Der russische Krieg gegen die Ukraine hat einige vermeintliche Gewissheiten in Europa erschüttert. Manches, was früher als selbstverständlich empfunden wurde, steht jetzt auf dem Prüfstand, unsere wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu China inklusive. Das Verhältnis Deutschland-China steht vor einer Zäsur: Lösen von Abhängigkeiten, nicht von China.

Der rasante Aufstieg von Chinas Wirtschaft mit durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von über acht Prozent zwischen 2001 und 2020 kam vielen europäischen Unternehmen zugute, die dort einen nicht unbedeutenden Teil ihrer Geschäfte realisieren konnten. Besonders markant zeigt sich dies in der deutschen Automobilindustrie – im Jahr 2021 betrug der Anteil der in China verkauften PKW am Gesamtabsatz deutscher Automobilhersteller 37 Prozent.

Auch für die Elektro- und Chemieindustrie ist der chinesische Markt von zentraler Bedeutung: 2019 waren 237 Tochtergesellschaften deutscher Chemieunternehmen in China tätig und erzielten einen Umsatz von rund 27 Mrd. Euro – etwa 15 Prozent des Gesamtumsatzes der deutschen Chemieindustrie. Die deutsche Elektroindustrie hat 2020 bei einen Gesamtumsatz von 182 Mrd. Euro Waren in Wert von 23 Mrd. Euro nach China exportiert.

Der Slogan „Wandel durch Handel“ erleichterte es, erfolgreich Geschäfte zu machen und gleichzeitig die vermeintliche Gewissheit zu haben, einen Beitrag zum politischen Fortschritt zu leisten. Die Gewissheit ist dahin. So mahnte bereits 2019 der Bundesverband der Deutschen Industrie in einem viel beachteten Grundsatzpapier eine strategische Neuausrichtung gegenüber dem Systemwettbewerber China an.

Eine verschärfte Investitionsprüfung ist eine Konsequenz dieser Neuausrichtung: Wenn ein Unternehmen aus einem Drittstaat ein deutsches Unternehmen erwerben will, prüft das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), ob durch den Kauf die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik gefährdet wären. 2021 wurden 306 nationale Prüfverfahren durchgeführt, in 37 Fällen kam der Käufer aus China.

Die Investitionsprüfung ist auch eine Antwort auf die Auflagen, denen sich europäische Unternehmen bei Unternehmenskäufen in China gegenüberstehen. Doch sollte man die Relationen im Auge behalten: Der Bestand deutscher Direktinvestitionen in China ist mit 96 Mrd. Euro zehnmal so groß wie der Bestand chinesischer Direktinvestitionen in Deutschland mit nur neun Mrd. Euro.

Nicht nur der Erwerb deutscher Unternehmen durch Käufer aus Drittstaaten gehört auf den Prüfstand. Die gesamten Geschäftsbeziehungen deutscher Unternehmen mit chinesischen Unternehmen und Kunden müssen neu betrachtet werden. Die Größenordnungen sind gewaltig. China war 2021 zum sechsten Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner. Im- und Exporte von und nach China sind in 2021 wieder gestiegen und betragen mittlerweile 246 Mrd. Euro.

Die wirtschaftliche Vernetzung mit China ist damit etwa viermal so groß wie die mit Russland. Das Volumen der deutschen Im- und Exporte mit Russland betrug 2021 60 Mrd. Euro, die deutschen Direktinvestitionen in Russland 25 Mrd. Euro (Stand 2019).

Ein Rückführen dieser Vernetzung hätte entsprechende wirtschaftliche Auswirkungen: So würde eine Verdoppelung der nichttarifären Handelshemmnisse im bilateralen Handel zwischen der EU und China nach einer Studie des IfW bereits zu einem Rückgang des deutschen BIPs um 1,4 Prozent führen. Allerdings wurden in dieser Studie die Konsequenzen von Abhängigkeiten bei spezifischen Produkten und Rohstoffen nicht erfasst. Engpässe dort  können zu erheblichen Störungen in der gesamten Lieferkette führen.

Eine solche Verletzbarkeit zeigte sich zu Beginn der Corona-Pandemie und jetzt erneut, wo aufgrund des Lockdowns in China dortige Häfen weniger bedient werden und Lieferketten stocken. Die Bedeutung der chinesischen Häfen für den Welthandel ist enorm: Sieben der zehn größten Containerhäfen der Welt befinden sich in China.

Doch die Bedrohung geht über pandemiebedingte Ausfälle hinaus: In Krisenfällen eingesetzte Sanktionen gegenüber China würden in vielen Sektoren Im- und Exporte zum Erliegen bringen. So sind die deutschen Exporte nach Russland seit Beginn des Kriegs um über 60 Prozent zurückgegangen.

Die Importe aus Russland, hauptsächlich Energierohstoffe, wurden allerdings wegen ihrer Bedeutung für die deutschen Unternehmen und Haushalte nicht eingeschränkt, und sind wegen des Anstiegs der Energiepreise sogar im Wert gestiegen. Hier ist Deutschland besonders verletzbar und Russland versteht sehr wohl, die (Nicht-)Lieferung von Gas als strategisches Instrument einzusetzen.

Solche Abhängigkeiten sind problematisch. In einer Studie des ifo Instituts werden Abhängigkeiten in der Lieferkette so definiert, dass (i) nur einzelne Zulieferer das jeweilige Produkt liefern, (ii) dieses nicht in Deutschland produziert wird und (iii) ihre Nichtverfügbarkeit ein großes Problem darstellt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass bei fünf Prozent aller deutschen Importe im Jahr 2019 eine solche Abhängigkeit bestand. Diese abhängigen Produkte, die hauptsächlich im industriellen Bereich zu finden sind, kommen zu knapp 75 Prozent aus EU-Ländern – aus China lediglich drei Prozent. Die größten Abhängigkeiten von China bestehen bei chemischen Erzeugnissen gefolgt von elektrischen Ausrüstungen und Transportausrüstungen.

