Sommarstängt. Das ist schwedisch, heißt wörtlich übersetzt „sommergeschlossen“ und trifft während der warmen Monate auf viele Bereiche der Verwaltung und des öffentlichen Lebens in Schweden und anderen skandinavischen Ländern zu. Die Sommerpause ist dort eine echte Pause vom Alltag, eine, die sich fast alle Menschen nehmen. Läden und Restaurants schließen für mindestens einen Monat und auch die schwedische Regierung geht größtenteils in den Urlaub. Für die wichtigsten Angelegenheiten gibt es eine „Sommerregierung“. Diese setzt auf Rollentausch, Job-Sharing und geteilte Verantwortung. Statt sich schwitzend an den eigenen Sessel zu klammern, schwingen sich auch hochrangige Politiker*innen lieber in den Strandkorb und verbringen ihre Zeit mit Freund*innen und Familie.
Während in Schweden jetzt langsam wieder zum Normalbetrieb übergegangen wird, ist der Stresslevel unter vielen Arbeitnehmer*innen hierzulande schon wieder am Limit, kaum dass der September angefangen hat. Die E-Mail-Postfächer quellen über und vieles, was während des Urlaubs liegen geblieben ist, muss nachgearbeitet werden. Das schwedische Beispiel zeigt, dass es auch anders geht. Dass die Welt sich weiterdreht, wenn wir nicht rund um die Uhr erreichbar sind. Und vor allem, dass man die wichtigen Dinge auch in weniger Zeit oder mit weniger WoMenpower schafft, wenn es gute Strukturen gibt und eine Kultur, in der Wissen und Verantwortung zu teilen ganz selbstverständlich ist.
Macht euch ersetzbar!
Günes Seyfarth, erfolgreiche Mehrfach-Gründerin aus München, hat einmal in einem Gespräch gesagt, dass es für sie als Unternehmerin immer darum gehe, sich selbst ersetzbar zu machen. Denn natürlich kann sie als Gründerin und Chefin nicht alles gleich gut machen. Und natürlich gibt es Menschen, die bestimmte Dinge viel besser können. Der US-Ökonom Peter Drucker hat einmal sinngemäß formuliert, dass Wissensarbeiter mehr über ihre Arbeit wissen als ihre Chefs. Zudem ist es unternehmerisch nicht sinnvoll, alles selbst machen zu wollen, nur um die Kontrolle zu behalten. Gutes Unternehmer*innentum heißt auch, von Beginn an die richtigen Menschen in die richtigen Rollen zu bringen, sich zurückzunehmen und sich auf übergreifende, auch kulturelle Fragen zu konzentrieren, etwa die, wie wir gut zusammenarbeiten können und welche Werte und Ziele wir dabei zugrunde legen. Diese Strukturen zu bauen ist die Grundvoraussetzung, damit am Ende möglichst alle Mitarbeitenden entlang ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse arbeiten können. Und: auch mal Pause machen können.
42-Stunden-Woche: Maximal rückwärtsgewandt
Auszeiten, in denen wir uns gedanklich komplett von der Alltagsarbeit lösen können, sind nicht nur für das eigene Wohlbefinden wichtig, sondern auch, weil sie es uns oft erst ermöglichen, neue Gedanken zu denken. Wer kennt nicht den Moment beim Spaziergang im Wald oder beim Joggen um den Block, in dem plötzlich der Groschen fällt oder man eine geniale Idee hat. Allein diese banale Erkenntnis spräche dafür, Pausen im täglichen Leben viel mehr Raum und Wertschätzung zu geben. Wem das als Argument nicht genügt, dem ist vielleicht der Fachkräftemangel Grund genug, sich mit der eigenen Unternehmenskultur zu beschäftigen. Und nicht auf vermeintlich einfache Lösungen zu setzen, die das Gegenteil bewirken und Fachkräfte eher abschrecken als anlocken dürften. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Industrie, scheint es sich jedenfalls sehr einfach gemacht zu haben, als er vor dem Sommer vorschlug, den Fachkräftemangel durch eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 42 Stunden zu lösen und dabei auch gleich noch das Rentensystem zu sanieren. Ein Vorschlag, der einigermaßen irritiert.
