Sommer 2022 Manifest: Zwischen Krisen und Dekarbonisierung – Die Ausrichtung der EU-Klima- und Energiepolitik an eine „neue Weltordnung“

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I. Eine „neue Weltordnung“: Welches sind die zentralen Merkmale?

1. Russlands Einmarsch in die Ukraine Ende Februar 2022 hat aus der europäischen Energiekrise, die bereits im Sommer 2021 begann, eine strukturelle Krise gemacht. Diese untergräbt die Energiesicherheit der EU in schwerwiegender Weise. Weitere laufende globale Krisen komplizieren die politische Landschaft zusätzlich.

  • Russland ist der wichtigste Energielieferant der Europäischen Union (EU). Jedes Jahr werden große Mengen Erdöl, Erdgas, Kohle und Kernbrennstäbe in die EU exportiert. Die Abhängigkeit der EU von Russlands Gas ist wegen der importierten Mengen (ca. 40% der gesamten Erdgasimporte) und der starren Infrastruktur der Gaspipelines besonders hoch.
  • Ein knapper Weltmarkt für flüssiges Erdgas (LNG) und verminderte Exportmengen aus Russland in die EU führten bereits im Sommer und Herbst 2021 zu einem starken Anstieg der Großhandelspreise für Erdgas, die rasch auf den Strommarkt übergriffen, da gasbefeuerte Turbinen oftmals die marginalen Kosten der Stromproduktion bestimmten. Die hohen Strompreise im Großhandel spiegelten somit die höheren Kosten der Stromproduktion dar. Damit erfüllte der Großhandelsmarkt für Strom weiterhin seine hauptsächliche Aufgabe, nämlich ein effizientes Preissignal für die optimale Bereitstellung von Strom auf der Grundlage der kurzfristigen marginalen Produktionskosten auszusenden.
  • Russlands Einmarsch in die Ukraine hat die Unsicherheit internationaler Energieströme deutlich erhöht und hat damit den Anstieg der Großhandelspreise für Erdgas und Strom, die ursprünglich mit dem Ende des Winters hätten fallen sollen, weiter beflügelt. Darüber hinaus hat der Krieg zusätzlich einen Preisanstieg bei Erdöl und Erdölprodukten ausgelöst.
  • Die Entscheidung der EU, Russland wegen seiner militärischen Aggression zu sanktionieren sowie die Energieimporte aus Russland schrittweise zu vermindern, erfordert eine immense Umstrukturierung der Energieversorgung europäischer Haushalte und Unternehmen. In diesem Zusammenhang kann eine sichere und bezahlbare Versorgung mit Energie nicht als gegeben betrachtet werden, zumindest nicht für die Jahre 2022 und 2023.
  • Über Europa hinaus verschärfen die Preisexplosion bestimmter Rohstoffe, die Störung vieler Lieferketten und zunehmende Spannungen zwischen den Weltmächten, wie zwischen den USA und China, die Probleme internationaler Zusammenarbeit und legen eine größere Verschiebung in Richtung einer komplizierter werdenden Weltordnung nahe. Diese Entwicklungen haben eine Reihe von Konsequenzen für die Transformation des Energiesektors, einschließlich der Notwendigkeit den Begriff der ‚Energiesicherheit‘ deutlich weiter zu fassen und den Zugang zu kritischen Rohstoffen und essentiellen industriellen Vorprodukten mit einzuschließen.

2. Die Beschleunigung des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft in Europa ist ein Schlüssel, um die Ursachen der Krise, die die EU im Moment durchmacht, zu bewältigen und um die Energiesicherheit der EU mittel- und langfristig zu erhöhen.

