Wirtschaftliche, politische und soziale Resilienz stärken: Deutschland braucht eine Strategie für ein klimaneutrales Energiesystem

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Billiges russisches Gas hat für lange Zeit den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands als Exportnation mitgetragen. Doch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns schmerzhaft vor Augen geführt, welche energiepolitischen Fehler Deutschland in den letzten beiden Dekaden begangen hat. Die Notwendigkeit sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien ist breiter Konsens in Politik und Gesellschaft. Klar ist aber, dass auch die energiepolitische Zeitenwende nicht ohne signifikante Risiken vonstattengehen kann.

Politisch folgenreiche Entscheidungen werden durch die neue geopolitische Lage erzwungen – vom Aufbau einer neuen Gasinfrastruktur in Brunsbüttel und Wilhelmshaven, über die staatliche Rettung des Uniper Konzerns hin zur Gasumlage. Der Staat ist in der gegenwärtigen Situation in der Energiepolitik aktiver denn je. Und Kritik an den Entscheidungen, wie etwa der Senkung der Mehrwertsteuer oder auch der Gasumlage zeigen: schnelle, kurzfristige Maßnahmen sind selten perfekt. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung heute den strategischen Grundstein für das Energiesystem der kommenden Dekaden legt und dadurch das deutsche Wirtschaftsmodell langfristig stärkt. Im Folgenden legen wir dar, warum eine Strategie gerade jetzt notwendig ist und welche Aspekte sie bedenken muss.

Die Vorrausetzungen haben sich verändert

Die Gaspreise in Deutschland werden auf unmittelbar absehbare Zeit nicht mehr auf ein Niveau fallen, die das Argument einer Brückentechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität wirklich aufrecht halten lassen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass durch teuren Flüssiggaszukauf die Preise noch über mehrere Jahre hoch bleiben. Ohne Gegenstrategie wird die Realität der Energiemärkte, je nach politischer Entscheidung, entweder untragbar für Konsumenten oder für die Haushaltskasse. Und dies hat weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Energiesicherheit in Deutschland.

Gleichzeitig zeigen Waldbrände und die Pegelstände des Rheins, dass die Folgen des Klimawandels längst spürbar sind und massive Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, nicht zuletzt die Energieversorgung, haben. Diese kombinierten Risiken werden Investitions- und Standortentscheidungen der Industrie schneller beeinflussen als erwartet. Nach sechs Monaten Krisenmanagement kann und muss Deutschland nun strategische Maßnahmen entwickeln die den hohen Gaspreisen und dem Klimawandel so entgegenwirken, dass gesellschaftlicher Konsensus gestärkt und das Wirtschaftsmodell modernisiert wird. Im Kern geht es um nicht weniger als das deutsche Wirtschaftsmodell auf eine multipolare, von Energie-, Sicherheits-, Klima-, und Handelskrisen gebeutelte Weltwirtschaft anzupassen. Daraus ergeben sich eine Reihe von Schlüsselfragen, die dringend politischer Antworten bedürfen.

Erstens: Wie lassen sich hohe oder volatile Energiepreise langfristig sozial abfedern, dass sie Haushalte und auch die Wirtschaft nicht übermäßig belasten, und gleichzeitig Anreize für radikale Effizienz zu schaffen?

Zweitens: Wie kann Deutschland angesichts steigender Zinsraten Investitionen mobilisieren, um den massiven Ausbau von neuer, erneuerbarer Energieinfrastruktur und gleichzeitig den Rückbau existierender, fossiler Infrastruktur zu finanzieren?

Drittens: Wie stellt Deutschland sicher, dass Energieversorger und Netzbetreiber ihre Geschäftsmodelle an die neuen Preise und eine schnellere Dekarbonisierung nachhaltig anpassen? Und wie sieht im Falle von möglichen Insolvenzen eine aktive Intervention des Staates aus, die zielgerichtet die Umgestaltung des deutschen Energiesystems voranbringt?

Viertens: Welche Weichen müssen jetzt gestellt werden, damit Energieeffizienzmaßnahmen und der Ausbau der erneuerbaren Energien zügig skaliert werden und somit die breite Bevölkerung und die Industrie langfristig entlastet werden?

Fünftens: Wie kann der dringende Druck zur Mobilisierung finanzieller Mittel zur Entlastung mit der Entkoppelung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft von den fossilen Energieträgern einher gehen?

Eine Strategie für ein klimaneutrales Energiesystem

Antworten auf diese Fragen kann nur ein ganzheitlicher energiepolitischer Ansatz liefern, der die Energiewende hin zu günstigen erneuerbaren Energien in eine breite wirtschafts-, und sozialpolitische Strategie einbettet. Die Gasumlage, die staatliche Rettung Unipers und marktwirtschaftliche Interventionen wie Steuersenkungen; all dies zeigt, dass der deutsche Staat in den nächsten Jahren deutlich stärker intervenieren und agieren wird. In diesem Kontext müssen Zielkonflikte und Maßnahmen genau abgewogen werden. Damit dies nicht in einer “Hals-über-Kopf” Mentalität geschieht, braucht es eine transparente und klare Strategie. Diese Transparenz ist unabdingbar, um die Unterstützung der Gesellschaft für schwierige Entscheidungen zu sichern.

