15.06.2022Geopolitik

Brauchen wir eine „Wirtschafts-NATO“?

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Kein Mangel an Militanz – aber an Gewissheiten und Alternativen

Der kleine CSU-Parteitag hat im April 2022 eine Resolution verabschiedet, in der als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine (aber auch im Blick auf die Politik Chinas) die Gründung einer „Wirtschafts-NATO“ gefordert wird:

„Eine Wirtschafts-NATO begründen. Die Stärke der westlichen Welt in der engen Partnerschaft zwischen Europa und den USA ist unser Gesellschaftsmodell. Unsere Werte der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft sind auch Voraussetzung für ökonomische Leistungsfähigkeit. (…) Mit der Gründung eines Wirtschaftsverbundes zwischen der Europäischen Union, den USA und weiteren NATO-Staaten plus globalen Playern wie Kanada, Australien, Japan, Südkorea und Israel können wir den freien Welthandel an neue Realitäten anpassen und in strategischen Bereichen die Kooperation intensivieren. Wir legen dafür ökologische, soziale und ethische Standards fest, die das Wirtschaftstreiben der Mitgliedsländer normieren und somit zum internationalen Goldstandard werden.“

Auch wenn die Forderung nach einer Wirtschafts-Nato begrifflich kaum Widerhall gefunden hat, offenbart sie doch paradigmatisch ein Setting von drei zusammenhängenden Vorstellungen, wie Deutschland und der Westen auf den Schock des Ukraine-Krieges und die „Systemkonkurrenz“ zwischen Demokratien und Autokratien/Diktaturen reagieren sollten:

  • Im Hintergrund steht eine Grundüberzeugung der „wehrhaften Demokratie“, die nicht nur ihre militärische, sondern auch die ökonomische „Gefechtsfähigkeit“ ausbauen solle.
  • Die CSU plädiert für eine starke westliche Blockbildung zwischen den USA und der EU, unklar bleibt, ob innerhalb der Perspektive einer globalisierten Freihandelswirtschaft oder in der Perspektive einer Post- bzw. Deglobalisierung. In welche Richtung es wahrscheinlich eher gehen soll, beschrieb der Vorsitzende der EVP-Fraktion im europäischen Parlament Manfred Weber (CSU) im „Cicero“ (Nr. 26/2022, S. 29) „Übrigens, der heutige Inbegriff für unsere Naivität ist das Investitionsschutzabkommen mit China. Es ist ein Symbol für mich, für ein Einfach-weiter-so mit dem Geldverdienen, anstatt zu reflektieren, worauf es heute ankommt.“
  • Westliche Wertestandards sollen einerseits der „strategischen Kooperation“ dienen, andererseits die Regeln des Welthandels beeinflussen bzw. „an neue Realitäten anpassen“.

Wie steht es nun tatsächlich um Wehrhaftigkeit, Globalisierungsperspektive und westliche Werte? Stehen wir am Beginn weiterer Eskalationsspiralen? Kommt nach Russland nun auch China als potenzieller Hauptfeind in den Blick?

Wussten Sie, dass in Artikel 12a (4) des deutschen Grundgesetzes folgende Regel zu finden ist? „Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden.“

Dies sei ein Dinosaurier-Paragraf, der bei den diversen Ergänzungen und Veränderungen des Grundgesetzes irgendwie vergessen wurde, könnte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall. Artikel 14 GG (zur Wehrpflicht, die aktuell lediglich ausgesetzt ist) ist Teil eines umfassenden Komplexes einer „wehrhaften Demokratie“, die, wenn es hart auf hart kommt, auch massive (und sehr hässliche) Maßnahmen ergreifen kann. Die Zwangsarbeit für Frauen ist nur eine (wenngleich weithin unbekannte) Konsequenz von vielerlei Zwangsmaßnahmen (von denen in Form von Zwangsverpflichtungen auch Männer betroffen sind – im Arbeitssicherstellungsgesetz von 1968 z.B.).

