Haben wir ein Stromproblem und was sind die Lösungen?

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1. Stromkostenproblem

Deutschland habe ein „Wärmeproblem, kein Stromproblem.“[1] Diese Botschaft von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, seitdem in unterschiedlichen Variationen wiederholt und von anderen Politiker:innen und Meinungsmacher:innen aufgegriffen, wird kontrovers diskutiert, zumal die Bundesregierung selbst wenige Tage nach dieser Aussage einen zweiten Stresstest für die Stromversorgung im Winter 2022/23 angekündigt hat.

Gleichzeitig erreichen die Preise an den Strommärkten neue Höchststände. Am 15.08.2022 wird an der Terminbörse EEX ein Stromkontrakt für eine Bandlieferung für das Lieferjahr 2023 für einen Preis von knapp 480 €/MWh gehandelt. Vor genau einem Jahr konnte man den gleichen Kontrakt noch für 70 €/MWh erwerben. Haushaltsstrompreise bei Neuverträgen werden bei diesen Terminmarktpreisen in absehbarer Zeit auf Preise von ca. 70 ct/kWh steigen und sich damit gegenüber dem Vorkrisenniveau mehr als verdoppeln.

Haben wir also doch ein „Stromproblem“? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, zwischen den Kosten der Versorgung mit Strom für Verbraucher einerseits und der systemischen Frage der Funktionalität der Strommärkte und der physischen Sicherheit der Versorgung andererseits zu unterscheiden.

Die oben genannten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Auch wenn aufgrund bestehender langfristiger Lieferverträge die Kostensteigerungen zu großen Teilen noch gar nicht bei den Verbrauchern angekommen sind: Die Strompreise werden absehbar ein Niveau erreichen, das für industrielle wie private Verbraucher gleichermaßen schmerzhaft ist. Wir haben somit ohne Frage ein sozial- und industriepolitisch relevantes Stromkostenproblem.

2. Risiken der Versorgungssicherheit

Ob wir auch auf Systemebene ein Problem haben, ist deutlich weniger eindeutig. Bisher gibt es keine Evidenz für ein Versagen der europaweit eng gekoppelten Strommärkte. Die hohen Preise sind rational aus den Preisen am Gasmarkt und den variablen Produktionskosten von preissetzenden Gaskraftwerken erklärbar. Auch gibt es trotz vielstimmiger Kritik an der grenzkostenbasierten Preisbildung keine theoretisch überzeugende bessere Form der Bepreisung. Der Ausblick auf die physische Versorgungssicherheit im kommenden Winter ist allerdings nicht völlig ungetrübt. Klar ist: Ohne zumindest zeitweise auf die Stromerzeugung aus Gaskraftwerken zurückgreifen zu können, kann in laststarken Zeiten die Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland nicht aufrechterhalten werden.

Aber – so sehr es geboten ist, die Gasverstromung so weit wie möglich zurückzufahren – es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass zumindest Kraftwerke der öffentlichen Versorgung bei einer Gas-Rationierung wenigstens auf die zur Aufrechterhaltung der Stromversorgungssicherheit nötigen Gasmengen zugreifen können. Allerdings ist die Gaskrise nicht die einzige für die Versorgungssicherheit im Stromsektor relevante krisenhafte Entwicklung. Mindestens drei andere Aspekte liefern Grund zur Sorge.

  • In Frankreich ist aktuell nur ca. 50% der installierten Leistung der Atomkraftwerke einsatzbereit. Ob Frankreich, wo viele Heizungssysteme mit Strom funktionieren, in einer Kälteperiode im kommenden Winter die Nachfrage vollständig decken kann, wird wesentlich davon abhängen, wie viele der aktuell abgeschalteten Atomkraftwerke bis dahin ins System zurückgekehrt sind. Zumindest die Akteure am Strommarkt haben ausweislich der Terminpreise für Spitzenlaststrom in Frankreich im Winter 2022/23 Zweifel, ob ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage ohne einen Verbrauchsverzicht der Nachfrageseite möglich sein wird. Das hat auch Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. Während Frankreich in der Vergangenheit typischerweise ein großer Stromexporteur war, wird es während weiter Teile des kommenden Winters sehr viel Strom importieren müssen. Dementsprechend mehr Erzeugungseinheiten müssen in den Nachbarstaaten bereitstehen, um diese zusätzliche Nachfrage zu decken.
  • Auch in Deutschland könnte die Stromnachfrage im kommenden Winter höher liegen als üblich. Denn angesichts einer befürchteten physischen Gasknappheit haben viele Haushalte strombasierte Heizgeräte wie Heizlüfter und Radiatoren beschafft. Sollten diese Geräte tatsächlich zum Einsatz kommen, würde sich die Spitzenlast deutlich[2] und schwer prognostizierbar über das in vergangenen Betrachtungen zur Versorgungssicherheit erwartete Maß hinaus erhöhen.
  • Schließlich wird die aktuelle Hitzewelle und Dürre in weiten Teilen Europas Auswirkungen auf die Stromversorgung auch im kommenden Winter haben. Selbst wenn Probleme mit dem Brennstofftransport über Binnenwasserstraßen bis dahin ausgeräumt sind, weisen die großen hydraulischen Speicher im Alpenraum und in (Süd-)Skandinavien einen für die Jahreszeit untypisch niedrigen Füllstand auf und werden im kommenden Winter vermutlich weniger Strom produzieren können als üblich. In Norwegen werden deshalb bereits Beschränkungen für den Stromexport nach Resteuropa diskutiert.[3]

Alle diese Gründe können dazu führen, dass in Deutschland mehr Erzeugungsleistung als in der Vergangenheit benötigt wird. Das wird keinesfalls zwangsläufig dazu führen, dass im kommenden Winter die physische Sicherheit der Versorgung mit Strom in Deutschland nicht mehr aufrechterhalten werden kann und Verbraucher unfreiwillig vom Stromnetz getrennt werden müssen. Vielmehr spricht manches dafür, dass die diskutierten Probleme zumindest bei einem eher warmen Winter beherrschbar bleiben. Gleichzeitig sind relevante Risiken für die Versorgungssicherheit bei einer ungünstigen Entwicklung der äußeren Randbedingungen, z. B. einem kalten Winter mit einer weiterhin hohen Nichtverfügbarkeit der französischen AKW, aber nicht auszuschließen und deutlich höher als in vergangenen Wintern.