  • Die breitere Streuung der Energieimporte hinsichtlich Routen und Länder ist kurz- und mittelfristig unabdingbar, um Europas Abhängigkeit von russischen Exporten rasch zu mindern. Allerdings ist das Potential einer kurzfristigen Diversifikation begrenzt, insbesondere bei Erdgas, und wird das seit langem bestehende Problem von Europas Abhängigkeit vom Import fossiler Energieträger von einer begrenzten Anzahl von Exportländern kurzfristig nicht lösen.
  • Der von der EU seit einigen Jahren betriebene Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft und die damit verbundenen gesetzgeberischen Maßnahmen stellen keine signifikante Ursache für die beobachteten Steigerungen der Energiepreise dar. Im Gegenteil, die Bepreisung von CO2Emissionen, die wachsende Eigenständigkeit auf der Grundlage des Ausbaus erneuerbarer Energien und die Förderung der Energieeffizienz sind ein wesentlicher Teil der Lösung, nicht nur für die andauernde Klimakrise aber auch die Krise der Energiesicherheit in der EU. Die drastische Senkung von Europas Abhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern und die gleichzeitige Beschleunigung des technischen Wandels wird sicherstellen, dass Europas Haushalte und Unternehmen mittel- und langfristig einen sicheren Zugang zu bezahlbarer Energie haben werden.

3. Angemessene Antworten der Politik zur Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Energiekrise sind von herausragender Bedeutung. Gezielte Politikmaßnahmen werden nötig sein, um einen fairen und gerechten Wandel für Europas Haushalte und Unternehmen sicherzustellen.

  • Der Anstieg der Energiepreise wiegt schwer auf Europa. Die Inflation steigt wie seit Jahrzehnten nicht mehr und die wirtschaftliche Erholung von Covid 19 Pandemie scheint sich zu verlangsamen. Viele Wirtschaftszweige, wie die Landwirtschaft, die Düngemittel- und Stahlindustrie, mussten ihre Produktion wegen steigender Energiepreise bereits reduzieren. Allerdings sind die Folgen besonders schwerwiegend für diejenigen Verbraucher, die kaum andere Möglichkeiten haben, steigende Energiepreise aufzufangen, als die Minderung ihres Energieverbrauchs oder die Kürzung anderer essentieller Ausgaben. Zu diesen verletzlichen Verbrauchern gehören sowohl Haushalte, insbesondere sozial schwache, wie auch Unternehmen, insbesondere kleine Betriebe.
  • Es wird nicht möglich sein, den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu forcieren, ohne die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Energiepreisanstiegs für die schutzbedürftige Haushalte und Unternehmen abzufedern. Umgekehrt gilt allerdings, dass man, wenn man die sozialen Folgen abfedert ohne den notwendigen Wandel zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu beschleunigen, große Gefahr läuft, die langfristigen Klimaziele zu verfehlen und gleichzeitig die Verletzlichkeit der EU gegen zukünftige Preisschocks deutlich verschärft.
  • Haushalte in Energiearmut und andere schutzbedürftige Verbraucher sollten durch gezielte Maßnahmen unterstützt werden, welche das Preissignal in den Energiemärkten so wenig wie möglich antasten. Preisregulierung sollte nur als letztes Mittel und dann nur für eine im Voraus festgelegte Zeit auf der Grundlage von klar definierten Kriterien eingesetzt werden, z.B. um den Inflationsdruck zu mindern und zu verhindern, dass die Europäische Zentralbank zu einer wachstumsmindernden restriktiven Geldpolitik greifen muss.
  • In der gegenwärtigen Situation hoher Energiepreise ist die Stärkung des bestehenden CO2Preissignals weiterhin notwendig. Sie bringt allerdings erhebliche Herausforderungen hinsichtlich der möglichen volkswirtschaftlichen Wirkungen und der öffentlichen Akzeptanz mit sich. Dies unterstreicht, wie wichtig es sein wird, das richtige Umfeld für einen fairen und gerechten Wandel herzustellen insbesondere mit Blick auf die Verteilungswirkungen und die möglichen Ausgleichsmaßnahmen, die sich an den spezifischen Bedürfnissen der schutzbedürftigen Verbraucher orientieren sollten. Die gegenwärtigen hohen Energiepreise bieten zudem eine gute Gelegenheit, um in der EU über eine generelle Reform der Energiebesteuerung und die Rolle der CO2 Bepreisung nachzudenken, einschließlich der Notwendigkeit das Preissignal auf diejenigen Sektoren auszudehnen, die heute noch nicht vom EU Emissionshandel abgedeckt werden.

