Dr. Stefan Mair, Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit und geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Interview mit Matthias Machnig, Vizepräsident des Wirtschaftsforums der SPD e.V.
Matthias Machnig: Das Schlüsselwort dieser Tage heißt Zeitenwende. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen handelspolitischen und ökonomischen Konsequenzen der Entwicklungen seit dem 24. Februar?
Stefan Mair: Der zentrale Punkt aus handelspolitischer und ökonomischen Sicht in Bezug auf die Zeitenwende ist ein neues Bewusstsein für Abhängigkeiten. Früher hatten wir immer von Interdependenz gesprochen und wie wichtig es sei, sie herzustellen, um über Interdependenz sowohl Einfluss zu nehmen als auch Veränderungen herbeizuführen.
Mittlerweile lassen wir bei der Interdependenz das „Inter“ weitgehend weg und sprechen nur noch von Dependenz und haben ein neues Gefühl für Abhängigkeiten entwickelt – von russischen Gasimporten, aber auch von anderen wichtigen Gütern und Märkten.
Das war ja das Prinzip „Wandel durch Handel“, das sich in der Realität, zumindest bei Russland, nicht bewährt hat. Welche besonderen Herausforderungen sind damit eigentlich für ein Exportland wie Deutschland verbunden? Etwa die Hälfte unserer Wertschöpfung kommt aus Exporten. Deutschland ist in besonderer Weise betroffen.
Man muss zum einen sagen, dass wir mit der Welt, so wie wir sie vorher gesehen haben, perfekt leben konnten. Wir waren einer der Globalisierungsgewinner und mit Sicherheit auch einer der Interdependenzgewinner.
Wir haben Zugang zu vielen Märkten gewonnen. Wir haben globale Wertschöpfungsketten aufbauen können, die viele unserer Unternehmen erst wettbewerbsfähig gemacht haben. Die alte Welt war für die deutsche Volkswirtschaft perfekt und hat natürlich dazu geführt, dass wir mittlerweile ein Maß an internationaler Verflechtung haben, das für eine Volkswirtschaft unserer Größe exorbitant ist. Wenn man Exporte und Importe zusammenzählt, dann macht das ungefähr 80 % unseres Bruttoinlandsproduktes aus, das nahezu Dreifache der Quote, die die USA aufweist Für eine Volkswirtschaft unserer Größenordnung sind wir in hohem Maße international verflochten.
Und damit ergeben sich natürlich nicht nur Abhängigkeiten, sondern auch Verwundbarkeiten. Und die kann man nicht von heute auf morgen abstellen oder umstellen, sondern dafür braucht man eine Strategie die langfristig angelegt ist und neue Wege findet.
Aber „Decoupling“ kann doch nicht die Antwort sein. Und Resilienz aufzubauen dauert seine Zeit. Mancher Debattenbeitrag schießt aus meiner Sicht jedoch weit über das Ziel hinaus. Oder sehe ich das falsch?
Decoupling kann nicht die Antwort sein und mittlerweile sprechen ja auch die Amerikaner – zumindest nach der Ablösung der Trump Administration – nicht mehr von Decoupling, sondern sind sich bewusst, dass sich bestimmte Verbindungen und Verflechtungen nicht einfach lösen lassen und auch nicht gelöst werden sollten.
Es braucht Zeit, Abhängigkeiten zu vermindern. Wir müssen, wie Sie schon sagen, den Begriff Resilienz in den Vordergrund stellen. Wir müssen über Diversifizierung sprechen. Wir müssen sehen, wie wir schrittweise von einseitigen Abhängigkeitsverhältnissen wegkommen.
Wir müssen aber auch sehen, dass es in diesem Fall ja weitgehend privatwirtschaftliche Entscheidungen sind. Die Investitionsentscheidungen werden von Unternehmen getroffen. Und die unmittelbaren Eingriffsmöglichkeiten der Politik sind relativ begrenzt. Man kann günstige Bedingungen für Diversifizierung schaffen, aber man kann Unternehmen nicht anweisen, an einer Stelle nicht zu investieren und woanders zu investieren. Das wäre ein starker Systembruch, den wir uns dann auferlegen würden.