Im Grundgesetz aber auch in einem größeren Gesetzeskomplex (der sich aus den sog. „Notstandsgesetzen“ entwickelt hat, und in den 70er Jahren unter dem Eindruck der Ölkrise angepasst wurde) angelegt sind ein Katalog von verschiedenen sogenannten Sicherstellungs- und Vorsorgegesetzen. Diese sind abgestuft aktivierbar im Falle eines äußeren Notstandes („Verteidigungsfall“), im „Spannungsfall“ aber auch bei massiven Versorgungskrisen. Als „Zustimmungsfall“ ist sogar theoretisch jederzeit die dosierte und parlamentarisch kontrollierte Freigabe einzelner Bestimmungen des Notstandsrechts mit Zweidrittelmehrheit möglich.

Im Mai 2022 hat das novellierte Energiesicherungsgesetzes aus dem Jahr 1975 (1973) den Bundesrat im Schnelldurchgang passiert, der Staat kann nun noch leichter auf Energiefirmen zugreifen, wenn die Energieversorgung gefährdet ist.

Umfangreiche zwangswirtschaftliche Regelungen enthält auch das Wirtschaftssicherstellungsgesetz (WiSiG) aus dem Jahr 1965, mit dem faktisch die gesamte Volkswirtschaft – auf Zeit – in eine Kommandowirtschaft verwandelt werden könnte.

An Wehrhaftigkeit in rechtlicher Hinsicht herrscht also prinzipiell kein Mangel. Aber wo wollen wir hin mit anschwellenden Rufen nach Militanz und Gegeneskalation?

Die tiefe Zäsur, die durch das Verbrechen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ausgelöst und als „Zeitenwende“ beschrieben wurde, hat als erstes das Verhältnis von Politik und Ökonomie neu aufgestellt. Ein neuer Primat der Politik tritt fulminant hervor. Der Staat entscheidet im Krisenfall über das Überleben ganzer Branchen, er schafft Entscheidungsmaßstäbe (oder auch nicht) zur Verteilung von Mangelressourcen, er beschließt über Sanktions- und Hilfsmaßnahmen nach politischen, nicht betriebswirtschaftlichen Kriterien.

Dies ist die erste Erschütterung ökonomischer Glaubenssätze. Die Erzielung von Gewinn, Wachstum und freier Warentausch müssen hinter politische Konfliktlogiken zurücktreten.

Die zweite Erschütterung betrifft den Glauben, dass Handel und Frieden verschwistert sind. Mehr noch, auch die (nicht nur sozialdemokratisch formulierte) Entspannungspolitik soll als grundsätzlich gescheitert markiert werden. Die nahezu tägliche Suche nach Schuldigen in Boulevard- und auch Qualitätsmedien könnte irgendwann dazu führen, dass „Entspannungspolitik“ generell aus dem Horizont legitimer Konzepte ausgeschlossen wird.

Die spannende Frage nach historisch und aktuell sinnvollen Alternativen zur „Entspannungspolitik“ umgehen diejenigen gerne, die sich moralisch als einzig integer empfinden und in Eskalationsforderungen überbieten: Darunter auch Forderungen, die im Blick auf ein sofort gewünschtes vollständiges Gasembargo selbst eine Teil-Deindustrialisierung Deutschlands in Kauf nehmen würden. Ohne dass dies übrigens am Kriegsverlauf etwas ändern würde (möglicherweise sogar zu einer Verschärfung beitragen könnte) und die ökonomischen Ressourcen, die auch einem Wiederaufbau der Ukraine zufließen müssten, reduzieren würde.

