©
iStock bluejayphoto

 

 

„Eine der besten Ideen, die wir hatten“. Es ist selten, dass sich ein deutscher Bundeskanzler ganz konkret zum ÖPNV äußert. Wenn Olaf Scholz dann auch noch eine Richtung vorgibt und seine Zuversicht für eine Nachfolgeregelung kundtut, muss sich etwas verändert haben im Land – und möglicherweise haben wir schon bald eines der sichtbarsten zivilen Beispiele für eine Folge der ausgerufenen „Zeitenwende“. Die Zeit ist reif für ein bundesweites Klimaticket für den ÖPNV.

Mobilitäts-Experiment ohne Beispiel

Morgen ist der letzte Tag des 9-Euro-Tickets. Damit gehen auch drei Monate nationale und internationale Berichterstattung über ein in dieser Form nie dagewesenes Experiment am Mobilitätsmarkt zu Ende. Viel wurde bereits im Vorfeld geschrieben und vor allem gewarnt – einschließlich Zusammenbruchs-Szenarien des deutschen Bus- und Bahn-Systems. Doch die deutschen Verkehrsverbünde und -unternehmen haben – nachdem sie von der überraschenden Entscheidung des Koalitionsausschusses erfahren hatten – geliefert. Mit einer pünktlichen, deutschlandweiten und digitalen Umstellung und einem Verkehrsangebot, das vielerorts bis zum Rande des Vertretbaren verstärkt wurde. „Pfingsten“ und „Sylt“ wurden unter dem Strich besser als gedacht überstanden.

Viel wichtiger: Millionen Pendlerinnen und Pendler wurden sofort finanziell entlastet und kamen in der Regel weiter problemlos vor Ort von A nach B. Getragen von dem Erfolg und den überragenden Zustimmungswerten in der Bevölkerung ging schon bald – übrigens im Gegensatz zum Tankrabatt – nach Einführung des Tickets die Diskussion um eine geeignete Nachfolgelösung los. Viele Meinungsbildner äußerten sich, teilweise ohne geeignete Datengrundlage, über das Wie eines Nachfolgetickets. Denn für die meisten steht außer Frage, dass dieses Experiment nicht ohne Folgen bleiben wird, zumal sich die ursprünglichen Rahmenbedingungen für die Entlastungs-Entscheidung kaum verändert haben. Parteiübergreifend liegen Vorschläge auf dem Tisch – nachdem die Branche mit einer Klimaticket-Überlegung vorangegangen war.

52 Millionen Tickets: zehn Prozent der Fahrten ersetzten eine Pkw-Fahrt

Die Zahlen von Forsa und RC Research, die über den gesamten Zeitraum bundesweit repräsentativ 6.000 Menschen pro Woche befragten, liegen vor und beeindrucken: 52 Millionen 9-Euro-Tickets wurden verkauft. Hinzu kommen zehn Millionen Abonnentinnen und Abonnenten. Zehn Prozent der Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket haben eine Fahrt ersetzt, die sonst mit dem Pkw unternommen worden wäre. Diese Antworten zeigen, dass die Menschen den öffentlichen Nahverkehr wollen, wenn das Ticket einfach und verständlich sowie überall flexibel nutzbar ist. Und sie sind bereit, ihr Auto dafür stehen zu lassen, wenn so ein Ticket nicht nur über den überschaubaren Zeitraum von drei Monaten angeboten wird. Insgesamt liegt der Anteil der aus anderen Verkehrsmitteln verlagerten Fahrten bei 17 Prozent. Das sind bemerkenswerte Werte – noch dazu vor dem Hintergrund, dass der initiale Beweggrund für das 9-Euro-Ticket ein sozialer war – die finanzielle Entlastung mit Blick auf steigende Verbraucherpreise. Doch es wird nun deutlich, dass über ein bundesweites Ticket auch dringend notwendige Verlagerungsziele im Verkehr mitverfolgt werden können – praktisch angewandter Klimaschutz.