Bei all den Debatten gerät China natürlich in den Fokus. Und es gibt viele Warnungen, insbesondere nach dem Parteitag, der zu einer nochmaligen Machtausweitung von Xi Jinping geführt hat, dass gegenüber China enorme Abhängigkeiten herrschen, etwa beim Thema Rohstoffe, aber auch Klumpenrisiken für die eine oder andere Branche, etwa das Investment von BASF in Höhe 10 Milliarden in China oder dass VW 50 % seiner Gewinne in China erwirtschaftet.
Ist China das einzige Problem? Brauchen wir eine explizite China-Strategie? Oder brauchen wir nicht eigentlich eine Resilienz-Strategie, bei der China ein Teil wäre?
Man muss differenziert auf das Thema Abhängigkeit von China blicken. Sie hat aus meiner Sicht unterschiedliche Dimensionen. Wenn man allein auf die Handelszahlen schaut, dann ist unser Außenhandel mit China auf dem Niveau dessen, was wir mit den vier Visegrad-Staaten, also mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, haben. Und keiner würde, glaube ich, in diesem Fall von Abhängigkeiten sprechen. Wir haben allerdings in verschiedenen Sektoren deutliche Abhängigkeitsverhältnisse, zum Beispiel in der Chemie- und der Automobilindustrie, wo der Anteil Chinas an den Umsätzen und an den Gewinnen exorbitant hoch ist.
Man muss eben auch sehen, dass das beides Sektoren sind, die schon jetzt unter erheblichem Druck stehen – die Automobilindustrie unter dem Druck, sich zu verändern und umzustellen von Verbrennungsmotoren auf Elektromotoren und die Chemieindustrie unter dem Druck erhöhter Gaspreise, der die ganze Grundstoffindustrie betrifft.
Diesen Sektoren jetzt noch zuzumuten, sie müssten sich aus China zurückziehen, würde sie an den Rand ihrer Existenz bringen. Das muss man in Rechnung stellen.
Dennoch ist es wichtig, über Resilienz zu sprechen und zu sehen, wie Wertschöpfungsketten unempfindlicher gegenüber Schocks werden. Und wir müssen hier schon über eine China-Strategie sprechen und uns darüber Gedanken machen: Wie stellen wir uns gegenüber diesem großen, machtvollen Land auf? Wo setzen wir die Prioritäten? Wie bekommen wir eigentlich die richtige Mischung hin zwischen Wettbewerb, Kooperation und Konfrontation? Alle diese drei Rollen sind mir wichtig und die müssen auch in der China-Strategie vorkommen.
Aber brauchen wir nicht viel mehr eine Resilienz-Strategie als eine China-Strategie? Warum alles auf China konzentrieren? Ich glaube, man muss viel breiter schauen. Und dabei spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Etwa Handel, Direktinvestitionen, Technologie-Abhängigkeiten, Rohstoff-Abhängigkeiten, die auch in anderen Teilen der Welt gelten. Also ist das nicht zu kurz gesprungen?
Meine Hoffnung ist, dass die Nationale Sicherheitsstrategie ein Stück weit eine Resilienz-Strategie sein wird. Und wenn man es schafft, in der Nationalen Sicherheitsstrategie dieses Thema weitgehend zu bearbeiten, dann macht es Sinn, darunter noch mal eine China-Strategie als Substrategie zu hängen, so wie wir Leitlinien für den Indo-Pazifik oder für den Multilateralismus haben.
Wir sollten uns auch überlegen, ob wir eine USA-Strategie brauchen, spätestens wenn wir 2024 vielleicht wieder eine andere Administration in Washington haben.
Meine Erfahrung mit Strategien der Bundesregierung: die waren so lange interessant, bis das Dokument abgeschlossen war. Danach hat es selten eine große Rolle gespielt. Das ist ein bisschen die Gefahr. Aber was heißt das konkret, wenn man jetzt resilienter werden muss?
Man bräuchte zum Beispiel ein umfassendes industrie- und handelspolitisches Konzept mit einer offensiveren Handelspolitik, langfristigen Verträgen auch mit anderen Ländern etwa im Bereich von Rohstoffen und auch einem Reshoring von bestimmten Technologien und Produktionsstrukturen nach Europa. Mit einer werteorientierten Außenpolitik kommt man da nicht sehr weit.