II. Die „neue Weltordnung“: Welche Prioritäten soll die Politik kurz- und längerfristig setzen?

4. In der nahen Zukunft – bis zum Frühjahr 2023/2024 – müssen die EU und die Mitgliedstaaten den Schock durch den dramatischen Anstieg der Energiepreise angehen. Gezielte direkte pauschale Zuwendungen können den ‘Verlierern’ der Krise helfen, während eine Besteuerung der Übergewinne der ‘Krisengewinnler’ zur Finanzierung dieser Zuwendungen genutzt werden kann.

  • Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten die Teile der Gesellschaft und der Wirtschaft unterstützen, die am meisten von Preiserhöhung und -schwankungen betroffen sind und die auch weiterhin während der akuten Phase – vermutlich bis zum Frühjahr 2023 oder 2024 – betroffen sein werden. Unterstützende Maßnahmen sollten idealerweise zielgenau eingesetzt werden und gleichzeitig die Marktpreise für Energie so wenig wie möglich verzerren. Dies kann durch direkte pauschale Zuwendungen geschehen. Eine Einführung eines zweigeteilten Einzelhandelspreises für Energie wird auch vorgeschlagen, aber ist vermutlich schwieriger zu steuern und umzusetzen. Im Gegensatz dazu, wenn auch einfach einzuführen, lässt eine generelle Deckelung der Preise keine gezielte Unterstützung der bedürftigen Verbraucher zu und verwässert zudem das Preissignal. Dies ist daher eine unangemessene und zudem unnötigerweise teure Maßnahme, um die gegenwärtige Krise zu meistern.
  • Durch die Verlängerung der Krise über die zunächst prognostizierte Zeitspanne hinaus und wegen der schon jetzt angespannten Haushaltslage in den meisten Mitgliedstaaten, kann die Unterstützung über die öffentliche Hand hinaus auch durch zeitlich befristete Steuern auf die Übergewinne der Produzenten fossiler Energieträger und (einiger) Stromproduzenten mitfinanziert werden. Idealerweise sollte diese zusätzliche Steuer weder die effiziente Nutzung knapper Ressourcen verzerren noch langfristige Investitionen verhindern. Zudem sollten spezifische Steuern auf Importe fossiler Energieträger aus Russland als weitere wichtige Einnahmequelle in Erwägung gezogen werden, zum einen, um die zusätzlichen Ausgaben öffentlicher Haushalte zu decken, und zum anderen als wertvollen Anreiz, um von Russland weg zu diversifizieren.
  • Weitere kurzfristige Eingriffe in das Design der Energiemärkte sollten sehr sorgfältig überlegt sein, da sie die realen Preissignale untergraben könnten und die Integration der Energiemärkte auf der EU Ebene behindern könnten. Dies gilt insbesondere für Eingriffe in die Day-Ahead Strompreise, welche nach einem kürzlich veröffentlichten Bericht der europäischen Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) ganz besonders zu einer effizienten Allokation von knappen Energieressourcen in Europa und zur Verhinderung lokaler Mangelsituationen beitragen.
  • Um mögliche massive Preisausschläge und Energieengpässe im Falle eines signifikanten Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage in den kommenden Monaten zu vermeiden, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten proaktiv für freiwillige Einschränkungen des Energiekonsums werben und generalstabsmäßig alle für das Energiesparen mobilisieren.

5. Auch langfristig – ab 2024 – wird die EU einen hauptsächlichen Fokus auf Energiesicherheit im weiteren Sinne legen müssen, der alle notwendigen Elemente zur beschleunigten Umsetzung des Überganges zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft beinhaltet. Ein ausreichendes Angebot an Rohstoffen und industriellen Vorprodukten, die Verfügbarkeit gut ausgebildeter Arbeitskräfte, und eine adäquate Energieinfrastruktur muss in ganz Europa sichergestellt werden.

