Der Begriff der Zeitenwende oder gar der einer Zäsur, der unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine als Bezeichnung der veränderten Lage Verwendung fand, steht dafür, dass mit einem Mal nichts mehr so ist, wie es eben noch war. Üblicherweise meidet die Politik solche Begriffe – außer sie stehen für eine Wende zum Guten, zum Erhofften und doch Unerwarteten. Das war am 9. November 1989 der Fall, als die Berliner Mauer mit einem Mal durchlässig wurde. Auch damals war danach nichts mehr so, wie es zuvor gewesen war. Der Begriff der „Wende“, der sich schnell einbürgerte, stand für den Aufbruch in eine neue Zeit, die als besser angesehen wurde als das Vergangene. Genau das ist bei dem von Olaf Scholz in der Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 verwendeten Begriff der Zeitenwende nicht der Fall: Auch wenn zunächst noch nicht klar war, wie tiefgreifend die Zäsur sein würde, so stand doch außer Frage, dass die Rückkehr des Angriffs- und Eroberungskriegs nach Europa für eine Wende zum Schlechteren, zum Schlimmen stand.
Die Vorstellung, dass der Krieg, zumal der Angriffskrieg, ein Auslaufmodell der Politik sei, jedenfalls in Europa, war mit einem Schlag dahin, ebenso wie die Vorstellung, dass man mit wirtschaftlichen Sanktionen militärische Gewalt aus dem Spiel nehmen könne, und erledigt war auch das für die europäische Ordnung der letzten Jahrzehnte zentrale Vorhaben, durch die wirtschaftliche Verflechtung der politischen Akteure und die daraus resultierenden wechselseitigen Abhängigkeiten über eine zuverlässige Garantie für den Frieden zu verfügen. Der russische Angriff auf die Ukraine steht dafür, dass keine dieser Vorstellungen gehalten hat, was man sich von ihr versprochen hat. Auch wenn die Behauptung überzogen ist, man habe sich die ganze Zeit in einem Zustand der Illusionen befunden, so ist das festzuhalten, dass auf das bisher für gewiss Gehaltene kein Verlass mehr ist und man nicht länger so agieren kann, als ob es die Grundlage einer stabilen Friedensordnung wäre.
Ein solches Eingeständnis fällt schwer, denn das auf die Zäsur folgende Danach lässt sich nicht länger mit der verbreiteten Redewendung von den „politischen Stellschrauben“, die man nur neu justieren müsse, an das Davor anschließen. Zeitenwende heißt, dass die gesamte Apparatur der Politik auf den Prüfstand gestellt und vieles daran grundlegend verändert werden muss. Wer sich dem verweigert, ist hartnäckig lernunwillig. Am Umgang mit dem Umlernbedarf einer Zeitenwende scheiden sich die Geister.
Das bekommt die Friedensbewegung zurzeit besonders deutlich zu verspüren: Standen ihre Forderungen und Parolen bis vor kurzem noch für eine bessere und sicherere Zukunft, auch wenn vieles nicht sogleich realisierbar war, sondern eher für Ziele auf dem Weg in die Zukunft stand, so repräsentieren die Friedensbewegten mit einem Mal nur noch die Illusionen und Irrtümer der Vergangenheit, die ihnen nunmehr als Mitschuld am russischen Angriff auf die Ukraine vorgehalten werden. Zeitenwenden sind immer auch Akte der Umwertung und Löschung von Gewissheiten. Das ist einer der Gründe, warum Politik normalerweise ungern von Zeitenwenden oder gar Zäsuren spricht. Beides setzt sie unter den Zwang zu kognitiven und mentalen Kehrtwenden. Tut sie es doch und spricht von einer Zeitenwende, so läuft dies auf die Verordnung eines grundlegend neuen Denkens hinaus.
Dieses neue Denken beginnt damit, dass sich die Wahrscheinlichkeitskalküle für Best Case– und Worst Case-Szenarien grundlegend verändern. In den Kalkülen der europäischen Friedensordnung nach 1989/91 war eine gewisse Neigung zu Best Case-Szenarien vorherrschend, und Worst Case-Szenarien wurden eher marginal behandelt: Der schlimmste denkbare Fall werde schon nicht eintreten. Vor allem ging man davon aus, dass sich alle – im Großen und Ganzen – an die Spielregeln der Friedensordnung halten würden, denn alle profitierten ja davon.
