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Die Bundesnetzagentur und der drohende Krisenfall. Von Klaus Müller

Mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stellte sich unmittelbar auch die Frage nach der Versorgungssicherheit in Deutschland. Deshalb hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz am 23. Juni 2022 die Alarmstufe nach dem Notfallplan Gas ausgerufen. Sie ist die zweite Stufe nach der Frühwarnstufe. Ein Krisenteam Gas, zusammengesetzt aus Fachleuten aus Politik, Bund, Ländern und Industrie, ist bereits im März zusammengetreten. Seitdem veröffentlicht die Bundesnetzagentur einen täglichen Lagebericht zur Gasversorgung und zum Füllstand der Gasspeicher. Zusätzlich erweitern wir fortlaufend die Informationen zum Stand der Krisenvorbereitungen. All dies fällt in den Bereich der Vorsorge.

Die Alarmstufe wurde nötig, weil Russland die Gaslieferungen vertragswidrig reduziert hat. Die Versorgung ist seitdem gestört, Gas ein „knappes Gut“, wie es Wirtschaftsminister Habeck formulierte.
Nun gilt es, angesichts der bevorstehenden Heizperiode, alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Notfall zu verhindern. Diese letzte Stufe unterscheidet sich vor allem in einem von den anderen beiden: Können die Marktakteure fehlende Gasmengen jetzt nicht in Eigenregie beschaffen, muss der Staat in der Notfallstufe eingreifen.

Die Bundesnetzagentur übernimmt in diesem Fall nach Beschluss des Kabinetts die Funktion des sogenannten Bundeslastverteilers. Das ist im Energiesicherungsgesetz (EnSiG) geregelt. Ihr obliegt dann, in enger Abstimmung mit den Netzbetreibern Maßnahmen zur Sicherstellung des lebenswichtigen Gasbedarfs anzuweisen. Sie kann zum Beispiel verfügen, Bedarfe zu reduzieren. Dabei sind bestimmte Verbrauchergruppen gesetzlich besonders geschützt, das heißt, sie bekommen prioritär Gas. Zu diesen geschützten Verbrauchern gehören soziale Einrichtungen wie zum Beispiel etwa Krankenhäuser und Haushalte. Gaskraftwerke, die zugleich auch der Wärmeversorgung von Haushalten dienen, haben einen vergleichbaren Status. In der Bundesnetzagentur laufen alle erforderlichen Vorbereitungen. Sie ist auf ihre Pflichten in der Notfallstufe vorbereitet.

Die Sicherheitsplattform Gas steht bald bereit

Eine Mangellage erfordert schwierige Entscheidungen. Sie erfolgen immer vor dem Hintergrund der dann geltenden Umstände und hängen von vielen Parametern ab. Daher bereitet die Bundesnetzagentur keine abstrakte Abschaltreihenfolge vor. Der wiederholt vorgetragene Wunsch der potenziell betroffenen Unternehmen danach ist natürlich nachvollziehbar. Schließlich wünschen sie sich Planungssicherheit. Gleichwohl wird eine abstrakte Regelung der Komplexität des Entscheidungsprozesses nicht gerecht. Sie ist auch nicht geeignet, im Vorfeld tragfähige Lösungen herbeizuführen. Vielmehr müssen Entscheidung mit Blick auf Belange und Bedeutung der betroffenen Akteure, die gesamtwirtschaftliche, ökologische und soziale Wirkung getroffen werden. Auch die netztechnische Situation und die bestehenden Gasflüsse dürfen wir in einer Gesamtabwägung nicht aus dem Blick verlieren.

Um diese Entscheidungen vorzubereiten, holt die Bundesnetzagentur aktuell von großen Gasletztverbrauchern in Deutschland umfassende Informationen ein. Sie beinhalten deren Anschluss- und Verbrauchssituation sowie die unmittelbaren Folgen einer Gasbezugsreduktion. Zusätzlich laufen weitere Analysen. Ziel ist, die Folgen einer kurzfristigen Einstellung oder Reduzierung der Gasversorgung bei den betroffenen Unternehmen und in den jeweiligen Gasnetzen besser einschätzen und abwägen zu können. Die Informationen werden absehbar in Abstimmung mit den Netzbetreibern in eine IT-basierte Sicherheitsplattform Gas überführt. Diese soll jederzeitig Aktualität bieten. Außerdem ermöglicht sie eine einfachere Verknüpfung der für eine Entscheidung im konkreten Einzelfall relevanten Informationen. Ab dem 1. Oktober können wir auf die Plattform zugreifen.