  • Der Ausbau der erneuerbaren Energien und insbesondere der erneuerbaren Stromproduktion ist entscheidend, um den Anteil eingeführter fossiler Energieträger am europäischen Energiemix zu reduzieren, wodurch sich das Auslaufenlassen der Importe aus Russland vereinfacht. Ebenso bedeutend ist die Beschleunigung von Investitionen in die Energieeffizienz in allen Wirtschaftssektoren, insbesondere Verkehr und Gebäude. Diese Prioritäten werden auch im RePowerEU Plan der EU Kommission vom Mai 2022 hervorgehoben, der z.B. die Anhebung des Ausbauziels bei Erneuerbaren von 40 % auf 45% des Endverbrauchs vorschlägt. Der Plan hebt hervor, dass dies eine massive Anstrengung benötigt sowie einen sicheren Zugang zu ausreichend Rohstoffen und industriellen Vorprodukten.
  • In der neuen Weltordnung wird Energiesicherheit zu einer permanenten Sorge. Die EU wird sich nicht gänzlich auf friedvolle internationale Beziehungen und gut funktionierende globale Lieferketten für die Beschaffung von Rohstoffen und industriellen Vorprodukten verlassen können. Daher wird es von höchster Wichtigkeit sein, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die zugänglichen Rohstoffbestände von z.B. Kupfer, Lithium und Kobalt sowie die industriellen Fertigungskapazitäten und die Produktion von essentiellen Vorprodukten, wie z.B. Batterien, Elektrolyseure und Netzmaterialien (z.B. Kabel, Schalteinrichtungen und Transformatoren) genau beobachten. Über das reine Monitoring hinaus sollte die EU zusammen mit den Mitgliedstaaten den Aufbau kritischer Produktionsprozesse in der EU koordinieren (wie z.B. Batterien für Elektroautos oder essentielle Komponenten für Wärmepumpen und Netzwerktechnologien), um die Erreichung der europäischen Energieziele zu garantieren. Nichtsdestotrotz muss sich die EU bewusst sein, dass Probleme bei der Beschaffung von mineralischen Rohstoffen weitaus grösser sein werden als bislang angenommen. Die EU wird dafür kaum einfache Lösungen für dieses globale Problem finden. Es bedarf daher einer sehr viel besser informierten Strategie gepaart mit genügend finanzieller und politischer Schlagkraft, um die Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Gütern zu sichern.
  • Um den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu forcieren, muss die EU auch einen ausreichenden Pool von gut ausgebildeten Arbeitskräften schaffen, um hunderte GW Windkraft, Photovoltaik und Wärmepumpen zu installieren und zu warten. Die EU sollte dazu zusätzliche Maßnahmen fördern, unter anderem für gezielte handwerkliche Ausbildungsprogramme, für den rascheren Erfahrungsaustauch über die nationalen Grenzen hinweg und für eine vereinfachte Mobilität von Arbeitskräften innerhalb der EU.
  • Die Integration zusätzlicher Mengen and Erneuerbaren in den EU Energiemarkt benötigt ein Umdenken in der gegenwärtigen Planung und bei der Nutzung der Infrastruktur. Insbesondere Stromnetze müssen sowohl erweitert also auch besser vernetzt werden, um mit dem Ausbau intermittierender Wind- und Sonnenkraft Schritt halten zu können. Die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren ist notwendig, auch um bereits bestehende Engpässe zu beseitigen. Ein starker politischer Willen und ein zielgerichteter regulatorischer Rahmen sind für die bessere Vernetzung nationaler Netzwerke gleichermaßen wichtig. Sich ändernde Leistungs- und Produktionsprofile verlangen nach einem neuen Ansatz zum operationellen Betrieb des Gesamtsystems auf der Basis einer tiefgreifenden Digitalisierung der gesamten europäischen Energieinfrastruktur. Die Bereitstellung wirklicher smarter Netze ist von essentieller Bedeutung für eine effiziente und zeitnahe Transformation: dieser Prozess muss bis 2030 abgeschlossen sein.

6. In den kommenden Jahren muss die EU das Design des Strommarktes überarbeiten und die notwendigen Anpassungen vornehmen, um die beiden langfristigen Ziele hinsichtlich der Energiesicherheit und der Dekarbonisierung insbesondere durch die Elektrifizierung und die vollständige Integration der Energiesysteme zu erreichen. Die Einzelheiten dieser parallel ablaufenden Entwicklungen sind bislang noch nicht vollständig definiert.

