Energiekrise: Wie kommen wir besser durch den Winter?

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Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar ist ein gutes halbes Jahr vergangen. Seitdem wurden Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen, um unabhängiger von Energieimporten aus Russland zu werden. Dabei sind erste Erfolge sichtbar: Trotz deutlich reduzierten Gasimporten konnten die Gasspeicher in Deutschland inzwischen fast vollständig gefüllt werden. Russische Steinkohle wird nicht mehr importiert und auch beim Öl wurde die Einfuhr deutlich reduziert.

Der Herbst beginnt, und in 100 Tagen ist Winter. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, wie gut Deutschland und Europa durch die Energiekrise kommen werden. Die Preisentwicklung an den Energiemärkten ist ein Indikator dafür, wie angespannt die Versorgungssituation werden kann. Erdgas und Strom sind am Großhandel heute zehnmal so teuer wie vor der Krise. Es gab sogar Ausschläge auf das 20-fache. Auch Steinkohle kostet inzwischen fünfmal mehr als vergangenes Jahr.

Wie knapp es wird, hängt neben dem Wetter an weiteren Unwägbarkeiten, die größeren Einfluss haben können: z. B. davon, wie hoch die Einsparungen beim Heizen sein werden, wieviel LNG importiert wird, wie verfügbar die Kernkraftwerke in Frankreich sind und wie gut die Logistik bei Kohle- und Öltransporten funktioniert.

Wichtig ist jetzt das Ausmaß der Krise realistisch einzuschätzen. Die häufig getätigte Aussage „Wir haben nur ein Gasproblem“ greift zu kurz. Eine zusätzliche Ausweitung des Fokus auf den Strom ist notwendig, aber nicht ausreichend. Das Energiesystem ist eng verzahnt. An vielen Stellen können Energieträger substituiert werden, allerdings ist die Verfügbarkeit der Alternativen begrenzt.

Prozesswärme in der Industrie, oder auch Strom und Fernwärme, können statt aus Erdgas zum Teil mit Kohle, Heizöl oder Propangas erzeugt werden. Bei einigen energieintensiven Produkten erfolgt die Einsparung auch durch Herunterfahren der europäischen Produktion und einem verstärkten Import der Güter, z. B. Ammoniak oder Düngemittel. Auch im Gebäudebereich kann Gas zumindest anteilig durch Holz oder Kohlebriketts ersetzt werden, wenngleich damit die Feinstaub- und NOx-Belastung auf dem Land und in Städten steigt.

Auch der Wechsel zu Heizlüftern und Elektroradiatoren kann aus individueller Sicht wirtschaftlich sinnvoll sein: Neue Gastarife liegen aktuell bei etwa 40 Cent/kWh und liegen damit z. T. höher als die Kosten bei bestehenden Stromverträgen. Dadurch steigen die Belastung des Stromnetzes sowie der Gasverbrauch, da der zusätzliche Strom größtenteils durch Gaskraftwerke erzeugt wird. Würden nur 5 Prozent der Haushalte, die heute mit Erdgas heizen, jeweils zwei Heizlüfter einsetzen, würde die Lastspitze um 4.000 MW steigen – also so viel wie vier große Kohleblöcke erzeugen können oder so viel wie drei Kernkraftwerke.

Kommende Eingriffe in die Energiepreise sollten diesen Anreiz (auf Strom zu wechseln) deshalb verkleinern. Der im Dritten Entlastungspaket vorgeschlagene Strompreisdeckel wirkt – ohne Anpassungen bei den Gaspreisen – in dieser Hinsicht kontraproduktiv, da Strom damit für viele Haushalte deutlich günstiger wird.