Dass einer die Regeltreue der Anderen zu deren Nachteil und zum (vermeintlich) eigenen Vorteil ausnutzen würde, wollte man sich nicht vorstellen. Sonst hätte man Putins Politik seit langem schon anders bewerten müssen: Vom zweiten Tschetschenienkrieg mit dem zerstörten Grosny als Symbol für die Brutalisierungsbereitschaft des Kremlherrn über den Georgienkrieg von 2008 mit der Bildung der Separatistengebiete von Abchasien und Süd-Ossetien bis zur Annexion der Krim und der politischen wie militärischen Unterstützung für die Separatisten in Donezk und Luhansk, von der militärischen Intervention in den syrischen Bürgerkrieg und den brutalen Luftangriffen auf die Wohnviertel syrischer Großstädte über den Einsatz der „Gruppe Wagner“ in den nordafrikanischen Kriegen zieht sich eine breite blutige Spur der Kriegführung bis hin zum Angriffskrieg auf die Ukraine. All das wäre eigentlich Grund genug gewesen wäre, Putin von Grund auf zu misstrauen und weitreichende Sicherungsmaßnahmen gegenüber Russland zu treffen.
Man hat es nicht getan, denn dann hätten die Europäer, zumal die Deutschen, den Konsum der Friedensdividende beenden und sehr viel stärker auf die Komplementierung der wirtschaftlichen durch militärische Macht setzen müssen. Aber das hätte sie von Neuem in das berüchtigte Sicherheitsparadox hineingeführt: Man erhöht das Rüstungsniveau, um gegenüber einem identifizierten potenziellen Bedroher besser gesichert zu sein; der wiederum nimmt die erhöhten Verteidigungsanstrengungen der anderen Seite als Bedrohung seiner Sicherheit wahr und rüstet seinerseits auf, was bei der Gegenseite zusätzliche Rüstungsanstrengungen erforderlich macht – ad infinitum.
Das Sicherheitsparadox besagt, dass der Versuch zur Erhöhung der eigenen Sicherheit durch mehr militärische Macht regelmäßig in erhöhter Unsicherheit endet. Diesem Dilemma glaubte man nach 1989/91 entkommen zu sein und wollte sich nicht wieder hineinbringen. Deswegen schob man alles, was den Annahmen der nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation entwickelten europäischen Friedensordnung widersprach, an den Rand der politischen Wahrnehmung, behandelte es als Ausnahme und maß ihm keine zentrale politische Bedeutung bei – von der Zerstörung Grosnys und der brutalen Tötung von Zivilisten über die Annexion der Krim bis zur systematischen Bombardierung von Wohngebieten durch russische Kampfflugzeuge im syrischen Bürgerkrieg.
Die Marginalisierung russischer Regelbrüche war freilich nicht auf die Europäer beschränkt, sondern betraf ebenso die USA, die damit beschäftigt waren, ihre geopolitische Hauptaufmerksamkeit vom atlantischen Raum auf den pazifischen Raum zu verschieben, also China als den gefährlichsten Herausforderer ihrer globalen Dominanz anzusehen. Das begann mit Obamas Bemerkung, Russland sei nur noch eine Regionalmacht und fand ihren Höhepunkt in Trumps undurchsichtiger Hofierung Putins als eines klugen und verlässlichen Politikers. Es ging darum, dass man alle Kräfte für die Auseinandersetzung mit China frei machte und nicht durch die Konfrontation mit Russland in einen „Zwei-Fronten-Konflikt“ hineingezwungen wurde, von dem man befürchtete, dass er die Vormachtstellung der USA nachhaltig gefährden und zu einer Überdehnung der Kräfte führen würde.
Für die Sicht Putins und seiner Entourage kam beides, die europäische Fixierung auf eine ökonomisch gesicherte Friedensordnung und die konfliktive Ausrichtung der USA auf China und den indopazifischen Raum, der Einladung gleich, das 1991 zerfallene russische Imperium wieder zu errichten.
Man hatte Putin und Russland als einen geostrategischen Akteur schlichtweg aus dem Blick verloren: Die Europäer, weil sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder Neigung noch Fähigkeit zu geopolitischem Denken hatten und überwiegend damit beschäftigt waren, die europäische Friedensordnung als Blaupause für eine neue Weltordnung zu positionieren. Damit sollte das rhetorische „Wir“ der Menschheit in einen handlungsfähigen politischen Akteur verwandelt werden, der die großen Herausforderungen der Menschheit zu bearbeiten in der Lage war, Hunger und materielles Elend im Süden, die Migrationsbewegungen infolge von Dürrekatastrophen und Bürgerkriegen und vor allem den Klimawandel und das Artensterben.
Und die US-Amerikaner, weil sie ihre globale Vormachtstellung verteidigen wollten und sich dabei, nachdem sie sich mehr als eine Dekade im Vergleich zu einer Transformation der muslimischen Welt verzettelt hatten, vor allem auf China konzentrieren wollten, das durch seine ständig wachsende wirtschaftliche Macht die USA herausforderte. Doch dann kam für beide Russland durch den Einsatz militärischer Gewalt dazwischen. Es war der von Putin angeordnete rücksichtslose Gebrauch militärischer Macht, der die politische Vorstellungswelt der Amerikaner und Europäer buchstäblich zertrümmerte und sie zu einem geopolitischen Paradigmenwechsel zwang. Der ist zu einer tiefen Zäsur im politischen Erwartungshorizont des „Westens“ geworden.