  • Der bestehende Strommarkt in Europa hat bislang relativ gut funktioniert, insbesondere was die kurzfristige Allokation der Stromproduktion anbetrifft. Der beschleunigte Umbau zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft wird zu einer raschen Änderung des Energiemixes und der Elektrifizierung einer Vielzahl von Endnutzungen führen, die bislang durch andere Energieträger bedient wurden. Änderungen, die bislang erst zwischen 2035 und 2040 erwartet wurden, müssen stattdessen schon bis Ende dieser Dekade umgesetzt werden. Dies wird das gegenwärtige Design der europäischen Energiemärkte vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Die EU muss diese sorgfältig untersuchen, um sicherzustellen, dass nach dem Überkommen der aktuellen Schwierigkeiten trotzdem alle getätigten Investitionen für die zukunftsfähig sind. Dies muss in den kommenden Jahren passieren.
  • Ein zukunftssicheres Design des Strommarktes bedeutet zuallererst einen Markt zu schaffen, der Preissignale sendet, die einen ökonomisch effizienten Einsatz der bestehenden Ressourcen ermöglicht, nicht nur auf der Angebots- aber auch auf der Nachfrageseite. Elastische Nachfragereaktionen und der flexible Einsatz von Energiespeichern werden essentiell sein, um den intermittierenden Output von Wind und Strom zu integrieren: variable Spotpreise müssen die relative Verfügbarkeit bzw. Knappheit abbilden, damit Konsumenten ihre Nachfrage entsprechend flexibel anpassen können. Der Zustand des Stromnetzes und die Gefahr möglicher Überlastungen -dies wird wahrscheinlich ein häufiger Engpass in der Zukunft sowohl auf der lokalen Ebene wie auch der Ebene der Überleitung werden – müssen dabei angemessen berücksichtigt werden. Dies bedeutet weiterhin von den kurzfristigen marginalen Preisen Gebrauch zu machen, allerdings gepaart mit einer (schrittweisen) Verlagerung von zonalen zu nodalen Preisen, die stark aufgelöste Preissignale für Stromproduzenten und Verbraucher setzen können. Darüber hinaus muss sich die EU für ein wirklich pan-europäisches Stromnetz einsetzen, das den gesamten Kontinent umfasst, und welches deutlich weiter geht als die bilateralen Bedürfnisse für eine bessere Vernetzung.
  • Ein zukunftssicherer Strommarkt muss nichtsdestotrotz auch die Verbraucher vor höheren Preisschwankungen schützen, welches ein Strommarkt mit einem massiven Anteil erneuerbarer Energien mit sich bringen wird. Eine neue Politik des ‘flexiblen Schutzes’ muss definiert und umgesetzt werden.
  • Ein zukunftssicherer Strommarkt muss auch ein effizientes langfristiges Preissignal aussenden, um Produzenten und Verbraucher anzureizen, am richtigen Ort in neue Kapazitäten, verbesserte Flexibilität und elastischere Nachfragereaktionen zu investieren. Die derzeit begrenzte Fähigkeit von kurzfristigen Großhandelsmärkten solche langfristigen Signale zu senden legt nahe, dass gezielte Instrumente, wie z.B. langfristige Verträge zum Kauf von Strom (PPAs), entweder durch private Investoren oder durch öffentliche Ausschreibungen, künftig eine wichtige Rolle spielen werden. Dabei muss deren Wechselwirkung mit den heutigen Forward- und Spotmärkten sorgfältig analysiert werden und koordiniert umgesetzt werden. Am Ende wird eine Art Hybrid-Markt entstehen, in welchem privatwirtschaftliche Investitionen im Rahmen einer öffentlichen Systemplanung geleitet werden.
  • Schließlich bedeutet ein zukunftssicherer Strommarkt, dass die Marktarchitektur die vielfältigen neuen Chancen, die sich auf lokaler Ebene bieten, kombiniert und die unterschiedlichen Energiequellen, -formen und -nutzungen einander ergänzen. Lokale Märkte zum Handel von Energie und Flexibilität müssen zentrale Bestandteile des Marktdesigns werden, welches die unterschiedlichen Ebenen miteinander verbinden muss. In Anbetracht der Vielfalt der lokalen Bedingungen gibt es vermutlich nicht den einen einzigen optimalen Weg, um die unterschiedlichen Märkte zu organisieren. Daher ist das Experimentieren mit neuen Lösungen willkommen, denn die nordischen Länder und Bezirke haben nicht denselben Bedarf, die Ressourcen oder Optionen wie Bezirke in Griechenland, Spanien oder Portugal. Diesbezüglich bleiben derzeit noch viele Fragen dazu offen, wie lokale Systeme am besten mit großen zentral organisierten Märkten und Systemoperatoren interagieren können.

