Ein Interview mit dem Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung und Präsidenten des Europäischen Parlaments a.D., Martin Schulz, über die Brasilien-Wahl, eine neue Geopolitik des Westens und wie eine Initiative zu einem neuen Mercosur-Handels-Abkommen zu bewerten ist. Das Interview hat Dr. Nils Heisterhagen geführt.

 

Du bist bekannt dafür, dass du Lula da Silva schon sehr lange und persönlich kennst. Hast du ihm zur Wahl gratuliert und wie bewertest du das Ergebnis der Brasilien-Wahl?

Martin Schulz: Ja, das stimmt. Ich kenne Lula da Silva schon sehr lange. Schon sogar bevor er das erste Mal Präsident wurde. Ich hielt seine Verurteilung für politisch motiviert. Deswegen habe ich ihn auch im Gefängnis besucht. Und seine Verurteilung hat sich ja auch im Nachhinein als politisch motiviert herausgestellt. Die jetzige Wahl und das Ergebnis halte ich für eines mit weltweiter Bedeutung. Es zeigt nämlich: Man kann Populisten besiegen.

Du hast den Populismus angesprochen. Nun wurde er nur sehr knapp besiegt. Man kann auch eine regionale Teilung sehen. Reiche Regionen Brasiliens haben Bolsonaro gewählt und die ärmeren Regionen Lula. In westlichen Industriestaaten sehen wir ähnliches. In Deutschland wählt man in Industriezentren, in großen Teilen Ostdeutschlands und im ländlichen Raum zunehmend rechts. Also überall da, wo man Angst hat, etwas verlieren zu können. Einerseits ökonomisch, aber andererseits auch kulturell. In Europa insgesamt sieht man einen Rechtsruck. Was ist deine Strategie gegen den Populismus? 

Ängste können dazu führen, dass der soziale Zusammenhalt schwindet, sei es ökonomisch oder kulturell. Um das zu verhindern, bedarf es politischer Antworten. Ängste sind in der Mittelschicht am höchsten. Reiche werden in der Regel in vielen Konstellationen weiterhin relativ reich bleiben. Deswegen muss den bedrohten Gesellschaftsschichten am stärksten geholfen werden. Das ist nicht verallgemeinerbar auf alle Länder. Jedes Land hat seine eigene Struktur.

Was ist das spezielle Learning aus Brasilien?

In Brasilien sind in den Lula-Jahren viele Menschen aus der Armut in die Mittelschicht aufgestiegen. Und in der Bolsonaro-Zeit wieder in die Armut zurückgefallen. Um das wieder auszugleichen, muss zwischen Reich und Arm umverteilt werden. Das gilt auch für reiche und arme Regionen. Gegen diese nötige Solidarität haben insbesondere radikale Bolsonaro-Wähler gestimmt.

Wir haben jetzt durch den russischen Angriffskrieg und durch China und seinen Einfluss eine massive Debatte über Abhängigkeiten bei Lieferketten, Rohstoffen und Handelsbeziehungen bekommen. Wir sehen, dass kritische Infrastruktur aus der Hand gegeben wurde. Zugleich machen die Phänomene Trump und eben Bolsonaro deutlich, dass westliche Demokratien von innen geschwächt werden können. Von außen und von innen war und ist also Druck da. Wir sehen nun aber, dass etwa Lateinamerika zurzeit überwiegend demokratisch und links geprägt ist. In den USA ist mit Joe Biden ein Demokrat zurück an der Macht. Wir haben also ein Window of Opportunity für den Westen. Wie sollte eine neue Geopolitik des Westens aussehen und was muss Europa tun, um Lateinamerika als Bündnispartner nicht erneut zu verlieren?

Die Wahl von Lula ist ein Hoffnungszeichen für die Welt. Aber nochmal: Sehr brasilienspezifisch. Das Ergebnis der Wahl hat gezeigt, welchen Einfluss die Innenpolitik eines Landes auf die Weltpolitik haben kann. Lula war nämlich sehr klar gegen die weitere Abholzung des Regenwaldes. Obwohl das für ihn ein Risiko war, weil viele Bolsonaro-Unterstützer sich ökonomische Vorteile durch eine weitere Rodung des Waldes versprochen haben. Der Sieg Lulas ist ein Sieg für uns alle. Die Wahl hat gezeigt, dass es eine Weltinnenpolitik gibt. Hätte Bolsonaro gewonnen, wäre das für das Weltklima eine Katastrophe geworden. Davon wäre jeder Bürger Deutschlands direkt betroffen gewesen. Wenn es aber eine Weltinnenpolitik gibt, dann braucht man auch eine Ordnung dafür. Die Stärkung der internationalen Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen, ist der Schlüssel für eine solche regelbasierte Weltordnung. Eine Kooperation Europas mit den demokratischen Staaten Lateinamerikas würde dazu führen, dass die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die demokratischen Staaten Mittel- und Südamerikas mit einer gemeinsamen Strategie innerhalb der Vereinten Nationen ein sehr großes Demokratie-Potential darstellen könnten. Deshalb ist die EU-Lateinamerika-Kooperation von zentraler Bedeutung.

Aber was nun? Lateinamerika hat viel, was wir nicht haben. Rohstoffe vor allem. Lateinamerika ist wirtschaftlich eine große Hoffnung für uns. Nicht nur politisch. Was müssen wir jetzt machen? Wie viel Zugeständnisse müssen wir machen? Und wie bewertest du eine Initiative zu einem neuen Mercosur-Handels-Abkommen?

Die Frage ist leicht zu beantworten. Wir müssen mit den Staaten Lateinamerikas auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Respekt und Akzeptanz für die spezifischen Voraussetzungen eines jedes Landes sind dabei besonders wichtig. Umgekehrt müssen auch die lateinamerikanischen Staaten – insbesondere die Mitgliedsländer des Mercosur – ihr Verhältnis untereinander klären. Natürlich ist es beispielsweise für ein Land wie Uruguay, das zwischen Brasilien und Argentinien liegt, schwierig, die gleichen ökonomischen Interessen geltend zu machen, wie diese beiden großen Länder. Das gilt zum Beispiel auch für Paraguay. Insofern hat auch der Mercosur noch einige politische Angelegenheiten nach innen zu regeln. Sollte es aber zwischen dem europäischen und lateinamerikanischen Markt zu einem konstruktiven Handelsvertrag kommen, dann gibt es sowohl industriell als auch landwirtschaftlich beim Austausch von Rohstoffen oder Dienstleistungen ein enormes Potential für beide Seiten.

Letzte Frage: Wenn wir dieses Mercosur-Abkommen in den nächsten Jahren nicht hinbekommen. Haben wir dann geopolitisch versagt?

Ich will nicht von geopolitischem Versagen reden. Aber wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten diese Chance, die es jetzt gibt, vorbeiziehen lassen, dann begeht sie einen schweren Fehler.