Neben den bisher ergriffenen Maßnahmen gibt es noch weitere Optionen:

Erstens: Energiesparen noch stärker in den Vordergrund rücken. Über die Einsparung in Haushalten, über Heizen und Duschen wurde schon viel diskutiert. In der Debatte unterbeleuchtet war bisher der Gewerbesektor, also z. B. Büros, Restaurants, Geschäfte, Hotels und weitere Bereiche des recht heterogenen Sektors. Licht macht zehn Prozent des deutschen Stromverbrauchs aus und fast ein Drittel des Stromverbrauchs im Gewerbesektor. Hier gibt es noch erhebliche Einsparpotenziale, z. B. bei beleuchteten Werbetafeln und Displays, bei Geschäften, in denen nachts das Licht weiter brennt oder in Treppenhäusern mit Dauerlicht. Einsparungen bei der Beleuchtung wären auch wertvoll zur Senkung der abendlichen Lastspitze – überschlägig betrachtet könnte bei 10 Prozent Einsparung die Spitzenlast um etwa 1.500 MW gesenkt werden. Dazu kommen viele Geräte mit hohem Standby-Verbrauch, wie z.B. Kassensysteme, Drucker in Büros und Automaten, die heute aus Bequemlichkeit oft nicht ausgeschaltet werden. Im Rahmen der Energiesparkampagne könnten vorhandene Einsparmöglichkeiten stärker adressiert werden. Zudem könnte die § 30 EnSiG Verordnung noch sinnvoll ausgeweitet werden.

Zweitens: Erzeugung der erneuerbaren Energien so schnell wie möglich steigern. Außer bei kleineren Photovoltaikanlagen werden aufgrund langer Genehmigungs- und Planungsprozesse diesen Winter kaum völlig neue Projekte ans Netz gehen können. Je früher aber ohnehin im Bau befindliche Anlagen fertig werden, desto schneller fließt der Strom. Ein Monat Zeitgewinn brächte mehr als eine Terrawattstunden zusätzliche Erzeugung.

Drittens: Heizöl kann in der Industrie und bei der Strom- und Fernwärmeerzeugung einen Beitrag zum Ersatz von Erdgas leisten. Der für die Stromerzeugung notwendige Einsatz von Gas könnte um bis zu 15 Prozent reduziert werden. Aber auch Heizöl könnte im Winter knapp werden bzw. es könnte an Transportkapazität zu den Betrieben und Kraftwerken mangeln. Durch Einsparungen im Verkehr könnten Raffinerien statt Diesel mehr Heizöl produzieren und den Engpass entschärfen. So würde der Verkehrssektor, z. B. durch ein Tempolimit, auch einen Beitrag zur Lösung der Krise beitragen. Eine Einführung von Tempo 30 in Kommunen hätte diesen Winter zudem den Nebeneffekt, dass die Luftschadstoffbelastung sinkt und die höheren Emissionen der steigendenden Holz- und Kohleverbrennung etwas mildert.

Viertens: Eine Laufzeitverlängerung der verbleibenden Kernkraftwerke über den kommenden Winter würde zur Entlastung des angespannten Stromsystems führen, den Einsatz von Gas- und Kohlekraftwerken reduzieren und die Großhandelsstrompreise senken. Eine klar definierte Beschränkung auf einen Streckbetrieb könnte verhindern, dass wegen der vermeintlich entlastenden Atomkraft der Ausbau der erneuerbaren Energien, Stromnetze oder Energieeffizienzweniger ambitioniert umgesetzt wird.

Selbst bei Umsetzung dieser Maßnahmen werden in den kommenden Monaten die Energiepreise auf hohem Niveau bleiben und damit Entlastungen notwendig werden. Bei der Ausgestaltung sollte darauf geachtet werden, dass Preissignale möglichst weiterwirken können und durch Eingriffe möglichst keine Fehlanreize entstehen. Direktzahlungen an Verbraucherinnen und Verbraucher sind in dieser Hinsicht besser geeignet als eine Subvention von Energieträgern. Auf der Aufkommensseite wäre eine angepasste Besteuerung der Unternehmensgewinne einfacher und sicherer als der jetzt für die Stromerzeugung gewählte Weg, ins Marktdesign einzugreifen. Denn der Strommarkt ist komplex und größere Eingriffe sind mit Risiken verbunden, die wir in der Kürze der Zeit, nicht vollständig abschätzen können.

Letztlich geht es darum, die richtigen Hebel zu bewegen, um möglichst gut über den kommenden Winter zu kommen und danach schnell wieder den Kurs Richtung Klimaneutralität einzuschlagen. Dafür gilt es ein resilientes, effizientes und auf erneuerbaren Energien basierendes Energiesystem aufzubauen.

 

Marco Wünsch