Sie erinnern sich vielleicht, dass der BDI vor drei Jahren in seiner China-Strategie dort angesetzt hat und viel stärker darüber sprechen wollte: Wie stärken wir uns in Europa auch industriepolitisch? Und wie bekommen wir dadurch eine eigene Stärke, die uns ganz anders erlaubt mit China umzugehen, als wenn wir immer nur über Abhängigkeiten sprechen?
Wir müssen darüber hinaus überlegen, wie wir über Rohstoff-Partnerschaften tatsächlich auch den Zugang zu Rohstoffen erhalten können.
Und es gibt die Notwendigkeit, eine Zeitenwende in der Außenwirtschaftspolitik hinzubekommen. Wir brauchen eine andere Positionierung gegenüber Freihandelsabkommen, die diese auch als Mittel versteht, andere Staaten strategisch an uns zu binden.
Besteht nicht die Gefahr, dass wir uns dann über Einzelfälle unterhalten – COSCO, Chipfrabrik in Dortmund – wo dann symbolisch Politik gemacht wird und die eigentlichen Herausforderungen nicht adressiert werden?
Und ist die Konzentration auf China sowohl ökonomisch wie politisch nicht auch ein Problem? Bräuchte man nicht einen balancierteren Blick auf China? Denn China wird ein Faktor im 21. Jahrhundert sein, mit dem wir umgehen müssen. Was nicht heißt, dass man sich ihm ergeben muss, aber wo man zumindest eines tun muss: Gesprächs-, Handels- und sonstige Kontakte aufrechtzuerhalten.
Gerade das würde ich so wenden, dass wir deswegen auch strategische Überlegungen in Bezug auf China brauchen, weil es eben ein zentraler Faktor in den nächsten Jahrzehnten sein wird. Es würde uns nutzen, wenn wir solche Debatten wie über Cosco oder über die Übernahme weiterer Unternehmen in Deutschland stärker in einem strategischen Zusammenhang verorten könnten.
Ich trete nach wie vor dafür ein, dass wir eine China-Strategie brauchen, um gerade solchen Debatten einen Kontext zu geben, klar, zu machen, in welchem Rahmen wir unsere Entscheidungen treffen und was die Kriterien dafür sind.
Der Vorwurf, den Unternehmer der Politik machen, sie würden derzeit zu eindimensional auf China blicken, den kann man auch gegen sie selbst wenden. Ich würde vielen der Unternehmen, die stark im Chinageschäft engagiert sind, unterstellen, dass sie fast ausschließlich nur auf Marktchancen geblickt und zahlreiche Risiken ausgeblendet haben.
Beide Seiten, sowohl die Privatwirtschaft als auch die Bundesregierung, sind gut beraten, einen differenzierten Blick auf China zu werfen.
Ulrich Fichtner hat im Spiegel kürzlich zwei Formen von Außenpolitik definiert, eine werteorientierte und eine interessensorientierte, und dabei folgendes festgestellt: Werte sind nicht verhandelbar, Interessen sind verhandelbar – und sich deswegen auch für eine interessensorientierte Außenpolitik ausgesprochen.
Ist das nicht ein notwendiger Ansatz und ein notwendiger Klärungsprozess? Frau Baerbock redet ja oft von werteorientierter Außenpolitik, jedoch verstoßen wir permanent dagegen. Ein Beispiel: wir wollen Energiepolitik mit Katar machen.
Brauchen wir nicht eine klare Definition von Interessen, die nicht beliebig ist und an Werte rückgekoppelt? Ist das nicht ein richtiger Ansatz einer Handels-, Außen- und Sicherheitspolitik?
Wir brauchen eine klare Definition von Interessen. Ich halte es dennoch für wichtig, dass wir Werte haben, an denen wir uns orientieren. Der Fehler liegt darin, aus bestimmten Werten konkrete Handlungsanweisungen für die Außenpolitik ableiten zu wollen. Und ich mache das weniger an etwaigen abstrakten Definitionen von Werten und einer nicht verhandelbaren Qualität von Werten fest, sondern daran, dass so wie es divergierende Interessen gibt, es auch divergierende Werte gibt. Es gibt Wertekonflikte. Wir haben keine klare Wertehierarchie.