Warum? – Ich sage nur: 2022. Wir leben in einer Zeit, in der wir auch dank digitaler Technologie die Möglichkeit haben, weniger zu arbeiten als je zuvor. Wir leben inmitten von Ländern, wie das eingangs erwähnte Schweden, die mutig und erfolgreich mit verkürzten Arbeitszeiten und Vier-Tage-Wochen experimentieren. Und wir sollen uns in Deutschland ernsthaft mit der Frage beschäftigen, ob wir nicht alle doch wieder ein bisschen mehr arbeiten sollten, so als hätte es Gallup sowie sämtliche Studien über steigende Burn-Outs, die Bedürfnisse der Gen Y und Z, Vereinbarkeit von Familie und Beruf usw. nie gegeben?
Der Irrglaube von der Einzelleistung
Der Vorschlag, doch einfach die Arbeitsstunden hochzusetzen, um mehr zu “schaffen”, mehr “Leistung” zu erbringen, stammt aus einer Zeit, in der sich Arbeit vor allem am Fließband abspielte. In der heutigen Wissensgesellschaft funktioniert die Formel “mehr Arbeitszeit = mehr Leistung” nicht mehr. Denn sowohl das, was Menschen an Input in ihre Arbeit hineingeben, also zum Beispiel kreative Gedanken, Lösungsstrategien, Beziehungspflege, als auch der Output, den sie dadurch generieren, lässt sich weder objektiv messen, noch lassen sich Ergebnisse einzelnen Personen zuschreiben. Arbeit in der heutigen Welt ist fast immer Teamarbeit. Wertschöpfung entsteht aus dem Zusammenspiel vieler Ideen, Fähigkeiten und Tätigkeiten. Unternehmerischer Erfolg ist also nie eine Einzelleistung! Und er lässt sich auch nicht an einer fixen Stundenzahl Einzelner festmachen.
Wir brauchen weder 40 noch 42 Stunden
Genauso wenig wie sich jede Tätigkeit am besten in genau 40 Stunden erledigen lässt, lässt sie sich auch nicht in genau 42 Stunden erledigen. In einer hochkomplexen und sich schnell wandelnden Welt dürfen und müssen auch Aufgaben und Rollen in Bewegung bleiben und sich an neue Gegebenheiten anpassen, die sich im Außen ergeben oder im Leben der Mitarbeitenden selbst. Diese bekommen Kinder, pflegen Angehörige, engagieren sich für andere. Umweltschutz, Care-Arbeit, Bildung, soziales Engagement – diese Dinge kommen schon mit der bestehenden Standard-40-Stunden-Vollzeit viel zu kurz oder lasten einseitig auf den Schultern vor allem von Frauen. Wir alle brauchen wieder mehr Zeit, um uns umeinander zu kümmern und um unser Leben bewusst und nachhaltig gestalten zu können. Wir brauchen Zeit für unsere Kinder (und zwar Mütter wie Väter gleichermaßen), auch, um sie in dieser komplexen Welt zu begleiten. Wir brauchen Zeit, um regional einzukaufen, zu kochen, zu reparieren usw. Wir brauchen Zeit für die Oma und das Trainer*innen-Amt im heimischen Jugendsportverein. Denn auch hier – in den Care-Berufen, in der Bildung, im Ehrenamt – fehlt es an (Fach-)Kräften, Und auch hier werden wir niemanden mehr finden, wenn wir das Pensum erhöhen. Stattdessen brauchen wir Arbeitsbedingungen, die Raum für andere Bereiche des Lebens lassen, flexible und lebensphasenorientierte Modelle, im Rahmen derer Mitarbeitende ihre Arbeitszeit immer wieder anpassen können.
Mehr Pioniergeist statt mehr Stunden
Verfechter*innen der 42-Stunden-Woche kann ich nur sagen: Ihr wollt arbeitstechnisch noch eine Schippe drauflegen? – Super! Denn in einem Punkt gebe ich euch recht: Kollektiv zurücklehnen können wir uns hierzulande in der Tat nicht. Ganz im Gegenteil: Bevor wir guten Gewissens weniger arbeiten können, müssen wir Ergebnisse liefern, nämlich wenn es darum geht, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die die Digitalisierung uns längst bietet. Dafür müssen wir sie wirklich verstehen wollen, verstehen lernen und endlich den infrastrukturellen, unternehmenskulturellen und gesellschaftlichen Rahmen schaffen, um digitale Technologien im Sinne der Menschen nutzen zu können. Statt angesichts immer neuer Technologien verängstigt in der Ecke zu stehen, hektisch halbgare Change-Prozesse aufzusetzen, Regularien für Fantasie-Szenarien zu entwerfen und immer nur zu reagieren, brauchen wir Lenker*innen und Unternehmer*innen, die proaktiv, offensiv und mutig agieren. Die bereit sind, das Potential, welches die Digitalisierung mit sich bringt, vollumfänglich zu nutzen, um bessere, lebensfreundliche Organisationen und Gesellschaften zu bauen.
