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Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben die Energiepreise für Gas und Strom neue Rekordwerte erreicht. Für den Winter ist aufgrund der neuen Gasumlage und eines steigenden Gasverbrauchs während der Heizperiode mit weiteren Preisanstiegen zu rechnen – zum Leidwesen der Verbraucher.

Wie kaum eine andere Branche in Deutschland ist die chemisch-pharmazeutische Industrie als größter Gasverbraucher Deutschlands (15 Prozent Anteil am Gesamtverbrauch) von der aktuellen Situation betroffen. Gas ist für die Chemie essenziell und kann trotz größter Bemühungen der Unternehmen kurzfristig nur in geringem Maße durch andere Brennstoffe ersetzt werden. Als Energieträger hat der Sektor in den letzten Jahrzehnten aus Klimaschutzgründen auf Gas als Brücke in die Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts gesetzt. Außerdem ist die Chemie die einzige Branche, die Erdgas auch direkt als Rohstoff zur Herstellung vieler tausender Chemikalien einsetzt. Diese sind wiederum extrem wichtig für alle nachfolgenden Produktionsketten in fast allen Branchen und machen die chemische Industrie zum Herz des Industriestandorts Deutschland.

Kurzfristige Krisenbewältigung

Kurzfristig ist die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit und die Vermeidung einer Gasmangellage über den Winter essenziell. Dazu müssen einerseits die Gaslieferquellen weiter diversifiziert werden. Die Gasspeicher müssen schnell befüllt werden, um den höheren Verbrauch im Winter zu kompensieren. Andererseits ist die schnelle Umsetzung von Sofortmaßnahmen nötig, mit denen der Gasverbrauch effektiv gesenkt beziehungsweise dessen weiterer Anstieg verhindert werden kann. Das Vorgehen der Bundesregierung ist hierbei insgesamt zu begrüßen – wenn auch eine frühere Umsetzung einiger Maßnahmen schon im Sommer zu einer Entlastung hätte beitragen können.

So läuft die Wiederinbetriebnahme der Kohlereserve gerade erst an und hat bisher noch zu keiner signifikanten Reduktion der Gasverstromung geführt, die im Juli noch bei fast 4 Terawattstunden lag. Das angekündigte Gasauktionsmodell für die Industrie wird durch den Start im Herbst zwar zur Stabilisierung der Netze, aber nicht zur frühzeitigen Speicherbefüllung beitragen können. Einen wichtigen Beitrag zur Reduktion des Gasverbrauchs kann die Industrie durch Brennstoffwechsel leisten, wo dies möglich ist. Etwa, weil noch alte Ölkessel oder kohlebefeuerte Anlagen vorhanden sind. Allerdings ist aufgrund der nötigen Vorlaufzeiten und Genehmigungsprozesse erst in den nächsten Monaten mit einem spürbaren Effekt zu rechnen.

Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Chemie erhalten

Die energieintensive Industrie hat aufgrund der hohen Energiepreise eine Belastungsgrenze erreicht. Die neue Gasumlage im Herbst ist zwar zur Stabilisierung der Gaslieferkette notwendig. Jedoch drohen der chemischen Industrie durch die rein nationale Regelung gravierende Wettbewerbsnachteile gegenüber Konkurrenten – sowohl innerhalb der EU als auch auf dem Weltmarkt. Diese Marktanteile drohen ohne Entlastung dauerhaft verloren zu gehen. Schon heute liegen die europäischen Strom- und Gaspreise um ein Vielfaches höher als in den USA.

Die geplante Umlage in Höhe von 24,19 Euro pro Megawattstunde liegt bereits über dem Gaspreis, der noch vor gut einem Jahr gezahlt wurde und aktuell auf rund 200 Euro pro Megawattstunde gestiegen ist. Die Umlage führt voraussichtlich zu direkten Mehrkosten für die Branche von über 3 Milliarden Euro. Der preissteigernde Effekt auf die Strompreise sowie die Kosten anderer Sekundärenergien sind hierbei noch nicht eingerechnet. Es sollten daher dringend Entlastungen auf den Weg gebracht werden, um zu verhindern, dass sich das Insolvenzrisiko lediglich von den Gasimporteuren hin zur Industrie verlagert.

Die Gasumlage sollte daher durch Zuschüsse aus Haushaltsmitteln möglichst gering gehalten werden. Sie kann etwa durch Mehreinnahmen aus der Umsatzsteuer, die aufgrund der hohen Energiepreise entstehen, gegenfinanziert werden – ohne zusätzliche Belastung für Privatverbraucher. Außerdem sollte die Umlage über einen möglichst langen Zeitraum gestreckt werden, um eine kurzfristige Überforderung von Industrie und Verbraucherinnen und Verbrauchern zu vermeiden.

Grüne Transformation mit wettbewerbsfähiger und sicherer Versorgung

Unabhängig von der aktuellen Gaskrise muss der langfristige Verlust der Wettbewerbsfähigkeit aufgrund hoher Energiekosten auch im Interesse des Klimaschutzes verhindert werden. Die chemisch-pharmazeutische Industrie unterstützt das Ziel, die Energieversorgung klimaverträglich, sicher und bezahlbar zu gestalten. Die Branche leistet ihren Beitrag zur Treibhausgasreduktion und hat 2019 in einer Studie aufgezeigt, wie die deutsche Chemie Treibhausgasneutralität bis 2050 technologisch erreichen kann. Dafür benötigt sie mehr als 500 Terawattstunden erneuerbaren Strom zum Preis von 4 Cent pro Kilowattstunde.

Während die Gasversorgung kurzfristig Priorität hat, wird Strom in Zukunft immer wichtiger – zum Beispiel für die Elektrifizierung industrieller Prozesse. Technologien, die weniger CO₂ ausstoßen, werden sich nur durchsetzen, wenn langfristig wettbewerbsfähige Preise für den benötigten Strom garantiert sind. Viele energiepolitische Regelungen erhöhen die Kosten für die Industrie jedoch zusätzlich. Das hemmt Fortschritte auf dem Weg zu mehr Klimaschutz, da emissionsarme Verfahren nur mit günstigen Strompreisen möglich werden. Daher ist die Abschaffung der EEG-Umlage sehr zu begrüßen. Allerdings bestehen neben den steigenden Beschaffungskosten weitere Belastungen, insbesondere durch eine weit über dem EU-Mindeststeuersatz liegende Stromsteuer sowie durch die weiterhin bestehenden Umlagen für Kraft-Wärme-Kopplung und Wind-Offshore. Die dazugehörigen Entlastungsregelungen sind zwar grundsätzlich zu befürworten, verursachen aber hohen bürokratischen Aufwand und damit erneut Kosten. Es fehlen außerdem wirksame Impulse zur Kostenbegrenzung bei der Marktintegration der erneuerbaren Energien.

Die Transformation hin zur Treibhausgasneutralität kann nur gelingen, wenn die Versorgungssicherheit für Strom und Gas gewährleistet ist, die Kosten durch Umlagen und Steuern auf Energie auf ein Minimum reduziert werden und der Ausbau der erneuerbaren Energien so kosteneffizient wie möglich gestaltet wird und wettbewerbsfähige Energiepreise – etwa über einen Industriestrompreis – dauerhaft gewährleistet sind.

 

Heinrich Nachtsheim, Referent Energiepolitik im Verband der Chemischen Industrie