Dritte Erschütterung: Die Wohlstandsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft und der Globalisierung werden zwar nicht generell suspendiert, aber stark relativiert und aktuell außer Kraft gesetzt. Nicht nur die immensen Kriegskosten, Sanktionskosten, Inflationskosten und die gigantischen künftigen Aufrüstungs- und Rüstungswettlaufkosten schlagen dabei zu Buche. Auch die Umbaukosten der nachhaltigen Transformation und die Kosten einer Umstellung auf neue Liefer- und Wertschöpfungsketten steigen und türmen sich düster auf.

Von IWF-Chefin Kristalina Georgiewa stammen bemerkenswerte Sätze (Spiegel 26.05.22): „Wir haben bei den Coronalockdowns und im Ukrainekrieg gelernt, dass unsere Lieferketten robuster werden müssen, was steigende Kosten nach sich zieht. Die Zeiten, in denen die Globalisierung für günstigere Produkte und niedrigere Inflation gesorgt hat, könnte also vorbei sein. Aber das heißt nicht, dass wir die Welt in getrennte Blocks aufteilen sollten. Das wäre eine Extremlösung, die uns alle ärmer macht. Wir dürfen nicht in die Zeiten des Kalten Kriegs zurückfallen, in denen Menschen ihre Freiheiten verwehrt wurden. Ich habe selbst erlebt, was das bedeutet – und ich möchte nicht in diese Zeit zurück.“

Historisch gingen über Jahrtausende Handel und Überfälle, Raubzüge und Mordbrennerei gleichzeitig bzw. im permanenten Wechsel von statten. Zivilisatorisch erwies sich langfristig jedoch der Handel, militärisch abgesichert (durch sich herausbildende Gewaltmonopole), als überlegene Form des Warenaustausches. Dazu gibt es eine erdrückende empirische Evidenz, zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte in Wirtschafts- und Politikwissenschaften haben das beschrieben. Sie weisen nicht zuletzt auf die Erfolge bei der Wohlstandsentwicklung und der Bekämpfung von Hunger und Krankheiten für Milliarden Menschen hin. Heute leben über eine Milliarde Menschen weniger in Armut als noch vor 30 Jahren. Und auch die Perspektive der Menschenrechte sieht tatsächlich historisch und empirisch nicht nach einem „Immer schlechter“ aus – ungeachtet der vorhandenen unerträglichen Zustände in vielen Regionen der Welt (um nur zwei Beispiele zu nennen – von der Unterdrückung der Frauen in Afghanistan bis zu den Kriegen der Warlords in den failed states in Afrika und Asien, wo Kindersoldaten töten und getötet werden.)

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat zwei grundsätzliche internationale Haltungen zu den Perspektiven der Globalisierung aufgeworfen. Falken und Tauben sind dabei neu gemischt. Konservative und grün-moralische Autorinnen und Autoren finden sich überwiegend auf der Seite der Falken, liberale, sozialdemokratische und (rechts-) populistische Stimmen eher im Taubenlager.

Ob diese Lagermischungen so erhalten bleiben und welche Seite den Sieg im Diskurs (und zu welchem Preis) erlangen kann, kann hier nicht prognostiziert werden. Eine Hoffnung ist, dass sich eine vernünftige Mischung aus Pragmatismus und Ideologie, Kooperation und Konflikt entwickelt.

Wahrscheinlich bedeutet die „Zeitenwende“ eine neue Etappe der Globalisierung, in der gleichzeitig unterschiedliche Prozesse der bipolaren Blockbildung (zwischen den sich jeweils um die USA und China gruppierenden Ländern), pentalaterale Machtpolbildungen (USA, China, Indien, Russland, EU), multilaterale Prozesse (getrieben durch viele aufstrebende Akteure und mittlere Wirtschaftsmächte) und Abkopplungsentwicklungen sowie Neuverkopplungen (z.B. im Rohstoff- und Primärenergiebereich) überlagern.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat Ende Mai 2022 in seiner Rede auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum eine Richtung vorgegeben:

„Die Kernfrage lautet: Wie gelingt es uns, dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird? Oder anders ausgedrückt: Wie schaffen wir eine Ordnung, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im Interesse aller verlässlich zusammenwirken? Es geht um Fortschritt in Zukunftsfragen, und zugleich geht es immer auch darum, zu zeigen: Internationale Kooperation liefert Antworten. Der Multilateralismus funktioniert! Das ist übrigens die Voraussetzung dafür, die Deglobalisierung zu stoppen, die wir erleben.“

Das ist dreifach zugleich Ausdruck einer persönlichen Haltung, ein politisches Programm und die Formulierung des nationalen deutschen Interesses.