III. Die „neue Weltordnung“: Welche Entscheidungsprozesse und Governance sind zielführend?

7. Die EU muss einen langfristigen kollaborativen Prozess etablieren, um ihren strategischen Fahrplan für Energie- und Klimapolitik an die neuen Realitäten der Geopolitik anzupassen.

  • Der Einmarsch in die Ukraine und die Eskalation der Energiekrise haben den Fokus der Politiker in Europa und in den Mitgliedstaaten auf die neuen kurzfristigen politischen Prioritäten und -strategien gelegt, wie z.B. das Abfedern der Auswirkungen steigender Energiepreise auf die Verbraucher und die Suche nach alternativen Anbietern von Erdgas. Die Umsetzung der Politiken und Strategien, die vor dem Ausbruch des Krieges beschlossen wurden, mag 2022/2023 nicht mehr angemessen oder nicht mehr möglich erscheinen. Trotzdem dürfen die gegenwärtigen Notfallstrategien und -prioritäten nicht die wichtigen Errungenschaften der Vergangenheit aushebeln, wie z.B. den funktionierenden Energiemarkt, oder die Erreichung langfristiger Ziele wie der Klimaneutralität über zunehmend nachhaltige Entwicklungspfade.
  • Die gegenwärtige Krise hat nichtsdestotrotz tiefgreifende und langanhaltende Wirkungen, die über den kurzfristigen Zeithorizont weit hinausgehen und nach einer Redefinition der EU Strategien und Prioritäten bis 2030 verlangen. Der gegenwärtige Politikrahmen geht auf den Beschluss des ‘Clean Energy Package’ im Jahre 2018-19 zurück wie auch die detaillierten Vorschläge im Rahmen des ‘Fit for 55’ Pakets vom Juli 2021. Letztere müssen, so wie es die RePoweEU Vorschläge vom Mai 2022 vorsehen, in den kommenden Monaten angepasst werden. Die Energiesicherheit der EU wird als politische Priorität nicht nach 2023 verschwinden. Ganz im Gegenteil, Energiesicherheit wird über die traditionellen Sorgen bezüglich des Imports fossiler Energieträger, die Europa auch noch im Jahre 2030 nutzen wird, hinausgehen und zudem die erfolgreiche Umsetzung der Investitionen in Erneuerbare und Energieeffizienz, sowie das Angebot von Rohstoffen und industriellen Vorprodukten, gut ausgebildete Beschäftigte und eine adäquate Infrastruktur beinhalten. All dies wird sich in einer erneuerten EU Strategie und Prioritäten bis 2030 und danach niederschlagen müssen.
  • Wenn man berücksichtigt, wie lange es brauchen wird, um eine umfassende Analyse zu erstellen, wo die EU derzeit steht und was zu tun ist, diese mit allen Beteiligten zu diskutieren, alternative Reformoptionen auf technischer und politischer Ebene zu formulieren, diese zu beraten und zu beschließen und hernach umzusetzen, etc. dann wird man damit sofort anfangen müssen, damit es überhaupt möglich sein wird, noch etwas bis 2030 zu verändern.
  • Sobald die akute Phase der gegenwärtigen Krise vorüber ist – spät im Jahre 2023 oder im Frühjahr 2024 – werden die EU und ihre Mitgliedstaaten sich eingehend damit befassen müssen, was in der Dekade bis 2040 zu erreicht werden muss. Diese Vision muss schnell in einen konkreten Fahrplan umgesetzt werden, der die 2030 Strategie konsistent weiterführt. Sie muss alle wichtigen sauberen Technologien berücksichtigen, wie Grünen Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe und Biomethan, welche nach 2030 in vielen industriellen Sektoren eingeführt werden müssen, wenn es auch derzeit noch schwierig ist, deren genaues Potential und zukünftige Rolle vollständig zu erfassen. In einem solchen Fahrplan wird Energiesicherheit im weiteren Sinne mit an oberster Stelle stehen, um die Versorgung mit neuen Energiequellen sicherzustellen, nicht nur für den Straßenverkehr und den Straßenverkehr aber auch für die Schifffahrt, den Luftverkehr und alle Industriesektoren.