Gute Entscheidungen wird es nicht geben

Die Bundesnetzagentur ist sich der erheblichen Folgen einer Gasmangellage sehr bewusst. In einer Notfallstufe gibt es keine guten Entscheidungen. Ziel kann es nur sein, die insgesamt am wenigsten schlechte Entscheidung zu treffen. Schäden werden im Einzelfall in einer Notfallstufe höchstens zu begrenzen sein. Deswegen unterstützt die Bundesnetzagentur alle Anstrengungen der Bundesregierung, eine erhebliche Verschlechterung der Gasversorgung zu vermeiden.

Die aktuelle Lage lässt ein wenig Zuversicht zu. Mitte August waren die Erdgasspeicher zu 75 Prozent gefüllt. Damit haben wir das erste Zwischenziel mehr als zwei Wochen vor der Zeit erreicht – und das, obwohl Russland die Lieferungen um 80 Prozent reduziert hat. Jetzt dürfen wir nicht nachlassen. Um im kommenden Winter die Versorgung sicherzustellen, braucht es jedoch weitere Maßnahmen. Dabei gilt: Je mehr Gas bis zum und im Winter verbraucht wird, desto schwieriger kann die Lage werden.

Deshalb ist es wichtig, jetzt die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um so viel Energie wie möglich einzusparen. Gleichzeitig setzt die Bundesregierung alles daran, Gas aus anderen Quellen zu beschaffen. Ende des Jahres werden zwei schwimmende LNG-Terminals in Betrieb gehen, in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Wir rechnen im kommenden Jahr mit einer Kapazität von 13 Milliarden Kubikmetern Erdgas aus den neuen Terminals. Das wird uns sehr helfen. Hier ist es wichtig, denkbare Hemmnisse für einen schnellen Aufbau einer LNG-Infrastruktur in Deutschland abzubauen. Deshalb hat die Bundesnetzagentur einen Rabatt in Höhe von 40 Prozent an Einspeisepunkten aus LNG-Anlagen festgelegt. Er gilt ab 2023. Auch diese Maßnahme erhöht die Versorgungssicherheit. Mit dem Rabatt legen wir angemessene Entgelte an Einspeisepunkten aus LNG-Anlagen fest, ohne dabei die Interessen der übrigen Netznutzer aus dem Blick zu verlieren.

Im Notfall müssen auch Öl- und Kohlekraftwerke wieder ans Netz gehen. Im Augenblick hat die Versorgung der Industrie und der privaten Haushalte mit Gas oberste Priorität. Es gilt, eine große Wirtschaftskrise abzuwenden und das Land funktionsfähig zu halten. Deshalb sind wir gezwungen, auf fossile Energieträger zurückzugreifen. Das wirft uns auf unserem Weg zum Klimaziel zurück. Nicht nur aus meiner Sicht ist das schmerzhaft – hat doch dieser Sommer gezeigt, wie einschneidend die Folgen der Klimakrise bereits sind.

Das eigene Handeln nachvollziehbar machen

Ich betrachte aber diese Maßnahmen als einen Umweg. Wir dürfen über die derzeitige Krise den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht aus den Augen verlieren. Wir arbeiten parallel daran und beschleunigen sogar noch den Ausbau der Erneuerbaren und der Netze. Außerdem arbeiten wir an Plänen, die nun notwendige neue Gasinfrastruktur zu einer Wasserstoffinfrastruktur umzurüsten. Das Ziel bleibt weiterhin, die CO2-Emissionen zu reduzieren und die Klimakrise abzuschwächen.

Ein letzter Punkt ist mir noch wichtig: Ich sehe als eine unserer wichtigsten Aufgaben an, die Öffentlichkeit in klarer und verständlicher Weise zu informieren. Die Zeiten sind angespannt. Viele leiden unter der Inflation; die deutlich erhöhten Gaspreise sind für Kundinnen und Kunden ein gravierendes Problem. Nicht alle verstehen, warum die Gasumlage nötig ist, mit der ja noch mehr Kosten auf die Menschen zukommen. Dazu gesellt sich die Sorge, dass das eigene Wohnzimmer im Winter kalt bleibt. Wir dürfen nicht müde werden, unser Handeln zu erklären. Was ist das Ziel? Welche Wege führen dorthin? Und welche Opfer müssen wir bringen? Ich persönlich glaube, dass wir es schaffen können, den Notfall abzuwenden. Doch dafür brauchen wir die Unterstützung der Industrie und der Menschen im Land.

 

Klaus Müller