Um das an zwei Beispielen festzumachen: Im Falle der Unterstützung für die Ukraine ließe sich argumentieren, dass der oberste Wert Frieden sei und zu dessen Wahrung die Besetzung der Ukraine durch Russland hinzunehmen sei. Oder ich sage: Nein, der oberste Wert ist Freiheit und Selbstbestimmung. Und deswegen haben die Ukrainer das Recht, sich gegen die Invasoren zu wehren und Anspruch auf unsere Unterstützung.
Ein anderes Beispiel ist die Cop 27. Wir wissen alle, wie schwierig die Rolle Ägyptens in Sachen Menschenrechte ist. Trotzdem wissen wir genau, dass Ägypten für eine Vorreiterrolle auf dem afrikanischen Kontinent bei dem Voranbringen von Klimazielen gebraucht wird.
Also haben wir, politisches Kapital in diese COP 27 in Ägypten investiert, wohl wissend, dass wir damit ein Regime aufwerten, das Menschenrechte verletzt.
Wir haben also keine eindeutige Wertehierarchie sondern widerstreitende Werte und müssen in jedem Einzelfall entscheiden, welchem Wert wir Vorrang geben. Eine abstrakte Werteorientierung kann nicht unmittelbar handlungsanleitend sein.
Ihre Beispiele sind aber ein Beleg dafür, dass Interessen verhandelbar sind, wenn sie an Werte rückgekoppelt sind. Ihre beiden Beispiele stehen genau dafür, dass man dann auch die Interessen betonen muss, etwa die Ägypter zu einem Vorreiter auf dem afrikanischen Kontinent beim Thema Klima zu machen usw.
Um ein anderes Thema aufzumachen: Wir haben auch potentielle Konflikte mit befreundeten Staaten. Der Inflation Reduktion Act etwa ist ein massiver Angriff auf den Standort Europa und den Standort Deutschland. Und durch Local Content Bestimmungen muss man Zweifel daran haben, dass das alles WTO-konform ist. Und auch auf solche Konflikte müssen wir uns ja einstellen und denen auch begegnen. Oder sehen Sie das anders?
Nein. Wir werden, auch mit den Amerikanern und vielen anderen Staaten, die wir als likeminded betrachten, immer wieder Interessenkonflikte haben, die wir in irgendeiner Form austragen müssen.
Noch ein Punkt zum Thema Handelspolitik, der wichtig bleibt. In den letzten Jahren gab es immer wieder größere Debatten in Deutschland und Europa zu handelspolitischen Themen (TTIP, CETA). Nach dem 24.2 scheint jetzt wieder Bewegung in das ganze Thema zu kommen.
Ist dabei nicht die Gefahr, dass wir die Handelspolitik oder die Handelsverträge massiv überfrachten? Sie sollen Menschenrechtsfragen, Arbeitnehmerfragen, Nachhaltigkeitsfragen, Entwicklungsfragen und ähnliches lösen. Ist das nicht ein Ansatz, der zum Scheitern verurteilt sein muss? Braucht man nicht in der Sache vernünftige Regelungen, die aber nicht alle Probleme, die es in Ländern oder zwischen Ländern gibt, lösen können?
Da stimme ich Ihnen absolut zu. Wir haben die Handelspolitik mittlerweile vollgepackt mit Themen, die sich handelspolitisch nicht mehr ableiten lassen. Die Frage ist nur: Können und sollen wir das zurückdrehen? Daran habe ich meine großen Zweifel. Können wir sagen: Wir fokussieren allein auf Handelspolitik und blenden alles das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards aus?
Uns stehen im Prinzip zwei Wege zur Verfügung. Entweder versuchen wir, sektoraler und etwas weniger ambitioniert vorzugehen als bislang. Wir haben ja auch schon einen Schritt in diese Richtung unternommen, indem wir neue Verträge als EU-only verhandeln und damit bestimmte Punkte ausblenden, die dann durch die Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müssten.
Der andere Weg wäre eine noch stärkere Politisierung der Handelsabkommen, die da heißt: wir sollten sie nicht nur unter dem Aspekt von Handelspolitik, Umwelt- und Sozialstandards betrachten, sondern auch dem Rechnung tragen, dass diese Handelsverträge eine eminent strategische Komponente haben. Sie können dazu dienen, Staaten, die uns wichtig sind, verstärkt an uns zu binden und näher an uns heranzuführen.