Eine solche Strategie muss die Realität hoher Gaspreise und die Chancen durch günstige erneuerbare Energieträger anhand von drei Pfeilern abbilden und Lösungsansätze vorlegen.

Sozialer Pfeiler: Hohe Energiepreise werden weiterhin große Teile der Gesellschaft belasten, insbesondere die vulnerabelsten Gruppen. Über die aktuell diskutierten Entlastungpakete hinaus braucht es in Deutschland daher gezielte soziale Abfederungsmechanismen die sicher stellen können, dass einkommensschwache Haushalte auch langfristig höhere oder volatile Gaspreise verkraften können. Sozialpolitische Maßnahmen müssen dabei gestaffelt entlasten, sodass vor allem die vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft unterstützt werden. Weiterhin muss das Ziel sein, dass der Anteil der Energiekosten in der Ausgabenstruktur von einkommensschwachen Haushalten abnimmt, ohne dabei langfristig von Zuschüssen abhängig zu sein. Eine Strategie die sicherstellt, dass einkommensschwache Haushalte zügig von Maßnahmen wie Energieeffizienz oder Elektrifizierung profitieren stärkt die gesellschaftliche Zustimmung und entlastet den staatlichen Haushalt.

Makroökonomischer Pfeiler: Erneuerbare Energieträger sind mittlerweile die günstige Energieform, die uns zur Verfügung steht. Somit bildet die Beschleunigung der Energiewende nicht nur ein zentrales Element, um sich von russischem Gas unabhängig zu machen. Vielmehr kann und muss die Energiewende als die Chance gelesen werden, die durch fossile Energieträger getriebene Inflation nachhaltig zu bekämpfen. Die günstigere Kostenstruktur der Erneuerbaren bietet auch die Chance für Deutschland ein strukturelles Handelsdefizit durch teure Gasimporte zu vermeiden und schnellstmöglich das Sinken der positiven Handelsbilanz aufzuhalten und umzukehren. Somit wird die Energiewende zum zentralen Treiber einer Modernisierung und der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsmodells. Doch wie sich bereits jetzt zeigt verlangt ein Transformationsprozess neben Reformen im Energiemarkt eben auch ein verstärktes, weitsichtiges fiskalpolitisches Engagement, um soziale Härten abzufedern, Investitionen in eine angepasste, klimaneutrale Energieinfrastruktur voranzutreiben und Subventionen an die energiepolitische Realität anzupassen.

Industriepolitischer Pfeiler: Die Transformation der Industrie ist ein Schlüsselelement, um den Gasverbrauch in Deutschland nachhaltig zu senken und gleichzeitig die Klimaziele einzuhalten. Doch darüber hinaus ist die industrielle Transformation eine Chance, die Exportnation Deutschland fit für eine Weltwirtschaft zu machen, die klar auf Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts setzt. Sowohl die Senkung der Produktionskosten durch einen niedrigeren Gasverbrauch als auch die Möglichkeit, Innovationen durch den Preisdruck voranzutreiben, können dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten. Dazu bedarf es aber einer klaren Industriepolitik die Klimaneutralität, internationalen Wettbewerb und den gerechten Strukturwandel in der Industrie konsequent zusammen denkt und in den Kontext der Energiewende setzt. Selbst eine sozial-gerechte Transformation wird schmerzhafte Änderungen auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen. Doch beherztes Handeln kann Deutschland zum Industriestandort der Zukunft machen und einer strukturellen Abwanderung von Jobs zuvorkommen.

Der Bundeskanzler hat mit der Zeitenwende Rede im Februar eine Neuausrichtung der Deutschen Außen- und Verteidigungspolitik eingeleitet. Der Finanzminister hat mit dem Begriff “Freiheitsenergien” die Rolle der Energiewende unmittelbar mit dieser Neuausrichtung verbunden. Doch es fehlt nun an einer klaren Kommunikation, was diese Zeitenwende energiepolitisch genau beinhaltet. Die Bundespolitik muss sich bewusstwerden, dass die Zeitenwende längst nicht nur die Außen- und Verteidigungspolitik massiv verändert. Ohne eine Neuausrichtung der Energie- und Industriepolitik welche die Energiewende als Chance und strategisches Zentrum eines modernen Deutschlands denkt, wird die deutsche Wettbewerbsfähigkeit mittel- bis langfristig aufs Spiel gesetzt und geopolitische Abhängigkeiten von fossilen Energieimporten aus (autokratischen) Nationen aufrechtgehalten.

Es bedarf eines Regierungsteams, das aus dem Kanzleramt heraus angetrieben wird. Das ursprünglich für den Sommer ankündigte Maßnahmenpaket ist dabei nur eine erste Bewährungsprobe. Es ist die Aufgabe des Kanzlers Olaf Scholz diese zukunftsfeste und gesamtwirtschaftliche Energiewendestrategie zur Frage der nationalen Sicherheit und Wohlstanderhaltung zu erklären und die Schlüsselministerien (BMWK, BMF, BMWSB, BMVD und BMAS) dazu an einen Tisch zu bringen.

 

Lisa Fischer und Johannes Schroeten