Eckpunkte für eine Nachfolgeregelung

Wir müssen den Schwung aus den drei Monaten nutzen, es ist eine einmalige Gelegenheit. Gleichwohl brauchen wir kein extrem günstiges Ticket für Gutverdiener zu Lasten der öffentlichen Hand. Andersherum brauchen Leute, die lokal und regional fahren, nicht vordringlich ein bundesweit gültiges Ticket – hier sind die Tarifangebote bei den Verkehrsverbünden gut sortiert. Doch für diejenigen, die überregional unterwegs sein wollen und jetzt gemerkt haben, dass das ÖPNV-Angebot in vielen Städten und Strecken bereits gut ist, für die brauchen wir eine bundesweite Flatrate, ein Klimaticket für 69 Euro. Diese Leute, das zeigt die Marktforschung, lassen dann auch das Auto stehen. In dieser Höhe würde ein Klimaticket Mehraufwendungen von etwa zwei Milliarden Euro pro Jahr nach sich ziehen. Wir sind überzeugt: Gut und nachhaltig investiertes Geld, für das es ohne langes Taktieren einen Auftrag seitens des Bundes und der Länder braucht. In einem zweiten Schritt könnten dann zum Beispiel sozialpolitisch wünschenswerte Varianten vorbereitet werden. Klar ist: Wer unter diesen Preis geht, muss sagen, woher die zusätzlichen Ausgleichszahlungen für die Verkehrsunternehmen kommen sollen. Beispielsweise kostet eine Flatrate für 29 Euro deutlich über fünf Milliarden Euro – das wäre eine unwahrscheinliche, aber dennoch politische Entscheidung.

Flexibilität und bundesweite Gültigkeit klare Pro-Argumente

Dass es nicht ausreicht, den Fokus allein auf eine Nachfolgelösung für ein bundesweit attraktives Ticketangebot zu legen, lässt sich auch aus der Marktforschung ableiten: Der Ticketpreis spielt für Neukundinnen und Neukunden eine deutlich geringere Rolle als für bestehende Abonnentinnen und Abonnenten. Er ist zwar mit 56 Prozent auch bei den Neukunden das Hauptargument für den Kauf, gleich dahinter nennen jedoch 43 Prozent der befragten Neukunden den Verzicht auf Autofahrten als Kaufgrund. Flexibilität und die bundesweite Gültigkeit werden als wichtige Kaufargumente genannt. Unter den Befragten, die das Ticket nicht gekauft haben, sind Hauptgründe gegen den Kauf des 9-Euro-Tickets fehlende Nutzungsanlässe (37 Prozent), die Vorliebe für das Auto (35) und umständliche Verbindungen (33). Im ländlichen Raum dominieren als Nichtkaufgründe umständliche Verbindungen, Taktung, Fahrtdauer und Entfernung zur Haltestelle. Die Verkaufszahlen dort sind etwa halb so hoch wie in städtischen Gebieten. Das Verkehrsangebot vor Ort bleibt also weiter der bestimmende Faktor, hier muss die Politik finanziell ansetzen, beispielsweise mit kleinen, flexiblen On-demand-Bussen, wie sie vielerorts neu angeboten werden und Mobilität in den ländlichen Raum bringen.

9-Euro-Ticket mit CO2-Wirkung wie Tempolimit

Der Branchenverband VDV, der über 600 Unternehmen des öffentlichen Personenverkehrs und des Schienengüterverkehrs organisiert, hat eine Abschätzung zur Einsparung schädlicher Klimagase in den drei Monaten des 9-Euro-Tickets vorgenommen: Auf Grundlage der vom Pkw auf Busse und Bahnen verlagerten Fahrten hat das 9-Euro-Ticket demnach rund 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Drei Monate 9-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 vermieden wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde. Das 9-Euro-Ticket hat also nicht nur die Bürgerinnen und Bürger finanziell entlastet, sondern auch eine eindeutig positive Wirkung für das Klima.

Alle verantwortlichen Akteure sollten daher jetzt zügig über die Fortsetzung und Weiterentwicklung eines solchen Angebots entscheiden. Wenn wir Verkehrswende und Klimawandel ernst nehmen, dann müssen wir jetzt handeln. Ticketlösungen sind noch keine Verkehrswende, darum müssen die Anstrengungen für den Ausbau Nah- und Regionalverkehr in urbanen und ländlichen Räumen verstärkt werden. Das ist nur auf Basis einer langfristig gesicherten Finanzierungsgrundlage möglich, die den ÖPNV auf Dauer leistungsfähig und für alle bezahlbar macht. Hier ist insbesondere der Bund gefordert, der für Deutschland die Klimaschutzziele eingegangen ist – und der laut Verfassung für den öffentlichen Personennahverkehr eine Finanzierungsverantwortung hat.

Erfolg nur mit Folgeticket

Anfang Oktober findet die Umstellung der Vertriebssysteme auf die ab Januar 2023 geltenden Fahrpreise statt. Angesichts der rasant gestiegenen Energie-, Kraftstoff- und Personalkosten ist die Richtung vorgegeben. Jedoch liegt in dem Zeitpunkt auch eine Chance. Wir müssen den kommenden Monat nutzen, um spätestens bis dahin gemeinsam eine für die Verkehrsunternehmen wirtschaftliche und für die Fahrgäste attraktive Lösung für ein bundesweites Klimaticket zu erarbeiten. Wir haben alle Daten auf dem Tisch – jetzt muss entschieden werden.

 

Oliver Wolff