Ich würde zum zweiten Weg neigen, weil ich nicht sehe, dass das der Erste erfolgversprechend wäre und breit akzeptiert würde.
Wir müssen uns aber auch darauf besinnen, dass Handelsverträgen eben auf Verhandlungen basieren und dass wir in diese nicht reingehen können mit der Erwartung, dass wir 100 % unserer eigenen Position umsetzen. Das ist etwas, was mich spätestens seit der TTIP-Erfahrung sehr beschäftigt. Verhandlungen werden von unterschiedlichen Positionen geführt und man versucht sich auf einen Konsens zu einigen. Die Erwartung, seine eigene Position zu 100 % durchzusetzen ist unrealistisch. So wie ja auch Parteien nicht in Koalitionsverhandlungen eintreten mit der Erwartung, zu 100 % ihr Parteiprogramm umsetzen zu können, sondern genau wissen, dass sie an der einen oder anderen Stelle Positionen aufgeben und sich auf den Verhandlungspartner zubewegen müssen.
Bei der Handelspolitik geht es ja nicht nur um Handel – es geht ja auch um Geopolitik. Dass man internationale Netzwerke und Allianzen aufbaut wird ja seit dem 24.2 noch wichtiger und es wird auch wichtig im Hinblick auf die Frage, dass wir nicht neue Blockbildung erleben. Ist es daher nicht angezeigt, dass Europa und dann auch Deutschland eine offensivere Handelspolitik betreiben und auch versucht, über Handelsverträge solche Allianzen zu schmieden?
Ja, das ist eine absolut prioritäre Aufgabe.
Es wäre ein zentrales Element einer Zeitenwende in der Außenwirtschaftspolitik, Handelsverträge und Handelspolitik auch geopolitisch und strategisch zu verstehen und zu nutzen, um Länder an sich zu binden und gemeinsame Standards zu setzen und dadurch ein Netzwerk an Likemindeds zu bilden.
Der Begriff Geopolitik ist ja in Deutschland entstanden. Warum kann Deutschland und auch die politische Klasse kaum geopolitisch denken oder wenn sie es denken, zumindest nicht sagen? Haben Sie eine Antwort auf die Frage?
Ich glaube das hat zwei Ursachen. Die eine ist historisch. In der Phase, in der wir stark geopolitisch gedacht haben – am Ende des Kaiserreichs und während des Nazi-Regimes -, war das sehr zum Schaden Deutschlands und unserer Nachbarn. Die andere ist eine Frage der Notwendigkeit. Wir haben in den letzten 30 oder 40 Jahren nicht die Notwendigkeit dafür gesehen. Aus deutscher Sicht lebten wir seit 1990 in einer fast perfekten Welt. Wir waren von Freunden umgeben, wir hatten eine Friedensdividende, die wir einsetzen konnten für sozialpolitische Zwecke, wir hatten Zugang zu Märkten, wir konnten globale Wertschöpfungsketten aufbauen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit erhöht haben. Bis vor kurzem schien die Welt wie gemacht für uns.
Und daraus ergab sich für viele nicht die Notwendigkeit, grundsätzlich darüber nachzudenken, wie wir eigentlich mit der Welt um uns herum umgehen und wie wir uns geopolitischen Herausforderungen stellen.
Um das jetzt ins Positive zu wenden: Die Debatten, die wir seit einigen Monaten führen, helfen, wieder ein Verständnis für Geopolitik zu entwickeln und daraus die richtigen Ableitungen zu machen.
Man darf Geopolitik aber auch nicht mit Autoritarismus, Faschismus oder Stalinismus allein in Verbindung bringen. Es gibt ja auch Länder mit demokratischen Traditionen, wie die USA, wie Frankreich oder England, die geopolitisch denken.
Ich habe auch keinerlei Abneigung gegenüber Geopolitik. Ihre Dynamiken zu verstehen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und das Ganze in eine überzeugende eigene Strategie zu betten, ist eine zentrale Aufgabe der deutschen Politik.
Wir bedanken uns herzlich. Alles Gute.