Noch ist unser Stromproblem also i. W. beschränkt auf die durch die Gaskrise verursachten Kostensteigerungen. Dennoch sollte aus einer Risikovorsorgeperspektive alles dafür getan werden, eine Ausweitung zu einem Versorgungssicherheitsproblem zu verhindern. Gerade Deutschland, das bei der Gasversorgung auf die Solidarität anderer EU-Mitgliedsstaaten angewiesen sein könnte, sollte dabei die Lage nicht nur aus deutscher, sondern aus europäischer Perspektive beurteilen.

3. Risikovorsorge und Kostenkompensation

Eine der wichtigsten Maßnahmen, um die Versorgungssicherheit trotz der angespannten Lage sicherstellen zu können, ist Zurückhaltung bei Eingriffen in die Stromgroßhandelsmärkte. In Deutschland und noch mehr in anderen europäischen Ländern werden die Rufe nach einem solchen Eingriff in das – über 20 Jahre kontinuierlich weiterentwickelte – Strommarktdesign lauter. Dabei sind sich fast alle Experten einig, dass der europäische Strommarkt sehr effizient darin ist, knappe Ressourcen ihrer wertvollsten Verwendung zuzuführen und Strom dort bereitzustellen, wo er am dringendsten benötigt wird. Kurzfristige, übereilte Eingriffe in das Design der europäischen Großhandelsmärkte könnten zu unbeabsichtigten negativen Konsequenzen führen, die von einem Anstieg des Gasverbrauchs in der Verstromung bis hin zu Versorgungssicherheitsproblemen reichen.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Maximierung der verfügbaren Stromerzeugungskapazitäten. Dadurch wird nicht nur das Risiko physischer Versorgungssicherheitsprobleme und unfreiwilliger Abschaltungen verringert. Zusätzliche nicht-gasbasierte Erzeugungskapazitäten verringern auch den notwendigen Gaseinsatz in der Verstromung und begrenzen die Anzahl der Stunden, in denen Gaskraftwerke die Grenzerzeugungstechnologie sind, und damit den Strompreis. Neben der offensichtlichen Option eines Streckbetriebs der verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke sollten auch die Marktrückkehr der Kohlekraftwerke beschleunigt sowie regulatorische Hürden für Betrieb oder Zubau von anderen, insbesondere erneuerbaren Erzeugungstechnologien abgebaut werden. Beim aktuellen Terminmarktpreisniveau verdient eine in den nächsten Monaten errichtete Photovoltaikanlage ihre Investitionskosten innerhalb der ersten zwei Betriebsjahre.

Schließlich gilt es Verbraucher von Strom- (und mehr noch von Gas-)Kostenanstiegen zu entlasten, ohne dabei die Anreize für einen effizienten Umgang mit Energie zu untergraben. Dafür böte sich bei privaten Endverbrauchern z. B. ein Modell an, das für ein definiertes Kontingent (z. B. 50% des Durchschnittsverbrauchs) die durchschnittliche krisenbedingte Energiepreissteigerung über die Abrechnung mit dem Energieversorger ausgleicht, ohne direkt in die Endverbraucherstrompreise einzugreifen.[4] Speziell mit Blick auf die möglichen Folgen des Heizens mit Strom sollte jedenfalls darauf geachtet werden, dass Strompreise nicht unterhalb von Gaspreisen zu liegen kommen. Ergänzend sollte politisch klargestellt werden, dass private Endverbraucher nicht befürchten müssen, physisch von der Gasversorgung abgeschnitten zu werden und dass ein Umstieg auf Direktstromheizungen auch wirtschaftlich unsinnig bleiben wird. Damit könnten Verbraucher von – weitgehend sinnlosen – Investitionen in elektrische Heizgeräte abgehalten und das Risiko ungewollter Steigerungen der Stromnachfrage begrenzt werden.

 

Anmerkungen:

[1] Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/robert-habeck-zur-energie-debatte-atomkraft-hilft-nicht-18167118.html

[2] So wäre z. B. an den für die Versorgungssicherheit besonders kritischen kalten Winterabenden mit einer hohen Gleichzeitigkeit der Nutzung zu rechnen.

[3] Vgl. https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-08-08/norway-must-follow-eu-rules-if-cutting-power-exports-lobby-says

[4] Dieses Modell ähnelt der von Dullien/Weber vorgeschlagenen Maßnahme zur Entlastung der Haushalte von Steigerungen bei den Gaspreisen (vgl. https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/8/beitrag/hoechste-zeit-fuer-einen-gaspreisdeckel-ein-wichtiges-instrument-im-kampf-gegen-energiepreisbelastung.html) Gerade auch mit Blick auf die verhaltensökonomischen Wirkungen hält der Autor es jedoch für wichtig, herauszustellen, dass es sich hier wie dort um einen partiellen Ausgleich von Kostensteigerungen und eben nicht um einen Preisdeckel handelt.

 

Dr. Christoph Maurer