig, auf die beträchtlichen Chancen zu verweisen, die ein kluger Übergang zu Klimaneutralität für Wirtschaftswachstum, gute Beschäftigungsperspektiven und technologischen Fortschritt bedeuten kann. Wohlgemerkt: kann. Nicht muss. Damit dieses Jahrhundertvorhaben gelingt, müssen wir sehr achtsam sein mit den Treibern nachhaltiger Transformation. Heißt auch: Es braucht eine neue Wertschätzung industrieller Produktion. Es braucht Rückenwind für den Ideenreichtum und die Lösungskompetenz eines starken Mittelstands in Deutschland und es braucht eine gute Portion Pragmatismus in dem Sinne, dass wir nicht das Wünschenswerte mit dem Machbaren verwechseln.
Wichtiger Hebel dabei: Ressourcen müssen länger im Kreislauf gehalten werden. Die heute weitgehend lineare Wirtschaft muss zirkulär werden – und so das Wachstum möglichst unabhängig vom Ressourceneinsatz machen. Das ist eine gewaltige Herausforderung, der sich Evonik mit Kraft und Entschlossenheit stellt. Wir tun dies, indem wir die Zirkulation von Kunststoffen stärken und so dazu beitragen, dass weniger Erdöl zur Produktion neuer Kunststoffe gefördert und weniger Kunststoffabfall verbrannt wird.
Kunststoffe helfen, Energie effizient zu nutzen und Ressourcen zu schonen. Zum Beispiel im Verkehr, wo durch Leichtbau der Benzinverbrauch gesenkt wird oder bei PU-schaumisolierten Häuserfassaden, die zu einer höheren Energieeffizienz beitragen. Aber der Umgang mit Plastik – vor allem mit Plastikmüll – muss sich ändern. Auch, weil uns so ungeheure Mengen wertvoller Ressourcen verloren gehen.
Evonik ist weder ein Recyclingunternehmen noch ein Hersteller von Massenkunststoffen, wie sie zum Beispiel bei Verpackungen zum Einsatz kommen. Als eines der weltweit führenden Unternehmen der Spezialchemie leisten wir einen entscheidenden Beitrag für eine zirkuläre Kunststoffwirtschaft. Denn mit unseren hochspezialisierten Additiven sind wir die „Enabler“ – die Möglichmacher – für mehr und besseres Kunststoffrecycling.
Unseren Kunden bieten wir Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette des Kunststoffkreislaufs. Wir engagieren uns bei unterschiedlichen Recyclingtechnologien zum mechanischen und chemischen Recycling. Evonik hat Additive im Portfolio, die etwa besonders kosteneffizientes mechanisches Recycling ermöglichen und die Qualität der Rezyklate deutlich verbessern. Die Qualität zu verbessern bedeutet, weitere, hochwertige Anwendungen zu ermöglichen. So lassen sich Farbe und Geruch von Rezyklaten aus Verpackungen reduzieren, was den Einsatzbereich deutlich erweitert. Mit unseren Additiven und unserem Prozess-Know-how kann das Gummi von Altreifen als Bestandteil im Straßenbau oder in Schuhsohlen eingesetzt werden, anstatt verbrannt zu werden.
Diese und andere Aktivitäten für den Kunststoffkreislauf haben wir in unserem weltweiten Programm „Global Circular Plastics Program“ gebündelt. Denn eine zirkuläre Wirtschaft braucht nicht nur eine neue Form des Denkens und Handelns, sondern auch eine neue Form des Wirtschaftens. Partnerschaften entlang der Wertschöpfungsketten, Netzwerke, neue Geschäftsmodelle – all das rückt in der zirkulären Wirtschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Lebensweise zielt auf intelligente Produkte, neue smarte Geschäfts- und Servicemodelle. Dabei geht es um den klugen Einsatz digitaler Technologien und um ein umfassendes Verständnis von Produkten entlang ihrer Wertschöpfungskette. Evonik hat Nachhaltigkeit längst in den Strategischen Managementprozess integriert. Wir gestalten die Transformation als Treiber und Lösungsanbieter aktiv mit. Schon heute erwirtschaften wir 35 Prozent unseres Umsatzes mit sogenannten „Next Generation Solutions“, die einen ausgewiesenen Nachhaltigkeitsnutzen über – oder sogar deutlich über – Marktniveau aufweisen. Den Anteil dieser Produkte am Gesamtportfolio werden wir in den nächsten fünf Jahren stark steigern.
Unsere gesamte Branche stellt sich diesem Anspruch: Die Chemie hat ihre Treibhausgasemissionen seit 1990 um gut 50 Prozent reduziert. Wohlgemerkt: bei deutlich gestiegener Produktivität. Wir liefern die erforderlichen Bausteine für wirksamen Klimaschutz und wir investieren massiv in neue Technologien und zukunftsweisende Geschäftsmodelle – damit Kreislaufwirtschaft wirklich gelingt.
In der Chemiebranche betrachten wir unsere Geschäfte nicht isoliert: Wir denken in Wertschöpfungsketten und -kreisläufen. Wir teilen Wissen und Entwicklungs-Know-how mit Kunden, Lieferanten und Partnern. Und wir wissen, was es heißt, unter den Bedingungen von strenger Regulatorik und hohen Transparenzanforderungen zu arbeiten.
Aber zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass solche Partnerschaften entlang der Wertschöpfungsketten nur im Frieden gut wachsen und gedeihen können und dass auf dem Weg zur Klimaneutralität Milliarden an zusätzlichen Investitionen und enorme Mengen erneuerbarer Energien nötig sind. Nach Berechnungen des VCI fallen rund 628 TWh pro Jahr allein für die Elektrifizierung chemischer Prozesse an. Klimaneutralität kann nur mit verlässlichen Rahmenbedingungen für hinreichende Planungs- und Investitionssicherheit sowie mit dem massiven Ausbau erneuerbarer Energien, international wettbewerbsfähigen Strompreisen und einem zeitgemäßen Planungs- und Genehmigungsrecht erreicht werden.
Es ist daher von enormer Bedeutung, dass die Ampelkoalition die Transformation Deutschlands angehen möchte. Der Koalitionsvertrag enthält wichtige Grundsatzentscheidungen für ein klimaneutrales Industrieland. Jetzt muss es zügig an die Umsetzung der angekündigten Maßnahmen gehen, um die Transformation voranzutreiben: Die Infrastruktur für erneuerbare Energien muss schnell aufgebaut werden, um einen wettbewerbsfähigen Strompreis zu gewährleisten. Weiterhin muss das Tempo bei Genehmigungsverfahren steigen.
Es ist wichtig, das chemische Recycling zügig als Recyclingoption im deutschen Verpackungsgesetz zu verankern. Gleichzeitig muss sich die neue Bundesregierung in Europa konsequent für den Erhalt des risikobasierten Einsatzes in der europäischen Chemikalienpolitik stark machen. Nur so lässt sich die „Enabler-Funktion“ der Unternehmen hierzulande stärken. Wenn dies gelingt, wenn wir gemeinsam in Kreisläufen und Synergien denken, wird das Wagnis Transformation zu wahrhaft nachhaltigem Wirtschaften führen. Davon profitieren alle: Menschen, Umwelt und Unternehmen. Und das sind die Bestandteile, die auch in düsteren Zeiten Hoffnung auf ein nachhaltiges, friedliches Morgen machen.
Thomas Wessel