Wo stehen wir jetzt? Womit müssen wir rechnen? Wie können wir uns darauf einstellen? Die Ära des Vertrauens auf die Geltung einer regelbasierten, wertegestützten und normgetriebenen Weltordnung ist zu Ende. Einige mögen ihr in trotziger Beharrlichkeit nach wie vor anhängen, aber das ist eher ein Akt verzweifelten Festhaltens von Vergangenheit als der eines zukunftsfähigen Erfassens realer Herausforderungen und Möglichkeiten. Normativ aufgeladene Ordnungen, wie etwa auch die europäische Friedensverordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, sind hochgradig verwundbar, und sobald es einen notorischen Regelbrecher und Werteverächter gibt, der nicht aus dem Spiel genommen werden kann, sind sie gescheitert.
Das hat sich bereits im Zerfall der vom Genfer Völkerbund getragenen Zwischenkriegsordnung gezeigt. Solche Ordnungen bedürfen eines „Hüters“, der sehr viel mächtiger ist als alle Regelbrecher und der obendrein bereit ist, diese Übermacht nicht in seinem Eigeninteresse, sondern in dem eines Gemeinwohls der gesamten Menschheit zu gebrauchen. Den gibt es indes nicht. Die Vereinten Nationen haben sich dafür als zu schwach erwiesen, und die USA haben diese Aufgabe eher schlecht als recht wahrgenommen. Unter Trump haben sie sich dann davon verabschiedet.
Seit längerem schon hat sich stattdessen ein System der fünf großen Akteure herausgebildet, das nach quasi-physikalischen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Diese Fünf haben Interessengebiete, Einflusszonen und Peripherien, auf die sie aus Gründen ihrer Rohstoff- und Energieversorgung angewiesen sind und über die sie aus Gründen ihrer Sicherheit die Kontrolle anstreben oder behalten wollen. Das führt zu Reibungen und Konflikten, die, wie im Fall der Ukraine, zu Kriegen werden können oder auch zur Entkoppelung von Wirtschaftskreisläufen, wie jetzt denen des „Westens“ gegenüber denen Russlands.
In dieser politischen Welt ist nicht Vertrauen, sondern Misstrauen vorherrschend; Best Case-Szenarien gelten als unwahrscheinlich, und Worst Case-Szenarien dominieren die politischen Kalküle. Frieden ist hier eher die permanente Vermeidung von Kriegen als die Verwirklichung einer verlässlichen Friedensordnung. In dieser Welt muss man ständig mit dem Schlimmsten rechnen, um seinen Eintritt nicht bloß zu vermeiden, sondern auch aktiv verhindern zu können. Es ist dies eine überaus anstrengende und an den Nerven zehrende Welt. Aber sie verschwindet nicht, wenn man vor ihr die Augen verschließt.
Bei den fünf großen Akteuren handelt es sich um die USA und China, Russland und die EU (wenn die wichtigsten Mitgliedstaaten zusammenbleiben und die bisherige Regelungspolitik auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umstellen) und als Fünften schließlich Indien. Dabei werden die USA und die EU sowie einige andere eine Koalition der demokratischen Rechtsstaaten bilden, was freilich nur bei entsprechenden Anstrengungen nach innen gelingen kann. Ihnen wird die von Russland und China gebildete Koalition der autoritär-autokratischen Mächte gegenüberstehen.
Die Europäer werden dabei die Juniorpartner der USA bleiben, ebenso wie Russland zum Juniorpartner Chinas werden wird. Und Indien wird das bewegliche „Zünglein an der Waage“ darstellen und sich dabei an der Rolle der Briten orientieren, die diese im 18. und 19. Jahrhundert gegenüber Kontinentaleuropa gespielt haben. Die oben erwähnten Menschheitsaufgaben dürften zu einer zwischen den großen Fünfen von Fall zu Fall auszuhandelnden Agenda werden, bei der viele Kompromisse vonnöten sind.
– Keine Frage: es wird melancholische Nostalgiker geben, die dem Erwartungshorizont der europäischen Friedensordnung der letzten Jahrzehnte nachtrauern werden. Sie werden jedoch keinen Einfluss auf das Geschehen haben, sondern dieses nur in hilfloser Trauer diesen. Die Europäer werden aufpassen müssen, dass sie politisch nicht zu solchen Melancholikern gehören, die Objekt der Weltpolitik und nicht eines von deren Subjekten sind.
Autor: Prof. (em.) Dr. Herfried Münkler