8. Daher muss die EU ein neues Mehrebenen Governance-System entwickeln, welches fähig ist, viele Entscheidungsebenen und Energieträger in einem hochintegrierten Energiesystem zusammenzubringen.

  • Das existierende Governance-System spiegelt im Großen und Ganzen die traditionellen unterschiedlichen Energieträger wie Strom, Erdgas, etc. ab sowie die verschiedenen nationalen Systeme. Während in den vergangenen Jahren die nationalen Sichtweisen schwächer geworden sind, z.B. durch die Bildung der ENTSOs und von ACER für Strom und Gas, sind die ‚Silos‘ der Energieträger immer noch sehr stark geblieben.
  • In den kommenden Jahren muss sich die europäische Energie-Governance In Richtung auf eine Koordination verschiedener Energieträger und ihrer Integration entwickeln, welches Entscheidungsfindungen auf verschiedenen Ebenen ermöglicht (i.e. europäisch, regional, national und lokal). Die Zukunft wird eine stärker dezentrales Energiesystem mit sich bringen und daher müssen verteilte Entscheidungsfindungsprozesse mit in den Politikrahmen aufgenommen werden, um Europa bis 2040 und 2050 zu dekarbonisieren. Innerhalb dieses größeren Rahmens werden mehr Entscheidungen nach lokalen Bedingungen und Szenarios getroffen werden wie z.B. lokale Stromerzeugung, Speicher und Nachfrage, dynamische Energiekommunen, regionale Offshore Hubs wie auch Onshore Korridore.
  • In diesem Zusammenhang muss die EU lernen, Entscheidungen an relevante Entscheidungsträger zu delegieren (wie z.B. Zugang zu kritischen Rohstoffen, industriellen Vorprodukten oder die Schaffung von Fertigungskapazitäten an die jeweils handelnden Akteure; Märkte, Netze und Energieträger an unabhängige Regulierungsbehörden).

Danksagung

Die Autoren danken den vielen Experten, die zu den Workshops beigetragen haben. Wie auch der European Climate Foundation (ECF) für die finanzielle Unterstützung und Sofia Nicolai für die ausgiebige Unterstützung während der Forschungsphase. Die Ansichten des Manifests geben nicht unbedingt die persönlichen oder professionellen Meinungen der Experten wieder oder der ECF. Jegliche Verantwortung verbleibt bei den Zeichnenden des Manifests.

Die folgenden 27 Experten wurden während des Projektes zu Rate gezogen: Julian Barquin, Christophe Béguinet, Torben Brabo, Thierry Bros, Xavier Casals, Marine Cornellis, Patrik Criqui, Monika De Volder, Edwin Edelenbos, Ottmar Edenhofer, Natalia Fabra, Michele Governatori, Michael Grubb, Bente Hagem, Marshall Hall, Mallika Ishwaran, Péter Kaderják, Mark McGranaghan, Jean Pisani-Ferry, Alberto Pototschnig, Erik Rakhou, Fabien Roques, Laurent Schmitt, Manuel Villavicencio, Peter Vis, Brent Wanner, Georg Zachmann.

 

Von

Laurence Tubiana – European Climate Foundation

Jean-Michel Glachant – Florence School of Regulation (EUI)

Thorsten Beck – Florence School of Banking (EUI)

Ronnie Belmans – KU Leuven and EnergyVille

Michel Colombier – IDDRI

Leigh Hancher – University of Tilburg, University of Bergen and Florence School of Regulation (EUI)

Andris Piebalgs – Florence School of Regulation (EUI)

Nicolò Rossetto – Florence School of Regulation (EUI)

Andreas Rüdinger – IDDRI

Artur Runge-Metzger