Weniger verwalten, mehr gestalten
Wir müssen wegkommen vom verwalterischen “Dinge richtig tun” zum “die richtigen Dinge tun”, wie Peter Ducker es so schön formuliert hat. Und zwar jetzt und heute! Digitale Technologie gegen den kollektiven Burnout – das ist möglich, wenn wir sie nur endlich richtig nutzen. Mit Hilfe von Smart Tech können wir längst Routinetätigkeiten automatisieren, Kapazitäten planen, Verbrauche kalkulieren, unsere Kommunikation optimieren und verfügbare Fähigkeiten und Kompetenzen transparent machen, sodass sie sich mit dem, was zu tun ist, abgleichen und matchen lassen. Auf diese Weise kann Technologie dazu beitragen, dass wir wirklich ressourcenbasiert arbeiten, sowohl im Hinblick auf natürliche Ressourcen als auch im Hinblick auf das, was Menschen realistisch leisten können, wenn sie nebenbei noch Zeit und Kraft brauchen, um für sich und andere zu sorgen, kontinuierlich dazuzulernen und sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Und ja, auch um einfach mal ohne schlechtes Gewissen eine Pause zu machen.
Die Zukunft in die Gegenwart holen
Wie so oft scheitert es nicht an der technischen Machbarkeit, sondern vor allem an den Grenzen in den Köpfen. Die “grauen Herren der Zeitsparkasse” sind immer noch da und werfen mit ihren reaktionären Ideen aus der Vergangenheit um sich, statt zu schauen, was die Zukunft alles Wunderbares bereithalten könnte, wenn wir uns erlauben, sie gedanklich in die Gegenwart zu holen. Der Journalist Wolf Lotter hat sehr schön angemerkt, dass “an die Stelle des Fleißes und des blinden Eifers (…) Neugier, Experiment und Wissbegierigkeit, kurz: Innovationsfähigkeit” treten müssen, einen Satz, den ich aus vollster Überzeugung unterschreibe.
Dass sich die Welt gefühlt schneller dreht, ist kein Problem, solange wir Lust haben, Schritt zu halten, offen und neugierig zu bleiben und die Dynamik zu nutzen, um das Zusammenleben und -arbeiten zum Besseren zu wenden. Dafür brauchen wir ein neues, positives Konzept von der Zukunft. Jetzt ist, trotz oder gerade wegen der schlimmen Nachrichten aus vielen Teilen der Welt, die Zeit, dieses zu formen!
Wie fangen wir an? – Vielleicht mit ein bisschen mehr “Sommarstängt” im Alltag. Denn die besten Ideen kommen ja bekanntlich, wenn wir uns erlauben, auf Pause zu drücken.
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Über die Autorin:
Anna Kaiser ist Gründerin und ehemalige CEO des vielfach preisgekrönten Tech-Start-ups Tandemploy, Angel Investorin sowie Vice President EMEA, Innovation & Strategy beim globalen Tech-Unternehmen Phenom. Als Autorin, Speakerin und Host lädt sie dazu ein, Arbeit neu zu denken und den Bogen zu einem guten Leben zu schlagen. Digitalisierung, Female Leadership, Tech und New Work sind einige der Themen, für die sie brennt und zu denen sie Akteur*innen in Politik und Wirtschaft berät, etwa als Mitglied des Beirat “Junge Digitale Wirtschaft” des Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Gründungsmitglied des Ethikbeirat HR-Tech, Mitglied des Rat der Arbeitswelt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) oder Vorsitzende des Ressorts “Zukunft der Arbeit” beim Bundesverband Digitale Wirtschaft e.V.. Mit der Gründung von Tandemploy 2013, der Gründung des All-Female Investorinnen-Netzwerks encourageventures 2021 und dem Merger von Tandemploy mit der globalen Tech-Company Phenom 2022 haben Anna Kaiser und ihre Mitstreiter*innen gezeigt, was möglich ist, wenn wir uns trauen, unsere Vorstellung von einer besseren Arbeitswelt nicht in der Theorie zu belassen, sondern mit Herz und Kopf anzupacken.