Blockbildung und Deglobalisierung würden uns alle ärmer machen, wie Georgiewa sagt. Der Krieg in der Ukraine muss nicht nur schnell beendet werden – und Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen – sondern er muss ein monströser aber einmaliger Rückfall bleiben. Internationale Regeln und Rechte müssen wieder die Richtschnur von Politik und globalem Wirtschaftsaustausch sein. Zweifellos müssen Demokratinnen und Demokraten weltweit um die Sicherung der Menschenrechte kämpfen. Ob dies mit einer Strategie der Boykotte und Embargos sinnvoll zu erreichen ist, kann auch im Blick auf empirische Erfahrungen in der Vergangenheit bezweifelt werden (hier fehlt leider der Raum für eine angemessene argumentative Bewertung).

Ein Weg, der mit einiger Evidenz wirkungsvoll sein kann, ist die erfolgreiche Umsetzung der Transformationsaufgaben. Dies ist sowohl der Prüfpunkt für die Leistungsfähigkeit der politischen und ökonomischen Modelle als auch ein Weg aus Abhängigkeiten und Ressourcen-Konflikten, die nicht friedensfördernd sind.

Auf die Frage der Transformation bezogen, ergibt sich eine neue Liste der Dimensionen der Transformationsaufgaben – national, europäisch und global – keine davon lässt sich in oder mit einer „Wirtschafts-NATO“ besser lösen.

Acht Dimensionen der Transformation:

  • Dekarbonisierung und Aufbau einer Wind-, Solar- und Wasserstoffwirtschaft (das ist auch sicherheitspolitisch höchst relevant)
  • Digitalisierung und Ankopplung an die digitale Spitzentechnologieentwicklung
  • Beschleunigung der Planungsprozesse und Entscheidungen
  • Resilienz (Diversifizierung) als neue relevante Dimension: Rohstoffsicherung und Alternativen, Stärkung von Recycling und Kreislaufwirtschaft, Vorratshaltung und Rückgewinnung systemrelevanter Produktion (von Pharma bis Chip)
  • Soziale Verantwortung und Ausgleich – ohne die es keine tragfähige Basis des Transformationsprojektes geben kann
  • Ausbildung, Weiterbildung und Fachkräftesicherung (auch durch Migration)
  • Stärkung der EU: Binnenmarkt als zentrales level playing field der Transformation und Resilienzfaktor statt nationaler Autarkiebestrebungen.
  • Etablierung neuer und Stärkung vorhandener globaler Regime (weitere Handelsabkommen und Stärkung der Institutionen OECD, IWF, Weltbank, UN).

Die Frage ist, ob nicht bei einigen dieser Punkte weitere 100-Milliarden-Programme aufgelegt werden müssten – mit besseren als den bekannten auf rüstungspolitische Notwendigkeiten bezogenen Argumenten. Da dies eher unwahrscheinlich erscheint, muss die Finanzierung über kluge und zugleich gewaltig dimensionierte, staatlich abgesicherte öffentlich-private Fonds laufen. Die schnelle Konstruktion solcher Fonds (übrigens auch unter Einbeziehung der Erfordernisse aller drei Säulen der Altersvorsorge (staatlich, privat, betrieblich) ist eine politische Schwerpunktnotwendigkeit allerhöchster Ordnung.

 

Zum Autor: Dr. Frank Wilhelmy ist Geschäftsführer des Wirtschaftsforums der SPD e.V.