Eine besondere Verwundbarkeit gegenüber China besteht bei Mineralien. Seltene Erden, Kobalt, Lithium oder Magnesium, die für die Produktion von Batterien und Solaranlagen benötigt werden, werden aktuell hauptsächlich von dort bezogen. Alternativen für einen guten Anteil dieser Mineralien wären vorhanden, etwa in Kanada. Mit Ländern wie Kanada stärker Handel zu treiben bedeutet allerdings auch, dass man angesichts besser etablierter und ausgebauter Umweltgesetze und Arbeitsschutzregelungen einen höheren Preis bezahlt.

Die deutsche Wirtschaft wird sich von diesen Abhängigkeiten lösen müssen. Eine Form dazu ist das Reshoring, d.h. die Verlagerung der Produktion zurück in den eigenen Wirtschaftsraum. In der Chipindustrie wird dieser Weg in Europa mit hohen Fördermitteln eingeschlagen. Mit dem „Chips Act“ will die EU 43 Mrd. Euro an öffentlichen und privaten Investitionen mobilisieren, um die Halbleiterproduktion in Europa zu stärken – mit Erfolg: Im März kündigte der weltweit zweitgrößte Halbleiterhersteller Intel den Bau einer großen Chipfabrik in Magdeburg an und plant weitere Investitionen in Europa.

Rückverlagerung für eine Volkswirtschaft in Zeiten von Fachkräftemangel bedeutet aber gleichzeitig, auf andere Produktionen zu verzichten. Außerdem geht die globale Aufteilung der Wertschöpfung mit komparativen Vorteilen einher, die durch Rückverlagerung wegfallen würden. Daher ist es nicht überraschend, dass Deutschland laut einer Studie bei vollständiger Rückverlagerung seiner internationalen Produktionsprozesse ins Inland knapp zehn Prozent seines BIPs verlieren würde – über 350 Mrd. Euro jährlich.

Eine Alternative zum Reshoring ist eine konsequentere Diversifizierung der Lieferketten, primär aber nicht nur mit befreundeten Ländern – die amerikanische Finanzministerin spricht in diesem Zusammenhang vom „friendshoring“. Die öffentliche Hand kann eine stärkere Diversifizierung von Lieferanten und Kunden der Unternehmen dadurch unterstützen, dass sie mehr Handelsverträge schließt, die es den Firmen leichter machen, zum Beispiel nach Südamerika oder Indien zu gehen. Es ist daher gut und war überfällig, dass sich die Ampelkoalition auf die Ratifizierung des EU-Handelsabkommens mit Kanada (CETA) geeignet hat und nun einen Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause verabschieden möchte.

Auch China ist dabei, sich von wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu lösen. Die Importe Chinas relativ zum BIP sanken von 28 Prozent in 2006 auf 16 Prozent in 2020. Um seinen Handel zu diversifizieren, fördert China Beziehungen mit anderen Partnern. So trat Anfang des Jahres Chinas erstes regionales Freihandelsabkommen RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) in Kraft, an dem 15 Länder der Region Asien-Pazifik – u.a. Japan, Singapur und Australien – beteiligt sind, und das rund ein Drittel des globalen Welthandels umfasst.

Die Aufgabe der Unternehmen und der Regierung in den nächsten Jahren wird es sein, ein besseres Verständnis dafür zu bekommen: (i) welche Abhängigkeiten problematisch sind, (ii) welche Geschäftsbeziehungen tolerierbar sind, (iii) wer für die Reduktion bestimmter Abhängigkeiten verantwortlich ist und (iv) welche Maßnahmen ergriffen werden sollten.

Der Kauf eines Hafens durch chinesische Unternehmen wie in Piräus, der im Zweifelsfall unter nationale Treuhand gestellt werden kann, ist vermutlich weniger sicherheitsgefährdend als die Installation eines Telekommunikationsnetzes, das abgehört und im Konfliktfall lahmgelegt werden kann.

Wie schwer es allerdings ist, gute von schlechten Beziehungen abzugrenzen, zeigt sich im Hochschulsektor. Deutsche und chinesische Universitäten sind stark vernetzt. Vor der Corona-Pandemie, im Wintersemester 2019/20 kamen über 40.000 chinesische Studenten nach Deutschland, umgekehrt gingen über 8.000 deutsche Studenten nach China. Ein wichtiger Beitrag zum Aufbau einer Chinakompetenz, wie er von der Bundesregierung explizit gefördert wird. So unterstützt das BMBF 13 Forschungsprojekte mit bis zu 450.000 Euro pro Vorhaben, um das Verständnis von den vielfältigen und komplexen Zusammenhängen und Wirkungsketten in China sowie deren Bedeutung für Deutschland und Europa zu erweitern. Das ZEW ist daran beteiligt.

Gleichzeitig hat aber, wie jüngst eine Recherche mehrerer europäischer Medien ergab, die problematische Zusammenarbeit europäischer Universitäten mit chinesischen Militärinstitutionen bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie stetig zugenommen.

Deutschland und die EU müssen die leitenden Paradigmen ihrer internationalen Partnerschaften überdenken. Die Abmilderung von Abhängigkeiten durch stärkere Diversifizierung kann zu einer neuen Vielfalt in den Handelsbeziehungen führen. Deutschlands exportorientierte Wirtschaft könnte dazu ihre erfolgreichen Erfahrungen einbringen.